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Euro-Imperialismus

Thomas Wagner seziert Ideologien über die EU

Von Michael Zander *

Die Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union wirkt als segensreiches, völkerverbrüderndes Staatenbündnis, und wer etwas anderes sagt, der ist ein Nationalist und gemeiner Antidemokrat. Der Soziologe und jW-Redakteur Thomas Wagner widerlegt dieses verbreitete Vorurteil in seinem neuen Buch über die »Demokratie im Zangengriff«. Er knöpft sich das europapolitische Spektrum vor, von den Linksliberalen bis zu den Rechtspopulisten, von prominenten Parlamentariern bis zu Intellektuellen, unter ihnen illustre Namen wie Jürgen Habermas, Ulrich Beck oder Oskar Negt. Den meisten mehr oder weniger gemeinsam ist das implizite oder ausdrückliche Ziel, aus Europa ein »Imperium« zu machen. Anhand einschlägiger Statements, Zeitungsartikel und Memoranden arbeitet Wagner sechs Legitimationsstrategien für ein solches Projekt heraus: »die Überwindung des Nationalismus, die Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten, die ökologische Mission, die Simulation von mehr Bürgerbeteiligung, der Vorschlag einer Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten sowie der Schutz von bürgerlichen Freiheitsrechten durch Aufrüstung der EU«. Die Europawahl 2014 wurde als Duell zwischen dem Konservativen Jean-Claude Juncker und dem Sozialdemokraten Martin Schulz im Kampf um die Kommissionspräsidentschaft inszeniert. Eine Direktwahl für diesen Posten, wie sie in der EU debattiert wird, würde »nicht etwa mehr Beteiligung der Bürger an den wichtigen Entscheidungsprozessen« bedeuten, sondern »die Bevollmächtigung eines Superpräsidenten zum Durchregieren im Interesse der ökonomisch Mächtigen«. Wagner zitiert in diesem Zusammenhang den italienischen Philosophen Domenico Losurdo, der ­diese Strategie als »Soft-Bonapartismus« bezeichnet hat: Wenn »der Führer einmal gewählt ist, verfügt er über ausgedehnte Machtbefugnisse und kann – Parlament, Parteien und Gewerkschaften aus dem Feld schlagend – seine Handlungen mit dem direkten Appell an das Volk rechtfertigen«. In eine ähnliche Richtung zielen, wie Wagner analysiert, Versprechen auf Bürgerbeteiligung. Volksentscheide dienen einerseits der demokratischen Legitimation, andererseits können sie die EU-Politik faktisch nicht nennenswert beeinflussen. Gleichzeitig kommen Forderungen, ein Zensuswahlrecht einzuführen und Stimmen nach dem Einkommen zu gewichten, nicht nur von rechts außen, sondern auch aus der »Mitte«. Exkanzler Gerhard Schröder distanziert sich zwar von der Idee, von oben eingesetzte »Expertengremien« mit Entscheidungsbefugnissen auszustatten, gleichzeitig lobt er aber »unkonventionelle Vorschläge« zur »Zukunft eines Regierens im 21. Jahrhundert, frei und ohne Scheuklappen«.

Außenpolitisch treten der Grüne Daniel Cohn-Bendit und der Liberale Guy Verhofstadt offen für ein EU-Imperium ein. In einem gemeinsamen Manifest schreiben die Mitglieder der sogenannten Spinelli-Gruppe im Europaparlament: »Von nun an organisiert sich die Welt um Pole herum, die man als Imperien bezeichnen kann (…). Die Vereinigten Staaten, China oder auch Indien sind Imperien, keine Nationalstaaten.« Ein politisch vereinigtes Europa wäre »der mächtigste und wohlhabendste Kontinent der Welt, reicher als Amerika, mächtiger als alle Imperien zusammen. (…) Nur eine europäische Armee (…) kann (…) unsere Unabhängigkeit verteidigen« und »überall in der Welt zum Einsatz kommen«. Rechte EU-Kritiker wie die Alternative für Deutschland (AfD) sind natürlich keine Alternative. Dies gilt Wagner zufolge nicht nur deshalb, weil sie innen- und außenpolitisch eigene imperiale Träume verfolgen, sondern auch, weil sie ökonomisch lediglich das mittlere, auf den Inlandsmarkt konzentrierte gegenüber dem deutschen Monopolkapital vertreten.

Wagner gelingt es insgesamt, eine äußerst informative Landkarte der buntscheckigen deutschen EU-Ideologie zu zeichnen. Diese Stärke des Buchs ist aber zugleich eine Schwäche. Der Autor beschränkt sich weitgehend auf die Debatten innerhalb der sogenannten Eliten. Die Analyse wird allerdings kaum mit der politischen Praxis und den Institutionen der EU vermittelt. Dies erschwert wiederum die Einschätzung, inwieweit man es mit kurzlebigen Stellungnahmen ehrgeiziger und medienverliebter Politiker und Intellektueller zu tun hat oder mit substantiellen Beiträgen zu einem Meinungsbildungsprozeß, der den EU-Kurs wirklich mitbestimmen wird. Insofern eignet sich das Buch gut als Einstieg ins Thema und als Ergänzung zu ähnlicher Literatur. Auf jeden Fall zeigt Wagner überzeugend, daß Forderungen nach einem »sozialen Europa«, wie sie aus der Linkspartei zu vernehmen sind, leeres und gefährliches Gerede bleiben, soweit damit Illusionen über die tatsächlichen Diskussionen und Machtverhältnisse in der EU genährt werden.

Thomas Wagner: Demokratie im Zangengriff. Welche Zukunft hat die Europäische Union? Papyrossa, Köln, 2014. 118 Seiten, 11,90 Euro

* Aus: junge Welt, Montag 11. August 2014


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