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Europäischer Autoritarismus

Vorabdruck: Auf die Euro-Krise folgt der Demokratieabbau

Von Andreas Wehr *


Im Oktober 2010 erschien im Kölner PapyRossa Verlag Andreas Wehrs »Griechenland, die Krise und der Euro«. Der Autor skizzierte die wesentlichen Züge des damaligen Krisenverlaufs und arbeitete die politischen Konsequenzen der ökonomischen und finanzpolitischen Verwerfungen im Euro-Raum heraus. Nun, ein Jahr später, liegt eine aktualisierte und erweiterte zweite Auflage des Buches vor. jW veröffentlicht eine gekürzte Fassung des Schlußkapitels vorab - wir dokumentieren diesen Vorarbdruck im Folgenden.

Die Europäische Union ist kein Staat. Sie verfügt wohl über eine gemeinsame Währung, aber sie hat nur sehr eingeschränkte Kompetenzen in der Wirtschafts-, Haushalts-, Sozial- und Steuerpolitik. Selbst die Finanzpolitik wurde in nationaler Verantwortung der Mitgliedsstaaten belassen. (…) Zur Überwindung der gegenwärtigen Krise sollen diese Rechte geschwächt bzw. beseitigt werden. Zahlungen an Defizitländer soll es nur noch dann geben, wenn die Empfänger im Gegenzug Souveränitätsrechte dafür aufgeben: »Alle Wege zur Lösung der Euro-Krise führen zur Schatzkammer der deutschen Steuerzahler: Die Bundesregierung muß den Zutritt verweigern – oder die Euro-Staaten zu weitreichenden Souveränitätsverzichten zwingen.«[1]

Mit den Griechenland, Irland und Portugal von der Troika auferlegten Programmen ist man auf diesem Weg bereits vorangekommen. Diese Länder wurden auf den Status von Protektoraten reduziert. Doch in Berlin will man weit mehr. Bei Abweichungen vom vorgegebenen Kurs soll auch das Stimmrecht der Defizitstaaten zur Disposition stehen. In einem Interview (Financial Times Deutschland vom 27.7.2011) erklärte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble: »Richtig ist, daß wir uns mit der Forderung, daß Staaten, die ihre Verpflichtung nicht erfüllen, ihr Stimmrecht verlieren, nicht durchsetzen konnten. Noch nicht. Aber warten Sie es doch ab.«

Brüssel will Unterwerfung

Natürlich weiß auch Schäuble, daß die europäischen Verträge keine Handhabe für solche Strafmaßnahmen bieten. Doch um sie möglich zu machen, wird von der Bundesregierung immer häufiger die Notwendigkeit ihrer grundlegenden Änderung ins Spiel gebracht. Dabei könnte auch der Vorschlag von EZB-Präsident Jean-Claude Trichet Berücksichtigung finden, ein europäisches Finanzministerium mit weitreichenden Kompetenzen einzurichten. »Dies solle für die Aufsicht über Haushalt und Wettbewerbsfähigkeit sowie den ›Durchgriff auf die Wirtschaftspolitik‹ hochverschuldeter EU-Staaten zuständig sein.«[2] Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat sich bereits dafür ausgesprochen: »Die grundlegende Alternative zu einer Stärkung des bestehenden Rahmenwerks besteht im Sprung in eine Fiskalunion mit einer teilweisen Übertragung von finanzpolitischen Kompetenzen auf die europäische Ebene.«[3] Kein Problem mit dem Abbau an Demokratie hat auch SPD-Chef Sigmar Gabriel. Er fordert in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (16.8.2011), daß »die Staaten, die von einem Euro-Bond profitieren wollen, natürlich auch einen Teil ihrer Souveränität für ihre Haushaltspolitik abgeben«.

Aus der Euro-Krise wird so eine Krise der Demokratie. Hans-Jürgen Urban, Mitglied im geschäftsführenden Vorstand der IG Metall, sieht Europa zu Recht auf dem Weg in den Autoritarismus: »Vieles spricht dafür, daß sich Europa gegenwärtig nicht in einer Existenz-, wohl aber in einer Transformationskrise befindet. (…) Derzeit scheint die europäische Elite bereit, Finanzstabilität gegen Demokratie zu tauschen.«[4] Und: »Wenn Wahlen keine wirklichen Wahlmöglichkeiten mehr bieten, weil die Regierungen, unabhängig von ihren ideologischen Orientierungen, sich den Vorgaben aus Brüssel unterwerfen müssen, verliert das Wechselspiel von Opposition und Regierung seinen Sinn.« Urban unterschätzt aber zugleich die Bedeutung der Rolle von Hegemo­nialmächten, wenn er sagt: »Dennoch, trotz augenfälliger Gemeinsamkeiten verengt die schlichte These von der Hegemonialmacht Deutschland den Blick auf das gegenwärtige Europa. Die Etablierung des neuen Wettbewerbs- und Wachstumsmodells folgt zugleich– und das dürfte nicht weniger bedeutsam sein – den Interessen der wichtigsten Akteure auf den transnationalen Finanzmärkten.«

Ohne Frage nutzt das »neue Wettbewerbs- und Wachstumsmodell« den »transnationalen Finanzmärkten«, genauer: dem Finanzkapital. Doch sie können es nicht im Alleingang durchsetzen. Dazu benötigen sie die Staatsapparate der Hegemonialmächte. Nur diese sind in der Lage, die unbotmäßigen Regierungen der Defizitstaaten zusammenzustauchen und auf Kurs zu bringen. Und die Europäische Kommission wäre ohne die hinter ihr stehende staatliche Macht Berlins und Paris’, vielleicht noch Londons und Roms nicht mehr als eine bloße Bürokratie.

Druck aus Berlin

Besondere Erwartungen richtet das Finanzkapital dabei an Deutschland, an die mit Abstand stärkste Wirtschaftsmacht der EU. Deshalb sucht ja ein Josef Ackermann beständig die Nähe zu Angela Merkel, und deshalb fordert ein George Soros die Bundesregierung auf, endlich die Führung in Europa zu übernehmen. Und tatsächlich geht von Berlin schon jetzt der stärkste Anpassungsdruck auf die Defizitländer und die ganze Euro-Zone aus. Hier wurde der Euro-Plus-Pakt als Kopie der deutschen Agenda 2010 entworfen. Von Berlin wird immer wieder der Ausschluß eines Mitgliedslands bzw. der Entzug seines Stimmrechts in den Gremien der EU ins Spiel gebracht. Die Europäische Union entwickelt sich immer mehr zu einer Hegemonialordnung mit Deutschland als Anführer einer Kohorte kerneuropäischer Länder und einer Peripherie schwacher und abhängiger Staaten.

Die Übernahme der Rolle des Hegemons in der EU führt zu Konflikten im eigenen Land. Im Streit über eine Transferunion und über die Notwendigkeit einer Umschuldung Griechenlands wird dies sichtbar. Die Mehrheit der Bevölkerung und selbst Teile der herrschenden Klasse lehnen die Politik des Erhalts der Euro-Zone um nahezu jeden Preis ab. Davon zeugte die Kritik an einer Anzeigenkampagne deutscher und französischer Großkonzerne in Zeitungen beider Länder. Unter der Überschrift »Der Euro ist notwendig« wurde dort u.a. gefordert: »Kurzfristig muß den von der Verschuldungskrise betroffenen Ländern finanziell geholfen werden, damit sie ihre finanzielle Unabhängigkeit zurückgewinnen und sich für die Bevölkerung dort eine bessere Zukunftsperspektive einstellt.«[5] Diese Indienstnahme der Politik für die Zwecke des Finanzkapitals wurde umgehend von Vertretern inhabergeführter Betriebe kritisiert: »Wir Familienunternehmer wehren uns dagegen, daß französische und einige deutsche Konzerne das Geld von uns Steuerzahlern ausgeben wollen.«[6] Damit war dokumentiert, in wessen Interesse der Erhalt des Euro vor allem liegt. Es sind die multinationalen Konzerne, die mittels der gemeinsamen Währung vor Kursschwankungen im innereuropäischen Handel geschützt werden. Den Euro und den Binnenmarkt der EU mit 500 Millionen Menschen benötigen sie als Basis, um von dort aus den Kampf um die Weltmärkte erfolgreich führen zu können. (…)

Wachsende Euro-Skepsis

Noch ist nicht ausgemacht, ob es auch in Deutschland auf der Rechten eine euroskeptische Kraft geben wird wie die »Wahren Finnen« in Finnland, die FPÖ in Österreich, die Front National in Frankreich, Vlaams Belang in Belgien oder die niederländische Partij voor de Vrijheid. Überall dort findet sich eine krude Mischung aus völkerpsychologischen Vorurteilen, kleinbürgerlicher Kritik an »raffgierigen« Banken, einer Absage an den Sozialstaat sowie aus einem naiven liberalen Glauben an eine Ordnung der Wirtschaft ohne Finanzkapitalismus. Eingewoben in diese Ideologien ist aber zugleich eine Ahnung davon, daß es sich bei der EU um eine Enteignungsökonomie handelt, bei der fortlaufend Ressourcen von den Arbeitenden, vom Mittelstand und von peripheren Ökonomien an das Finanzkapital transferiert werden.

Der wachsenden Euro-Skepsis steht eine imperialistische Strategie des Großkapitals gegenüber, die auf den Erhalt der Euro-Zone in ihrer gegenwärtigen Gestalt pocht und unverrückbar an der Vertiefung der europäischen Integration festhält. Je mehr die EU in die Krise gerät, um so nachdrücklicher wird sie dort zu einem Garanten europäischer Selbstbehauptung verklärt. Es wird vor dem Weg in die Bedeutungslosigkeit gewarnt: »Zwei Richtungen sind möglich: Sie können Europa einiger machen – oder aber die Zusammenarbeit auf eine Freihandelszone beschränken. Letzteres würde alle EU-Länder von der Weltbühne in das bedeutungslose Parkett verbannen; es wäre das Ende des großen europäischen Projekts (…).«[7] Diese Angst schürt auch der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt: »Kein europäisches Land besitzt allein ausreichend Kraft und Potential, um im Wettbewerb mit den starken und aufsteigenden Weltregionen zu bestehen. Europa wird zwischen Amerika, China und Rußland nur gemeinsam stattfinden, oder es wird im globalen Geschehen keine Rolle spielen.«[8]

In der Europadiskussion ist das alles nicht neu. Mit Ängsten vor einem Zerriebenwerden argumentierte bereits in den 20er Jahren die Paneuropäische Bewegung, auf deren Ideen sich die heutigen EU-Ideologen gerne berufen. Wie heute dienten sie schon damals dazu, den Anspruch auf die Weltherrschaft Europas zu legitimieren. Doch auch Lenin zitierte in seiner Imperialismusschrift von 1916 Warnungen vor einem baldigen Niedergang des alten Kontinents.

Schreckgespenst China

Angesichts einer sich ausbreitenden euroskeptischen Stimmung gehen die Befürworter des Euros und der EU zur Gegenoffensive über: »Die Anhänger einer weiteren europäischen Integration beginnen zu mobilisieren, um aus einem Streit über währungspolitische Instrumente eine ›Wo wollen wir hin?‹-Debatte zu führen. Schon warnen sie, mit populistischen Attacken gegen Griechenland seien weder Wahlkämpfe zu gewinnen noch Staat zu machen.«[9] Hierzu paßt, daß mit Ursula von der Leyen eine Vertreterin der Großbourgeoisie ausgerechnet jetzt eine schnellere Integration verlangt. »Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen fordert als Konsequenz aus der Euro-Schuldenkrise den Ausbau der politischen Union in Europa. ›Mein Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa– nach dem Muster der föderalen Staaten der Schweiz, Deutschland oder den USA‹. (…) Um im globalen Wettbewerb zu bestehen, reiche eine gemeinsame Währung nicht aus. Notwendig sei eine politische Union.«[10]

SPD und Grüne schließen sich dieser Position vorbehaltlos an. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel fordert, daß »die Eliten ihre Verantwortung wahrnehmen und entschiedener als bisher für Europa als Hoffnungsprojekt werben.« Die Sicht Dieter Hundts und Ursula von der Leyens wird vom ihm ausdrücklich geteilt: »In 30 oder 40 Jahren werden weder Deutschland noch Frankreich allein eine nennenswerte politische oder wirtschaftliche Rolle spielen können – im Vergleich zu den großen politischen und ökonomischen Regionen der Welt wie USA, China oder Indien. Nur Europa als Ganzes hat eine Chance im globalen Wettbewerb von Ideen und Werten, von Politik und Wirtschaft.« Dafür ist der sozialdemokratische Parteivorsitzende bereit, grundlegende demokratische Rechte aufzugeben: »Eine vertiefte europäische Union ist ohne den Verzicht auf Teile der nationalen Souveränität nicht zu haben.«[11] Und von den Grünen wird sogar erwartet, daß sie zu der Europapartei schlechthin werden, sollten FDP oder CDU/CSU als kritiklose EU-Befürworter ausfallen. Es könnten »Jürgen Trittin und mit ihm die Grünen« bereitstehen, »diese Lücke zu schließen«.[12]

Doch für die Annahme einer drohenden Bedeutungslosigkeit der EU-Länder gibt es keinen Beleg. China erbringt gegenwärtig nicht einmal zehn Prozent der Weltwirtschaftsleistung, die USA und die EU zusammen hingegen 60 Prozent. Rechnet man noch Japan hinzu, so ist die Überlegenheit der kapitalistischen Triade erdrückend. Die Entwicklung Chinas und anderer Schwellenländer beruht überdies zu einem erheblichen Teil auf Investitionen von Konzernen der kapitalistischen Zentren, so daß das Wachstum dort zugleich auch das Vermögen dieser Unternehmen hier mehrt. Horrorszenarien über einen drohenden Abstieg Europas gehören im übrigen zum gängigen ideologischen Bestand des europäischen Finanzkapitals, um die Mobilisierung aller Reserven für seine Herrschaftspläne zu erreichen. In den 60er Jahren waren es zunächst die USA, von denen behauptet wurde, daß sie Europa abhängen würden. In den 80er Jahren war es dann Japan, dem die Rolle des übermächtigen Konkurrenten zuteil wurde.[13] Heute sind es nun China und sogar das bitterarme Indien, die als Schreckgespenster herhalten müssen.

Rechtspopulismus bekämpfen

Eine fortschrittliche Antwort auf die Krise hat sich von den zuvor genannten Positionen abzugrenzen: Es ist allen Ideologien entgegenzutreten, die im Namen der Stärke und Weltgeltung Europas die über Jahrzehnte in den europäischen Ländern so mühsam errungenen demokratischen Rechte zerschlagen wollen. Die in Deutschland herrschende Europaideologie, die von der SPD und vor allem von den Grünen mit verfochten wird, ist die des deutschen Finanzkapitals. In imperialistischer Manier sollen alle verfügbaren Ressourcen des Kontinents mobilisiert werden, damit das deutsche Kapital im weltweiten imperialistischen Kampf um Märkte und Einflußzonen weiterhin erfolgreich sein kann.

Die aufkommende rechtspopulistische Europakritik ist entschieden zu bekämpfen, denn sie lenkt mit ihrer kleinbürgerlichen Propaganda gegen den »verschwenderischen Süden« von den Ursachen der Krise ab, bringt damit die Völker gegeneinander auf und erzeugt Spannungen unter ihnen. So wird Solidarität zwischen den hier wie dort Kämpfenden verhindert und die Entstehung antikapitalistischen Bewußtseins blockiert. Die rechtspopulistische Europakritik kritisiert zwar die Schaffung einer Transferunion, sagt aber nicht, daß diese dem Finanzkapital nützt. Die Rechtspopulisten schweigen auch über die Gründe für die ungleiche Entwicklung in der Union, indem sie nicht die in der EU wirkende ungehemmte kapitalistische Konkurrenz als deren Ursache benennen. Es sind aber die Monopole Kerneuropas, die ihre Interessen auf Kosten ihrer Konkurrenten in der Peripherie durchsetzen.

Die unter dem Druck Kerneuropas stehenden Peripherieländer sind bei der Verteidigung ihrer Souveränitätsrechte zu unterstützen. Wobei gilt: »Das bürgerlich-demokratische Recht auf nationale Souveränität wird heute nicht von den Bourgeoisien, sondern von den Lohnabhängigen verteidigt. Die Bourgeoisien der abhängigen Länder in Europa sind bestrebt, sich ihr Plätzchen in der imperialistischen Hierarchie zu sichern.«[14] Wer diesen Abwehrkampf der Peripherieländer als bornierten Rückzug auf den Standpunkt des Nationalismus diffamiert, ignoriert zugleich, daß es, wie vor allem Lenin herausgearbeitet hat, zwei klar voneinander zu unterscheidende Nationalismen gibt: Einen aggressiven imperialistischen, der auf Unterdrückung anderer Staaten aus ist, und einen defensiven der schwachen Länder, die mit seiner Hilfe ihre Souveränität verteidigen und um Selbstbestimmung kämpfen. Gerade die fortschrittlichen Kräfte hierzulande müssen sich heute mit den angegriffenen Peripherieländern solidarisch zeigen, ist es doch erneut Deutschland, das versucht, eine Hegemonialstellung in Europa zu erringen.

Ohne parlamentarische Kontrolle Die den Peripherieländern aufgezwungenen Bedingungen erhöhen aber auch den Druck auf die Arbeits- und Lebensbedingungen in den kern­europäischen Staaten. Der Euro-Plus-Pakt und eine europäische Wirtschaftsregierung engen den tarifpolitischen Handlungsraum der Gewerkschaften überall ein. Eine aktive Lohnpolitik ist aber gerade jetzt in Deutschland notwendig. Höhere Löhne und Gehälter sowie mehr Ausgaben für soziale und Infrastrukturleistungen wären ein Beitrag zur Reduzierung des weiterhin hohen Leistungsüberschusses Deutschlands gegenüber den anderen EU-Ländern, denn es ist nicht so, daß die Peripherieländer »über ihre Verhältnisse gelebt« haben, tatsächlich leben die deutschen Lohnabhängigen, Rentner und Sozialleistungsempfänger seit Jahren unter ihren Verhältnissen.

Eine europäische Wirtschaftsregierung, die die nationalen Parlamente entmachtet, reduziert den demokratischen Handlungsspielraum in allen EU-Ländern, auch in denen Kerneuropas. Die Transferunion zugunsten des Finanzkapitals wird der parlamentarischen Kontrolle entzogen. So wird dem Deutschen Bundestag das Recht abgesprochen, abschließend und im Detail über den Beitrag des Landes zu den Rettungsschirmen zu entscheiden. Wichtige Einzelentscheidungen über die Kreditmittelvergabe fallen zukünftig in einem geheim tagenden Parlamentssonderausschuß. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung vom 7. September 2011 über die Griechenland-Hilfe einer solchen Entmachtung des Parlaments keinen Riegel vorgeschoben. Die Verteidigung der Demokratie ist daher die wichtigste Gegenwartsaufgabe in der ganzen Union.

Mit dem Finanzkapital ist der für die Euro-Krise verantwortliche und entscheidende Akteur zu benennen. Ohne einen erfolgreichen Kampf gegen das Finanzkapital wird es keine Änderungen hin zum Besseren geben. Das verlangt, Banken und Versicherungen zu einem Schuldenschnitt zu zwingen.

Anmerkungen
  1. »Scheitert Europa?«, in: Handelsblatt vom 19./20.8. 2011
  2. »Trichet schlägt europäisches Finanzministerium vor«, in: FAZ vom 3.6.2011
  3. »Bundesbankpräsident sucht Partner im EZB-Rat«, in: FAZ vom 21.9.2011
  4. Hans-Jürgen Urban: »Stabilitätsgewinn durch Demokratieverzicht? Europas Weg in den Autoritarismus«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2011, S. 78
  5. »Der Euro ist notwendig«, Anzeige in der FAZ vom 21.6.2011. Als Initiator wird ein deutsch-französisches Unternehmertreffen in Evian angegeben. Als deutsche Moderaten wurden genannt: Gerhard Cromme (ThyssenKrupp AG), Michael Diekmann (Allianz SE) und Tilman Todenhöfer (Robert Bosch Industriehand KG)
  6. »Griechenlandhilfe spaltet die Wirtschaft«, FAZ vom 21.6.2011
  7. »Viel mehr Europa, bitte!«, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.6.2011
  8. Dieter Hundt: »Ein Fünf-Punkte-Plan für Maastricht II«, in: FAZ vom 29.8.2011
  9. »Die Kanzlerin und der Sündenbock«, in: FAZ vom 15.9.2011
  10. »Von der Leyen will eine EU nach Schweizer Vorbild«, in: Basler Zeitung vom 27.8.2011
  11. Sigmar Gabriel: »Europa braucht tiefere Integration«, in: Die Zeit vom 15.9.2011
  12. »Die Kanzlerin und der Sündenbock«, a. a. O.
  13. Ein klassischer Vertreter dieses europäischen Alarmismus war der französische Journalist, Verleger und Politiker Jean-Jacques Servan-Schreiber. 1968 veröffentlichte er das Buch »Die amerikanische Herausforderung«. Allein 600000 Exemplare wurden davon in Frankreich verkauft. Es wurde in 15 Sprachen übersetzt. 1980 beschrieb er dann in »Die totale Herausforderung« den wirtschaftlichen Aufstieg Japans. Abermals wurde darin die Gefahr des Zurückbleibens der europäischen Staaten beschworen.
  14. Beate Landefeld: »Die EU-Krise schwelt weiter«, in: Marxistische Blätter, Heft 4–11, S. 9
* Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der linken Fraktion (GUE/NGL) im Europaparlament. Mehr unter: www.andreas-wehr.eu

Andreas Wehr: »Griechenland, die Krise und der Euro«, PapyRossa Verlag, Köln 2011, 213 Seiten, 13,90 Euro

Aus: junge Welt, 17. Oktober 2011


Andreas Wehr referiert bei Friedenspolitischen Ratschlag 2011 in Kassel.

UMBRUCH: Die Politik in die eigenen Hände nehmen

  • Kriege beenden
  • Waffenexporte stoppen
  • Demokratie und soziale Gerechtigkeit durchsetzen
18. Friedenspolitischer Ratschlag

26./27. November 2011

an der Universität Kassel
Beginn: Samstag, 26. Nov., 12 Uhr Ende: Sonntag, 27. Nov. 14 Uhr




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