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EU auf Kurs gebracht

Ökonomie. "Economic Governance" in der Euro-Zone: Eine Wirtschaftsregierung des Finanzkapitals

Von Andreas Wehr *

Die Antworten der Herrschenden auf die Euro-Krise lassen ihren inneren Zusammenhang nur schwer erkennen. Am Anfang stand das »Rettungspaket für Griechenland«, kurz danach wurde ein »Rettungsschirm« für die gesamte Euro-Zone aufgespannt und schließlich ein Euro-Plus-Pakt zur »Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit« verabschiedet. Nun steht ein Beschluß über das umfangreiche Gesetzes­paket zur europäischen Wirtschaftsregierung, zu Economic Governance, an. Wo ist da der rote Faden? Um ihn zu finden, sollen hier die jeweils hinter den Entscheidungen stehenden Motive untersucht werden.

Ende April vergangenen Jahres zeigte die griechische Regierung an, daß sie an den internationalen Finanzmärkten keine Kredite zu tragbaren Renditen mehr aufnehmen könne. Die Euro-Länder und der Internationale Währungsfonds (IWF) beschlossen daraufhin am 3. Mai 2010, das Land bis 2013 mit Krediten in Höhe von insgesamt 110 Milliarden Euro zu unterstützen.[1] Wenige Tage später, am 10. Mai, richteten die Länder einen »Rettungsschirm« in Höhe von 750 Milliarden Euro für die ganze Euro-Zone ein. Er ist auf einen Zeitraum bis 2013 befristet. Signalisiert wurde damit, daß auch jedes andere in Schwierigkeiten kommende Land zukünftig mittels eines Bail-out herausgehauen werde. Das Finanzkapital verstand diese Garantieerklärung als Einladung, weiteren Defizitländern immer höhere Renditen abzuverlangen, sichert ihnen doch der Rettungsschirm, daß sie ihre Kredite plus Wucherzinsen zurückerhalten werden. So kam, was nach den offiziellen Erklärungen der europäischen Staats- und Regierungschefs niemals hätte passieren dürfen: Weitere Länder gerieten in Schieflage und mußten Hilfe in Anspruch nehmen. Im Herbst 2010 war es Irland und im Mai 2011 Portugal. Irland erhielt 85 und Portugal 78 Milliarden Euro aus den Mitteln des Rettungsschirms. Auch nach 2013 sollen solche Kredithilfen gezahlt werden. Der Europäische Rat beschloß deshalb auf einem EU-Gipfel am 24./25.3.2010 die Einrichtung eines dauerhaften Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM). Um ihn möglich zu machen, wird der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union geändert.

EU-Protektorate geschaffen

Die Kosten dieser Politik sollen die Bevölkerungen der verschuldeten Peripherieländer tragen. Die Zerstörung der produktiven Basis dort nimmt man bewußt in Kauf. Die Hilfen, die tatsächlich Garantieerklärungen für die Banken und die übrige Finanzindustrie wie Versicherungen und Pensionsfonds sind, werden deshalb unter harten Auflagen vergeben. In Memoranden mit der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem IWF mußten sich Griechenland, Irland und Portugal zu einer strengen Austeritäts-, d.h. Kürzungspolitik verpflichten. Auferlegt wurden ihnen u.a. Erhöhungen der indirekten Steuern, Einschränkungen bei Sozial- und Gesundheitsausgaben, Kürzungen der Löhne im öffentlichen Sektor, Erhöhung des Renteneintrittsalters bei gleichzeitiger Kürzung der Renten, weitreichende Privatisierungen und Deregulierungen ganzer gesellschaftlicher Bereiche. Von der irischen Regierung wurde sogar verlangt, den gesetzlich garantierten Mindestlohn abzusenken. Die verordneten Maßnahmen gleichen denen des IWF, die er in seinen »Sanierungsprogrammen« zunächst in Lateinamerika und in Südostasien und seit 2008 auch in Osteuropa, hier in Lettland, Rumänien und Ungarn, verfolgt. Die Euro-Länder Griechenland, Irland und Portugal wurden so zu europäischen Protektoraten.[2]

Die Memoranden mit diesen drei Ländern wurden zum Vorbild für den Euro-Plus-Pakt, mit dem die Austeritätspolitik auf alle Euro-Länder und darüber hinaus auf Bulgarien, Dänemark, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien, die dem Pakt als Nicht-Euro-Länder freiwillig beitraten, ausgedehnt wird. Seine Inhalte wurden von der deutschen Bundesregierung vorgegeben. Der Entwurf wurde in Berlin geschrieben. Und so ähnelt der Pakt auch sehr der deutschen Agenda 2010. Die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit soll vor allem durch eine Absenkung der Lohnstückkosten erreicht werden. Dem dient die »Überprüfung der Lohnfindungsregelungen, namentlich des Grads der Zentralisierung im Verhandlungsprozeß, und erforderlichenfalls des Indexierungsverfahrens«, d.h. der Verknüpfung von Lohnanhebungen mit der Inflationsrate. Verlangt wird die »Sicherstellung, daß die Lohnabschlüsse im öffentlichen Sektor den auf eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gerichteten Anstrengungen im Privatsektor förderlich sind (...)«. Angemahnt wird die »weitere Öffnung von geschützten Sektoren« und die Beseitigung »ungerechtfertigter Beschränkungen bei den freien Berufen und im Einzelhandelsgewerbe«. Der Pakt schreibt »Arbeitsmarktreformen zur Förderung der ›Flexicurity‹« und die »Angleichung der Rentenleistungen an die nationale demographische Situation, beispielsweise durch Angleichung des tatsächlichen Rentenalters an die Lebenserwartung«, sowie eine »Begrenzung der Vorruhestandsregelungen und Nutzung gezielter Anreize für die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer« vor. Auch die »Schuldenbremse«, ebenfalls ein deutsches Politikexportprodukt, wird zur Herstellung von »Haushaltsdisziplin auf nationaler und subnationaler Ebene« den anderen Euro-Ländern nahegelegt.[3]

Härtere Gangart

Doch zum Ärger der deutschen Bundesregierung enthält der Euro-Plus-Pakt keine Sanktionsmöglichkeiten. Dies hatte die französische Regierung abgelehnt. Somit liegt zwar das Programm für eine forcierte Austeritätspolitik vor, nicht geregelt ist aber, wie es zur verbindlichen Politik der gesamten Euro-Zone werden kann. Im Unterschied zu Griechenland, Irland und Portugal, denen man aufgrund ihrer Hilflosigkeit die Bedingungen diktieren kann, handelt es sich bei den übrigen Ländern ja immer noch um weitgehend souveräne Staaten mit jeweils eigenen demokratischen Entscheidungsstrukturen, etwa über ihre Haushaltspolitik. Es fehlt also der Hebel zur Umsetzung der Austeritätspolitik, der Hebel zum Aufbrechen dieser Länder. Den soll nun das Gesetzespaket zur europäischen Wirtschaftsregierung liefern.

Unter der Überschrift »Economic Governance« legte die Europäische Kommission im September 2010 ein Legislativpaket vor, bestehend aus fünf Verordnungsvorschlägen und einem Richtlinienvorschlag zur wirtschafts- und verstärkten fiskalpolitischen Überwachung sowie zu den nationalen Budgetrahmen.[4] Vorgeschlagen wird ein Rahmenwerk für die nationalen Haushalts- und Finanzpolitiken mit Mindeststandards für die statistische Berichterstattung und mit der Verpflichtung zur mehrjährigen Haushaltsplanung. Verlangt wird zudem die Einführung eines Sanktionsmechanismus für Mitgliedstaaten des Euro-Raums im Rahmen des präventiven Teils des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP). Die Kommission plädiert außerdem für eine beschleunigte Anwendung der Sanktionsmechanismen im korrektiven Teil des Stabilitäts- und Wachstumspaktes unverzüglich nach Einleitung des Defizitverfahrens. Vorschläge macht die Kommission auch in bezug auf die Überwachung makroökonomischer Ungleichgewichte. Absicht ist es dabei, die Mitgliedstaaten mit einem hohen Schuldenstand stärker in die Pflicht zu nehmen, ihre Schulden schneller zu reduzieren. Schließlich spricht man sich für ein Verfahren zur Korrektur übermäßiger gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte aus.

Die Kommission geht von der Vorstellung aus, daß die Euro-Krise gar nicht erst hätte entstehen können, hätten sich die Mitgliedstaaten nur alle strikt an die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts gehalten. Dieser Glaube kommt in der Begründung der Vorlagen zum Ausdruck. Danach haben für die Kommission »die jüngsten Erfahrungen auch gezeigt, daß die derzeitigen Koordinierungs- und Überwachungsverfahren nach wie vor Lücken und Schwachstellen aufweisen. So herrscht weite Übereinstimmung darüber, daß der Rahmen für die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) dringend verstärkt werden muß, um auf Dauer für makroökonomische Stabilität und tragfähige öffentliche Finanzen zu sorgen, die die Voraussetzungen für ein dauerhaftes Produktions- und Beschäftigungswachstum sind.«[5]

»Naming and Shaming«

Die Kommissionsvorschläge zielen daher in erster Linie auf eine Verschärfung der Regelungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Die Einhaltung der Maastricht-Kriterien von maximal drei Prozent Neuverschuldung im Jahr und eine Schuldenquote von höchstens 60 Prozent soll zukünftig durch frühe Warnungen und drastische Strafzahlungen erzwungen werden. Doch der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat schon bislang nicht funktioniert, und er wird auch in Zukunft nicht funktionieren. In der Vergangenheit wurden nach ihm nicht weniger als 27 Verfahren gegen säumige Mitgliedstaaten eingeleitet. Kein einziges hat zu Strafzahlungen geführt. Dies ist auch nicht verwunderlich, soll doch nach der absurden Logik des Pakts ausgerechnet dann ein Land eine Strafe an die EU zahlen, wenn es bereits hoch verschuldet ist. Das wäre geradezu so, als würde man zur Heilung eines an Blutarmut Leidenden empfehlen, ihm Blut abzuzapfen. Die vorgeschriebene Schuldenquote von 60 Prozent wurde bereits bei Beginn der WWU nicht ernst genommen. Mehreren Ländern wurde der Beitritt zu ihr ermöglicht, obwohl ihre Gesamtverschuldung zu diesem Zeitpunkt bereits weit darüber lag. Heute hat die Schuldenquote einer ganzen Reihe von Euro-Mitgliedern sogar die 100-Prozent-Marke deutlich überschritten. Und was das zweite Kriterium, die maximal dreiprozentige Neuverschuldung, angeht, so verstießen in der letzten Krise nahezu alle Euro-Länder dagegen. Ihnen blieb auch gar nichts anderes übrig. Angesichts rückläufiger Steuereinnahmen, teurer Konjunkturprogramme und kostspieliger Bankenrettungspakete stiegen die Defizite überall deutlich an. Spitzenreiter war Irland mit einer Neuverschuldung von gut 34 Prozent im Jahr 2010. Die Europäische Kommission war gezwungen, wegzusehen und die Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in den Krisenjahren faktisch auszusetzen. Wenn auch die Defizitverfahren bisher nicht zu Strafzahlungen führten, so haben sie dennoch aus Sicht der Kommission einen Zweck erfüllt. Das betreffende Land wurde im Sinne von »naming and shaming« jedes Mal in der EU einem Gruppendruck ausgesetzt, der innenpolitisch zu Kurskorrekturen in der Haushaltspolitik führte.

In diesem Sinn soll jetzt auch der präventive Teil des Pakts verschärft werden. In der Begründung der Kommission heißt es: »Die verschiedenen Bereiche der wirtschaftspolitischen Koordinierung, einschließlich der Überwachung der Strukturreformen, sollen in einem neuen Überwachungszyklus, das sogenannte Europäische Semester, eingebunden werden, der die im Rahmen des SWP und der Grundzüge der Wirtschaftspolitik bestehenden Verfahren zusammenführen und die gleichzeitige Übermittlung von Stabilitäts- bzw. Konvergenzprogrammen und nationalen Reformprogrammen bewirken wird.«[6] Die Inhalte der zu überwachenden Strukturreformen sind im einzelnen noch nicht festgelegt, sie werden sich aber nicht von den Vorgaben des Euro-Plus-Pakts unterscheiden. Weicht ein Staat von dem von der Kommission vorgegebenen Anpassungspfad ab, so kann ihm gegenüber eine Frühwarnung, verbunden mit Empfehlungen, ausgesprochen werden, auch wenn er das vorgesehene Haushaltsdefizit von drei Prozent noch gar nicht überschreitet. Werden innerhalb einer Frist die Empfehlungen nicht eingehalten, so kann die Kommission beschließen, eine verzinsliche und in einem späteren Stadium auch eine unverzinsliche Einlage von ihm zu verlangen. Die Einlage soll 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen.

»Unpolitisches Geld«

Von großer Bedeutung ist, wer das Recht hat, Sanktionen zu erlassen. Nach den Plänen der Kommission ist sie es, die den Vorschlag dafür macht. Wird er nicht innerhalb von zehn Tagen vom Rat mit qualifizierter Mehrheit abgelehnt, so gilt er als vom Rat angenommen.[7] Dies bedeutet, daß die Kommission als weitgehend unkontrollierte und damit undemokratische Institution in diesem Verfahren viel Macht erhält. Der Rat als Vertretung der Mitgliedstaaten und damit auch der nationalen Parlamente wird hingegen weitgehend entmachtet. Er kann nur im nachhinein innerhalb einer kurzen Frist mit qualifizierter Mehrheit widersprechen. Damit kommt man der von Kommission, EZB und deutscher Bundesregierung verlangten automatischen Verhängung von Strafen bei Verstößen gegen den repressiven und gegen den präventiven Teil des SWP sehr nahe. Wie schon beim Euro-Plus-Pakt hatte sich die französische Regierung gegen einen solchen, jegliche politische Einflußnahme ausschaltenden Automatismus gesträubt. In der deutsch-französischen Erklärung von Deauville vom 18.10.2010 wurde darüber zwischen Merkel und Sarkozy schließlich ein Kompromiß gefunden, wonach die Sanktionen »automatischer sein sollten« (wörtlich: »These sanctions should be more automatic«).

Die Forderung nach automatisch wirksamen Sanktionen entspricht der Sichtweise des Euros als »unpolitisches Geld«, womit gemeint ist, daß die demokratisch gewählten Gremien ausgeschaltet werden, um die geldpolitischen Entscheidungen stärker dem Einfluß der Finanzmärkte zu öffnen. Für den ehemaligen Chefvolkswirt der EZB und heutigen Bankberater Otmar Issing [8] ist diese Entpolitisierung Grundlage für die Währungsunion. Er sieht im »Euro das Produkt des im Maastricht-Vertrag bekundeten Willens nach unpolitischem Geld – Geld, das dem Einfluß von Regierungen, parteipolitischen Interessen und wahltaktischen Überlegungen entzogen ist.«[9] Mit der jetzt angestrebten europäischen Wirtschaftsregierung geht die EU einen großen Schritt in Richtung dieses »unpolitischen Geldes«. Noch einen Schritt weiter geht EZB-Präsident Jean-Claude Trichet mit seinem Vorschlag, gleich ein europäisches Finanzministerium zu schaffen. »Dies solle für die Aufsicht über Haushalt und Wettbewerbsfähigkeit sowie den ›Durchgriff auf die Wirtschaftspolitik‹ hochverschuldeter EU-Staaten zuständig sein.« (FAZ vom 3.6.11) Die Einrichtung eines europäischen Finanzministeriums wäre nichts anderes als die offene Diktatur der Finanzmärkte!

Das zur Mitentscheidung berechtigte Europäische Parlament setzt dieser Entwicklung nichts entgegen. Im Gegenteil: Der für die Erarbeitung der Stellungnahmen zuständige Ausschuß für Wirtschaft und Währung hat in wichtigen Fragen das Gesetzespaket sogar noch verschärft. Während der Parlamentsberatungen hatten EZB-Präsident Trichet und der Euro-Gruppen-Vorsitzende Jean-Claude Juncker die Abgeordneten wiederholt aufgefordert, die aus ihrer Sicht zu weich und gegenüber den Mitgliedsländern zu nachgiebig ausgefallenen Kommissionsvorschläge zuzuspitzen. Diese Aufforderungen sind dort erhört worden. Das Europäische Parlament wird am 23. Juni oder in der ersten Juliwoche über die Vorlagen abstimmen. Dann wird sich auch zeigen, wie Sozialdemokraten und Grüne dazu stehen. Die Fraktion der Linken (GUE/NGL) hat ihre Ablehnung bereits angekündigt.

Widerstand formiert sich

Widerstand kommt auch von den Gewerkschaften. Für den DGB ist der Euro-Plus-Pakt ein »Pakt der ökonomischen Unvernunft und sozialen Kälte«, ein »Pakt gegen die europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften«. Mit den Vorschlägen zu Economic Governance setzt sich der Europäische Gewerkschaftsbund in einer Erklärung vom 9.3.2011 auseinander. Danach sei die zentrale Absicht dieser Vorschläge, »Druck auf die Löhne auszuüben und die Einmischung in Lohnverhandlungen«. Eine ausführliche Stellungnahme zur europäischen Wirtschaftsregierung legt die IG Metall in ihren Wirtschaftspolitischen Informationen vom 18.5.2011 vor. Darin kritisiert sie vor allem die beiden Verordnungsvorschläge zur Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte: »Auch wenn die Brüsseler Lohnkeule für die Defizitländer gedacht ist; sie drischt de facto auf alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Euro-Raums ein. Wenn zum Beispiel Spanien dem deutschen ›Vorbild‹ folgt und seine Wettbewerbsfähigkeit durch geringen Lohnanstieg verbessert, dann dreht sich die Lohnspirale nach unten. Deutsche und französische Arbeitnehmer würden dann ihrerseits mit dem Beispiel Spanien unter Druck gesetzt. Aus so einer wettbewerbsorientierten Lohnstrategie würde unweigerlich massiver Nachfrageausfall im ganzen Euro-Raum folgen.« Der daraus zu ziehende Schluß ist eindeutig: »Die IG Metall lehnt eine europäische Wirtschaftsregierung ab, die eine Niedriglohnstrategie zum Ziel hat.«

Ablehnung und Widerstand kommt auch vom europäischen ATTAC-Netzwerk. In einer Stellungnahme vom 9.5.2011 heißt es: »Unter massivem Zeitdruck und weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit sollen in Brüssel noch vor dem Sommer Pläne für eine weitreichende ›Europäische Wirtschaftsregierung‹ beschlossen werden. Deren Kernelemente sind Kürzungen bei Löhnen und Sozialleistungen, Abbau der öffentlichen Dienste, niedrigere Steuern für große Unternehmen und Angriffe auf die Arbeitnehmerrechte in den EU-Staaten. Die EU-Kommission soll weitreichende Kompetenzen erhalten, sich mit Strafsanktionen in die nationale Wirtschaftspolitik einzumischen, sollten ihre neoliberalen Sparvorgaben nicht umgesetzt werden.« Das europäische ATTAC-Netzwerk hat eine E-Mail-Aktion in Gang gesetzt, in der man unter www.oureurope.org gegen die Pläne Protest einlegen kann. Mit den Unterschriften sollen die Europaabgeordneten zur Ablehnung des Gesetzgebungspakets bewegt werden.

Beginnend mit dem Rettungspaket für Griechenland bis hin zu den Plänen für eine europäische Wirtschaftsregierung wird das einheitliche Muster des Vorgehens der Regierungen der kerneuropäischen EU-Länder, der Europäischen Kommission und der EZB immer deutlicher erkennbar: Die Finanzmärkte werden geschont, für sie wird sogar ein dauerhafter Stützungsmechanismus geschaffen, die Probleme der Überschuldung der Staaten, der Unternehmen und der Privathaushalte werden nicht angegangen. Die Krisenlasten werden mit Hilfe der Austeritätsprogramme auf die Lohnabhängigen und auf die Schwächsten vor allem in den europäischen Peripherieländern abgewälzt. Man setzt auf die erneute Aufblähung der Finanzaktiva, auf hohe Aktienkurse, wieder steigende Preise für Immobilien und Rohstoffe und damit auf wachsende Finanzmärkte. Mit einem Wort: Die Party soll unter allen Umständen weitergehen!

Fußnoten
  1. Vgl. Andreas Wehr, Griechenland, die Krise und der Euro, PapyRossa Verlag, Köln 2010, S. 90 ff.
  2. Vgl. Andreas Wehr, »Keltischer Tiger am Boden«, jW-Thema vom 9.12.2010 und »An der Kandare«, in: jW-Thema vom 16.3.2011
  3. Der Euro-Plus-Pakt. Stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz, Anlage I der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25. März 2011, EUCO 10/11. Vgl. dazu Andreas Wehr, »Spaltung der EU«, jW-Thema vom 4.4.2011
  4. Vorlagen der Kommission zu Economic Governance KOM (2010) 522, KOM (2010) 523, KOM (2010) 524, KOM (2010) 525, KOM (2010) 526 und KOM (2010) 527 vom 29.9.2010. Die Vorlagen sind als ein Paket anzusehen, so sind auch die Begründungen der sechs Vorschläge identisch
  5. Vorlagen der Kommission zu Economic Governance vom 29.9.2010, a. a. O., S. 2
  6. Ebenda
  7. Vgl. Vorschlag des Europäischen Parlaments und des Rates über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Raum KOM (2010) 524, a.a.O., Artikel 3 und 4
  8. Otmar Issing ist seit Januar 2007 »International Advisor« von Goldman Sachs und seit Juni 2006 Präsident des Center for Financial Studies (CFS), dem früheren Institut für Kapitalmarktforschung, in Frankfurt/M. Zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt vergibt das CFS jährlich »The Deutsche Bank Prize in Financial Economics«. Im Oktober 2008 übernahm Issing den Vorsitz einer Expertengruppe, die im Auftrag der Bundesregierung Vorschläge für eine Reform der internationalen Finanzmärkte erarbeiten soll
  9. Otmar Issing, »Der Euro und die politischen Risiken«, in: FAZ vom 6.12.2008
* Andreas Wehr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der linken Fraktion (GUE/NGL) im Europaparlament. Mehr unter: www.andreas-wehr.eu

Aus: junge Welt, 8. Juni 2011



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