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Wie weiter mit der EU-Verfassung?

Politiker schieben die Entscheidung über den Vertrag auf die lange Bank

Von Andreas Wehr, Brüssel*

Nach dem Scheitern der Referenden zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden hatte sich die Union eine einjährige »Denkpause« verordnet. Zeit für eine Zwischenbilanz.

Wer es noch nicht bemerkt haben sollte: Die Europäische Union befindet sich in der »Phase der Reflexion«, jedenfalls was den Verfassungsvertrag angeht. Sie wurde vom Rat im Juni 2005 für ein Jahr ausgerufen und ist die Antwort auf das Scheitern in Frankreich und den Niederlanden. Die Staats- und Regierungschefs der EU verständigten sich darauf, »im ersten Halbjahr 2006 wieder zusammenzukommen, um eine Bewertung aller einzelstaatlichen Diskussionen vorzunehmen und den weiteren Fortgang des Ratifizierungsprozesses zu vereinbaren«.

Vereinbart wurde vor einem halben Jahr, am Ratifizierungsprozess festzuhalten: »Die jüngsten Entwicklungen stellen nicht in Frage, dass die Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses gerechtfertigt ist.« Tatsächlich fand nach dem Gipfel nur noch die Volksabstimmung in Luxemburg statt. Alle anderen geplanten Referenden wurden auf die lange Bank, wenn nicht gar auf den Sankt- Nimmerleinstag geschoben. Das betraf Dänemark und Polen, wo Volksabstimmungen bereits für Ende September 2005 angesetzt waren, Portugal, das Anfang Oktober an der Reihe sein sollte, und Irland, wo ein Referendum für Anfang 2006 anstand. Und niemand redet mehr von Abstimmungen in Großbritannien und Tschechien. In Schweden wurde sogar der parlamentarische Ratifizierungsprozess gestoppt. Lediglich in kleinen Staaten wie Malta und Zypern haben die Volksvertretungen den Vertrag seitdem gebilligt. Damit ist der Ratifizierungsprozess faktisch zum Stillstand gekommen, womit das erste und wichtigste Ergebnis der »Reflexion« bereits feststeht: Die meisten Mitgliedstaaten halten die Ratifizierung des Verfassungsvertrages für nicht mehr notwendig, für sie ist der Vertrag faktisch tot.

Aktivität meldet hingegen das Europäische Parlament. Die Abgeordneten Johannes Voggenhuber von den Grünen und Andrew Duff von den Liberalen erstellten einen Bericht über die Reflexionsphase. Beide Parlamentarier waren Mitglieder des Konvents und sind glühende Anhänger des Verfassungsvertrages. Da sie jedoch auch Realisten sind, schrieben sie in ihrem Bericht, dass »die Ratifizierung des Verfassungsvertrages auf unüberwindliche Schwierigkeiten« gestoßen sei, und dass daher zu entscheiden ist, »ob Verbesserungen an der Verfassung erforderlich sind«. Gedacht wird dabei an die Einberufung eines neuen Konvents zur Überarbeitung des Verfassungsvertrages.

Doch die Abgeordneten aus den großen Fraktionen der Sozialdemokraten und der Konservativen folgten den beiden Autoren in dieser Bewertung nicht. Sie wollen das Projekt durch beharrliches Aussitzen doch noch zum Erfolg führen. Geht es nach ihnen, so soll am Verfassungsvertrag kein einziges Wort geändert werden. Es gälte lediglich abzuwarten, bis sich die politischen Verhältnisse in Frankreich und in den Niederlanden gewandelt haben – etwa nach der Wahl eines neuen französischen Präsidenten im Frühsommer 2007. Spätestens dann soll ein neuer Anlauf unternommen werden.

Diese Strategie passt zum jüngsten Vorschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Verfassungsvertrag lediglich mit einer unverbindlichen Erklärung zur »sozialen Dimension Europas« zu versehen, und anschließend in den beiden Ablehnungsstaaten erneut zur Abstimmung zu stellen. Vorbild für ein solches Verfahren soll Irland sein, wo ein erstes ablehnendes Votum über den Vertrag von Nizza 2001 mit Hilfe einer neuen Abstimmung überwunden wurde.

Doch der Vergleich hinkt. In Irland gab es seinerzeit keine breite gesellschaftliche Debatte über die Perspektive der EU. Die Beteiligung am Referendum war niedrig. Auch ging es um eine spezifische irische Frage, nämlich die Bewahrung der Neutralität des Landes in der Union. Ganz anders in Frankreich und den Niederlanden: Im Mittelpunkt standen sozialpolitische Fragen. Die Beteiligung an den Referenden war außergewöhnlich hoch, und die individuelle Entscheidung wurde von der jeweiligen Klassenlage bestimmt. Die abhängig Beschäftigten stimmten mit großer Mehrheit mit Nein. Würde der unveränderte Vertrag noch einmal zur Abstimmung vorgelegt werden, so würde man dies dort als schlichte Provokation verstehen. Die Regierungen in Paris und Den Haag werden sich auf ein solches Abenteuer wohl kaum einlassen. Und die Linke in diesen Ländern hat bereits klargestellt, dass ein neuer Verfassungsvertrag nur dann akzeptabel ist, wenn darin eine Abkehr von Neoliberalismus und Militarisierung Europas enthalten ist.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Dezember 2005


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