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Europa ohne Demokratie?

Andreas Wehr legt ein Buch zur europäischen Verfassungsdebatte vor - Rezension

Unter dem Titel "Hegemonialordnung" rezensiert Tobias Pflüger das neue Buch von Andreas Wehr (bibliografische Angaben am Ende des Artikels). Wir entnahmen die Rezension der Wochenendbeilage der "jungen Welt" vom 8. Mai 2004.


In Artikel I 40 Absatz 3 des Entwurfs für den europäischen Verfassungsvertrag heißt es: »Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«. In keiner Verfassung dürfte eine solche Aufrüstungsverpflichtung jemals gestanden haben. Diese und weitere Festlegungen wie die Einrichtung des »Europäischen Amts für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« reichen aus, um diesen Entwurf abzulehnen – gegen ihn hat sich daher inzwischen eine Kampagne formiert (www.eu-verfassung.com).

Der Entwurf enthält jedoch weit mehr als einen Schritt zur institutionalisierten Militarisierung der EU. In ihm ist mit dem Grundsatz einer »offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« (Art. III 69) auch das neoliberale Wirtschaftssystem festgeschrieben. Es handelt sich um einen EU-Umbauplan.

Andreas Wehr hat dies und die sich abzeichnenden Konsequenzen in »Europa ohne Demokratie?« glänzend analysiert. Als Mitarbeiter der linken Fraktion im Europäischen Parlament, der GUE/NGL, nahm er an allen Sitzungen des Verfassungskonvents teil. Der Insider räumt gleich zu Beginn mit der Legende auf, beim Konvent habe es sich um so etwas wie eine verfassunggebende Versammlung gehandelt. Tatsächlich waren dort jeweils ein Regierungsvertreter, je zwei Abgeordnete nationaler Parlamente und 16 Europaabgeordnete sowie zwei Vertreter der EU-Kommission versammelt. Das bedeutete: Konservative, Sozialdemokraten und einige Liberale waren fast unter sich. Alle anderen politischen Richtungen, darunter linke Parteien, die zusammen bei Europawahlen regelmäßig fast ein Drittel der Stimmen auf sich vereinen, waren so gut wie ausgeschlossen. Die Linken stellten z. B. zwei Mitglieder des Konvents (von 105), wovon die eine, die zypriotische Kommunistin Eleni Mavrou als Vertreterin eines Beitrittslandes kein Stimmrecht hatte. Kritische Stimmen kamen kaum zu Wort, eine Chance zur Durchsetzung alternativer Positionen gab es nicht.

Nach Wehr war der Konvent eine erweiterte Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten. Das zeigte sich vor allem bei den abschließenden Entscheidungen über den Umbau der EU-Institutionen. Letzteres geistere unter dem Titel »Erhalt der Handlungsfähigkeit der EU-Gremien nach der Erweiterung« seit Jahren durch die Gänge von Kommission, Rat und Außenministerien.

Gemeint sind damit die sogenannten Left-overs, die seit nunmehr sieben Jahren – seit dem Vertrag von Amsterdam 1997 – ungelöst gebliebenen Fragen um die Neufestlegung der Größe der Kommission, der Reform der Stimmenverteilung im Rat und hinsichtlich der Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierten Mehrheiten im Rat. Auf dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 konnte man diese Fragen nicht zufriedenstellend lösen. Mit dem Konvent wurde ein neuer Anlauf genommen.

Eine Kernaussage von Wehr lautet: Hinter der immer wieder beschworenen Warnung vor einer drohenden Handlungsunfähigkeit der erweiterten EU stehe die Befürchtung der großen Staaten, »daß sich durch ein Anwachsen allein der Zahl der kleinen und mittleren Mitgliedstaaten ihr relatives Gewicht in der Union verringern könnte«. Schaut man sich die vom Konvent vorgeschlagenen institutionellen Änderungen genau an, bestätigt sich das: Die Gremien der EU werden zentralisiert, verkleinert und die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten generell beschnitten. So sollen in der EU- Kommission nicht mehr alle Staaten mit einem gleichberechtigten Kommissar vertreten sein. Die Position des Kommissionspräsidenten wird deutlich gestärkt, die rotierende Präsidentschaft beseitigt und dafür das Amt eines Ratspräsidenten geschaffen. Die Abstimmung mit qualifizierten Mehrheiten wird dort zur Regel, Einstimmigkeit zur Ausnahme. Vor allem aber: Mit der Einführung des sogenannten demographischen Faktors bei Ratsabstimmungen steigt die Bedeutung der großen Staaten enorm.

Bleibt es bei der Regelung, daß eine Gesetzesentscheidung 60 Prozent der Bevölkerung repräsentieren muß, könnten die vier großen Staaten Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien faktisch alles bestimmen, da sie zusammen 53 Prozent repräsentieren. Da als zweite Bedingung für einen Beschluß die einfache Mehrheit der Staaten erforderlich ist, reicht es, wenn zu den großen vier Ministaaten wie Malta, Luxemburg, Zypern usw. hinzukommen. Anders herum gerechnet: Nach der Verfassung können bald 40 Prozent der EU-Bürger und zwölf Staaten überstimmt werden. Es handelt sich um nichts anderes als um eine neue europäische Hegemonialordnung, beherrscht von einem »EU-Direktorium«, insbesondere von den großen Staaten – vorneweg Deutschland und Frankreich, immer wieder dabei: Großbritannien und Italien oder neuerdings auch wieder Spanien. Das ist die alte Kerneuropaidee, allerdings als brutale – vor allem militärische – Realität.

Es gibt noch eine realistische Chance, diese EU-Verfassung zu verhindern: durch ein klares Votum am 13. Juni (am 17. Juni wollen die EU-Regierungschefs die EU-Verfassung vorläufig beschließen) und vor allem durch die Unterstützung von Friedensbewegungen und Linken in den Ländern, in denen rechtsverbindliche Referenden über die EU-Verfassung stattfinden werden, z. B. in Irland. Sollte ein Staat nicht zustimmen, ist die EU-Verfassung in der vorgelegten Form gestorben.

Wer eine gut geschriebene Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte des Verfassungsentwurfs und Argumente für seine Ablehnung haben möchte, sollte Wehrs Buch lesen. Für die Kampagne gegen diese Verfassung ist es Pflichtlektüre – eine Hilfe gegen Weichspüler, die weismachen wollen, die vorgelegte EU-Verfassung sei eine gute Verfassung.

Tobias Pflüger

Andreas Wehr: Europa ohne Demokratie? Die Europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen
PapyRossa Verlag: Köln 2004, 154 Seiten, 12,90 Euro


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