Hegemonialordnung
Andreas Wehr hat ein Buch zur Europäischen Union geschrieben
Von Arnold Schölzel *
In der Reihe »Basiswissen« des PapyRossa Verlages sind bislang zum einen Studien zu grundlegenden Begriffen der Geschichte, Ökonomie und Politik erschienen: Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Faschismus, Imperialismus. Zum anderen historische Untersuchungen: Der Spanienkrieg 1936–1939, Geschichte der BRD, Geschichte der DDR. Das Bändchen von Andreas Wehr »Die Europäische Union« gehört in die letztere Kategorie – allerdings mit einem Zusatz: Das fünfte Kapitel seines Buches enthält nicht nur eine Skizze der gegenwärtigen Situation der EU, sondern auch politische Analysen und Positionen dazu. Es trägt den Titel »Die Europäische Union: Entdemokratisierung und Sozialabbau«.
Wegen der Bedeutung, die der Streit um die Haltung zur EU u. a. in der deutschen Linken angenommen hat, sei hier vor allem darauf eingegangen. Der Autor nennt zunächst den erreichten Integrationsgrad »bemerkenswert«. Die Union sei »Ausdruck der objektiven Vergesellschaftung der Ökonomie im Sinne einer immer arbeitsteiligeren und immer größere Räume umfassenden Produktion und Konsumtion«. Wehrs »Aber« lautet: »Da aber die EU als regionale Form dieser Internationalisierung von imperialistischen Staaten getragen wird, sind der Vergesellschaftung Grenzen gesetzt.« Die Kernbereiche nationaler Souveränität seien daher nach wie vor intakt, weil die Mitgliedsländer »in diesem Wettstreit untereinander« darauf nicht verzichten können.
Illusionen über EU
Der Gegensatz von Integration (Wehr spricht von Kooperation) – erzwungen durch Vergesellschaftung – und real existierender imperialistischer Konkurrenz prägt Geschichte und Gegenwart der EU. Dieser Gegensatz bestimmt die EU-Verträge. Wie zu keinem anderen Zeitpunkt in der Nachkriegsgeschichte macht die derzeitige Krise dabei deutlich: Im Wettbewerb setzen sich die ökonomisch Stärkeren durch – bis hin zum Ruin der Integration. Das Ergebnis sind laut Wehr die teilweise Auflösung der Kooperation (die »Rettungsschirme« ESFS und ESM wurden außerhalb der EU gegründet), »die Machtverschiebung zwischen europäischem Kern und Peripherie« und »eine Hegemonialordnung mit Deutschland an der Spitze«. Kennzeichnend für die EU sind aus Sicht des Autors daher mehr denn je die Auflösung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie sowie der in Maastricht 1992 verankerte und im »Fiskalpakt« 2012 auf die Spitze getriebene Sozialabbau.
Der Autor geht abschließend auf die Chancen für progressive Veränderungen in solcher Situation ein. Sein Hauptargument: »Da eine Öffentlichkeit auf europäischer Ebene so gut wie nicht existiert, kann dort auch der Kampf um Demokratie und soziale Rechte nicht erfolgreich geführt werden. Es fehlt schon an einer gemeinsamen Sprache.« Parteien aller Couleur und Gewerkschaften arbeiteten de facto – mit Ausnahmen – isoliert voneinander. Abwehrkämpfe und erst recht »Veränderungen hin zum Sozialismus« könnten daher »nur auf der Ebene der Nationalstaaten ansetzen«. Heute gelte es, vor allem die »Peripheriestaaten bei der Verteidigung ihrer Souveränitätsrechte« zu unterstützen gegen die Forderung des Finanzkapitals und der hinter ihm stehenden Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen nach »mehr Europa«, denn sie sei gleichbedeutend mit Demokratieabbau. Die Losung »demokratische und soziale EU« sei daher geeignet, Illusionen über eine Refomierbarkeit zu wecken und die Parole »mehr Europa« unter Kritikern der Integration populär zu machen. Allerdings: Die Veränderungen zwischen Kern und Peripherie der EU sowie die Demokratiefrage können nach Überzeugung des Autors die Existenz der jetzigen Union in Frage stellen – von Austritt eines oder mehrerer Mitgliedsländer bis zur wachsenden Abneigung gegen die EU in der Bevölkerung.
Frieden zuletzt
Das letzte Kapitel des Buches beschreibt so eine besonders dynamische historische Phase, die vom Aufbruch der in der EU-Konstruktion eingehegten innerimperialistischen Widersprüche geprägt ist. Dem läßt der Autor im ersten Abschnitt einen Überblick über die geistigen und strategischen Europa-Ideen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorausgehen. Die Kapitel II (1950–1985), III (1985–2005) und IV (2005 bis 2012), in denen Wehr die Machtverhältnisse und die Verträge seit der Montanunion 1950 in Westeuropa gründlich und kenntnisreich analysiert, lesen sich wie ein Vorspiel zu diesem vorläufig letzten Akt eines Stückes, dessen Ende offen ist. Was ursprünglich – mit Hilfe der OEEC, dem Vorläufer der OECD, und der NATO seit 1948/49 maßgeblich von den USA in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion konzipiert worden war, erlebt nun eine Umgestaltung, deren Ergebnis unbekannt ist. Mehr als 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, das als historische Zäsur im Buch eine zu geringe Rolle spielt, ist der Versuch, eine neue imperialistische Weltordnung zu etablieren, in einer tiefgreifenden Krise. Die EU ist gezwungen, sich neu zu formieren. An Frieden denken die derzeit entscheidenden Kräfte, das macht Wehr deutlich, dabei zuletzt.
Andreas Wehr: Die Europäische Union. PapyRossa Verlag, Köln 2012, 136 Seiten, 9,90 Euro
* Aus: junge Welt, Montag, 29. Oktober 2012
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