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Merkels Europa

Position. Maßgebliche Teile der deutschen Eliten wollen den europäischen Bundesstaat. Eine Antwort auf Gregor Schirmer

Von Thomas Wagner *

Gibt es ernsthafte Bestrebungen, aus der Europäischen Union einen politisch geeinten Bundesstaat zu machen, in dem die bisher zumindest de jure noch souveränen nationalen Parlamente ihre wichtigsten Kompetenzen unwiderruflich an eine Zentralregierung abgeben? Und wäre dieser Vorgang momentan und in absehbarer Zeit überhaupt wünschenswert? Es ist das Verdienst des Völkerrechtlers Gregor Schirmer, diese für die strategische Orientierung der demokratischen Kräfte in Europa wichtigen Fragen in ihrer Bedeutung erkannt zu haben. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß, wie der Titel seines Diskussionsbeitrags suggeriert, die EU am Scheideweg steht, und es ist daher das Gebot der Stunde, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen die in Frage stehenden Entwicklungsrichtungen für die Durchsetzung des anvisierten Ziels einer »sozialen Demokratie« (Wolfgang Abendroth) in Europa jeweils haben würden.

Schirmers Einschätzung, daß die Vereinigung der Staaten Europas auf der Grundlage einer nichtkapitalistischen Gesellschaftsordnung noch in weiter Ferne liegt, erscheint realistisch, wenn man die derzeitigen Klassenmachtverhältnisse in Rechnung stellt. Als ein Ausdruck politischer Klugheit ist zudem seine Aufforderung an die Linkskräfte zu werten, angesichts der gegenwärtig fortschreitenden »Übertragung von Souveränitätsrechten an die EU« dafür zu kämpfen, »daß der nationale Kampfplatz, auf dem sie den größten Einfluß geltend machen können, erhalten bleibt«. Denn zumindest so lange die europaweite Zusammenarbeit und Koordination der Interessenorganisationen von abhängig Beschäftigten hinter der Vernetzung der europäischen Eliten zurückbleibt, drohen sie innerhalb einer EU, die »nach wie vor immer noch eine Organisation von Staaten« ist, noch mehr in die Defensive zu geraten als ohnehin jetzt schon auf dem jeweils nationalen Parkett: »Es gibt Probleme, die sehr wohl und sogar besser auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden. Und es gibt Kämpfe, die zuvörderst auf nationaler Ebene ausgefochten werden müssen.«

Die »Wahrung von Entscheidungsrechten der nationalen Parlamente« ist in dieser historischen Konstellation »nichts Rückständiges und Rückwärtsgerichtetes«, auch wenn eine an mehr substantieller Demokratie interessierte Bewegung sich damit nicht bescheiden darf. Für Europäer, die eine soziale und demokratische Entwicklung ihres Kontinents im Sinn haben, kann eine politische Einigung unter den derzeitigen Machtverhältnissen keine Perspektive sein. Denn ein europäischer Bundesstaat könnte, wie Schirmer richtig schreibt, »nach Lage der Dinge nur eine imperialistische Weltmacht sein«. Bis hierhin kann ich ihm folgen. In einer weiteren zentralen Frage liegt er aber leider völlig daneben: Es stimmt einfach nicht, wie seine Ausführungen nahelegen, daß es derzeit kaum jemanden gibt, der einen europäischen Bundesstaat haben will und daß ein solcher schon deshalb nicht kommen wird. Schirmers Prognose liegt keine hinreichend genaue Analyse der gegenwärtigen Interessenkonstellationen zugrunde. Sie hat mehr mit den guten Wünschen eines demokratisch gesinnten Rechtswissenschaftlers als mit den heute tatsächlich stattfindenden Manövern der Merkel-Regierung und der sie begleitenden Diskussion zu tun.

Vielstimmiger Chor

Schirmer behauptet, daß es in »historisch absehbarer Zeit« keinen »EU-Bundesstaat und keine Vereinigten Staaten von Europa geben« werde, weil kaum jemand ein Interesse daran habe: »Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht, weil sie davon keine Verbesserung, eher eine Verschlechterung ihrer Lebenslage erwarten und erkämpfte Rechte und Freiheiten nicht aufs Spiel setzen wollen. Die europäischen Völker, die großen wie die kleinen, nicht, weil sie um ihre historische und kulturelle Identität fürchten. Die politisch Herrschenden nicht, weil sie ihre Machtstellung, auf jeden Fall die Souveränität über die Außenpolitik und die Sicherheitspolitik nach außen und im Inneren, behalten wollen und weil sie keinesfalls einen in einer EU-Föderation unvermeidlichen Finanzausgleich zwischen finanzstarken und finanzschwachen Ländern akzeptieren. Die großen und mächtigen Staaten nicht, weil ihre beherrschende Stellung in der gegenwärtigen EU besser durchzusetzen ist als in einer bundesstaatlichen. Die kleinen und schmächtigen nicht, weil sie in der verbliebenen Souveränität einen Schutzschild gegen Übergriffe sehen. Die Kapitalbosse nicht, weil zu viel regulierende EU-Staatlichkeit die ungebremsten Konkurrenzkämpfe der Konzerne und Großbanken innerhalb des gemeinsamen Marktes und um Marktpositionen außerhalb der EU behindern kann und ihr Profitstreben stört. Die Nichteuropäer aller Kontinente von den USA über Rußland bis nach China nicht, weil sie aus unerschiedlichen Gründen eine ökonomische, wissenschaftlich-technische, politische und militärische Machtzusammenballung in Gestalt eines EU-Staates nicht wollen können.«

Die Aufzählung klingt schlüssig. Doch schaut man sich die heute geführte Europa-Debatte genauer an, erweist sich schnell, daß sich die Fakten nicht bruchlos in das von Schirmer gemalte Bild der Ablehnung eines europäischen Bundesstaates durch alle und jeden einfügen lassen. Mehr noch: Es gibt nachweislich durchaus relevante Kräfte, die sich von einem Bundesstaat Europa ökonomische und machtpolitische Vorteile versprechen. Angeführt werden sie von Angela Merkel. Ob sie sich damit durchsetzen werden, ist zwar noch nicht entschieden, muß aber als realistische Möglichkeit ins politische Kalkül der demokratischen Kräfte einbezogen werden. Schirmer selbst nennt eine Reihe von Stimmen, die sich derzeit für eine politische Einigung Europas stark machen. Dazu gehören Spitzenpolitiker aus Regierung und Opposition wie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der einen EU-Bundesstaat mit direkt gewähltem Präsidenten vorschlug, und der SPD-Bundesvorsitzende Sigmar Gabriel.

Nun könnte es sich bei den beiden um die berühmten Ausnahmen von der Regel handeln. Dann ließe sich Schirmers Vermutung plausibilisieren, daß die Eingebungen der genannten Protagonisten kaum mehr sind »als Wahlkampflärm und Manöver, die von der Unfähigkeit, die Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen, ablenken sollen«. Mindestens ebenso plausibel ist jedoch die Umkehrung der Kausalitätskette. Dann wäre das von Merkel verordnete »Sparen« als Allheilmittel Teil eines politischen Kalküls, das die unausweichlich daraus resultierende Verschärfung der Krise als eine Chance zur Erweiterung der eigenen Machtfülle auf der europäischen Ebene begreift. Diesen Gedanken legt jedenfalls eine konservative Kritikerin von Merkels immer weiter ausgreifenden Machtambitionen nahe. »Die Machterweiterung der Chefin braucht die Krise«, schreibt Gertrud Höhler (»Die Patin. Wie Angela Merkel Deutschland umbaut«, Zürich 2012, S. 101), denn, so die ehemalige Beraterin von Kanzler Helmut Kohl und Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen: »Der Sparmeisterin kann keiner Verschwendung vorwerfen.« (ebd.)

Schaut man sich die Diskussionslage genauer an, dann zeigt sich bald, daß Schäuble und Gabriel mitnichten isoliert sind. Vielmehr sind sie Teil eines vielstimmigen Chores, in dem Sänger vieler politischer Schattierungen mit größer werdender Lautstärke das Loblied des europäischen Bundesstaates singen. Bundesministerin Ursula von der Leyen (CDU) verlangte schon 2011 eine schnellere Integration und den Ausbau der politischen Union in Europa, und für Hans-Gert Pöttering, den ehemaligen Präsidenten des Europaparlaments und heutigen Vorsitzenden der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, führt »kein Weg daran vorbei, das Europäische Parlament weiter zu stärken« (FAZ, 13.8.2012). Ulrich Wilhelm wiederum, der Intendant des Bayerischen Rundfunks, der vielen Fernsehzuschauern noch als Pressesprecher der Bundeskanzlerin in Erinnerung ist, meinte jüngst: »Eine politische Union fordert zwingend die Abgabe von Souveränität an die europäischen Institutionen.« (FAZ, 7.7.2012) Er zeigte sich fest davon überzeugt, daß eine Volksabstimmung darüber, von den Befürwortern der Kompetenzverlagerung nach Europa gewonnen werden könnte. »Allerdings muß die Politik die innere Bereitschaft haben, ein solches Referendum, falls nötig, zu bestehen. Eine Mehrheit in Deutschland kann überzeugt werden, auch wenn berechtigte Skepsis zu überwinden ist.«

Maßgebliche Teile der deutschen Unternehmerschaft sind jetzt schon dafür: So forderte Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), schon im vergangenen Jahr »alle gesellschaftlichen Gruppen« dazu auf, »offensiv für die europäische Einigung sowie die Weiterentwicklung der Integration zu werben« (FAZ, 29.8.2011). Denn kein europäisches Land besitze allein die Kraft, »um im Wettbewerb mit den starken und den aufsteigenden Weltregionen zu bestehen«. Daher sei die Zustimmung der nationalen Parlamente zur »politischen Union von grundlegender Bedeutung«. Die deutsche Wirtschaft werde die »weitere Vertiefung der europäischen Integration nach Kräften unterstützen«.

Deutsches Hegemoniestreben

Auf politischer Ebene ist man unterdessen längst dabei, Nägel mit Köpfen zu machen. Auf lange Sicht glauben relevante Teile der deutschen Eliten, von einer weiteren Verlagerung der politischen Souveränität nach Brüssel durchaus profitieren zu können. Im Entwurf eines Leitantrags zum CDU-Parteitag Mitte November 2011 heißt es unmißverständlich: »Wenn wir in bestimmten Bereichen Zuständigkeiten an die Europäische Union abgeben, gewinnen wir durch das gemeinsame Gewicht der Europäischen Union an Einfluß.« Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP) rief wenig später eine zehnköpfige »Außenministergruppe zur Zukunft Europas« ins Leben, um ein Reformkonzept zur Vertiefung der politischen Union der EU-Mitgliedsstaaten auszuarbeiten. In ihrem bereits publizierten Zwischenergebnis [1] drängen die Außenminister Belgiens, Dänemarks, Deutschlands, Italiens, Luxemburgs, Österreichs, der Niederlande, Polens, Portugals und Spaniens auf eine stärkere Bündelung der europäischen »Kräfte nach innen und außen« durch eine Verlagerung der Souveränitätsrechte auf die europäische Ebene. Ins Auge gefaßt werden »mehr europäische Durchgriffsrechte« in der Wirtschafts- und Steuerpolitik, ein europäischer Finanzminister, ein gestärktes EU-Parlament, ein direkt gewählter EU-Kommissionspräsident und gemeinsame europäische Sitze in internationalen Gremien. Langfristig sei für einige Mitgliedsstaaten auch eine europäische Armee denkbar, heißt es weiter in dem Papier. Die Krise müsse jetzt ein »Weckruf« sein. Bis zum Herbst sollen die Vorschläge vollständig sein. Mit einer Erweiterung der Demokratie hat das Ganze wenig zu tun. Die Direktwahl des Präsidenten impliziert nicht etwa mehr Beteiligung der Bürger an den wichtigen Entscheidungsprozessen, sondern die Bevollmächtigung eines Superpräsidenten zum wirtschaftsfreundlichen Durchregieren. Genau das aber dürfte den Parteigängern des Kapitals gefallen.

Den Deutschen fiele mit fast 65 Millionen Wahlberechtigten bei der Direktwahl des EU-Präsidenten der Löwenanteil der Stimmen zu, kommentierte Ulrike Guérot, die Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations, die derzeitige Diskussionlage am 11. Juni im Deutschlandradio Kultur. Keinen Zweifel läßt die auch gern von den Grünen zu Rate gezogene und in diversen Fernsehtalkshows präsente EU-Expertin daran, daß sie eine solche Entwicklung begrüßen würde. Wörtlich sagte sie: »Europa wird deutscher, Deutschland wird Hegemon Europas. Das muß nicht schlecht sein.« Das Land müsse endlich »strategische Führungsqualitäten beweisen«.[2] Offenbar hat der Publizist Andreas Wehr recht: »Die in Deutschland herrschende Europaideologie, die von der SPD und vor allem von den Grünen mit verfochten wird, ist die des deutschen Finanzkapitals. In imperialistischer Manier sollen alle verfügbaren Ressourcen des Kontinents mobilisiert werden, damit das deutsche Kapital im weltweiten imperialistischen Kampf um Märkte und Einflußzonen weiterhin erfolgreich sein kann.«[3]

Intellektuelle Augenwischerei

Offen ausgesprochen wird das zumeist allerdings nicht. Denn in einem Punkt hat Schirmer vollkommen recht. Bislang sind große Teile, wenn nicht gar die Mehrheit der Bevölkerung durchaus noch gegen die Einrichtung eines EU-Bundesstaates. Da das offensichtlich so ist, richtet sich gegenwärtig eine ganze Reihe von Bemühungen darauf, der Bevölkerung das weitreichende Entdemokratisierungsprojekt schmackhaft zu machen und den Diskussionsprozeß so zu lenken, daß die potentielle Blockiermacht des Wahlvolks nicht zum Tragen kommt.

Aus diesem Bemühen, den demokratischen Prozeß von oben zu steuern, erklärt sich auch die von Schirmer kritisierte Auffassung des amtierenden Bundesvorsitzenden der SPD, Sigmar Gabriel, die Bevölkerung solle erst am Ende einer Neugründung der Europäischen Union befragt werden, und es gelte, ein neues Konzept für die EU zu schaffen, das die Menschen mitnehme. Um die Bevölkerung auf ein zentralistisch regiertes Europa nach Maßgabe der Kapitalinteressen einzustimmen, werden alle ideologischen Register gezogen. Ziel dieser Bemühungen ist es, den skeptischen Bürgern die ihnen bis jetzt noch unheimliche Angelegenheit entweder schmackhaft zu machen oder eine vermeintliche Alternativlosigkeit zu suggerieren, die sie in einen Zustand politischer Duldungsstarre versetzt.

Unverzichtbar erscheinen dafür die Wortmeldungen namhafter Intellektueller. Genau aus diesem Grund lud Gabriel die Philosophen Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin sowie den Ökonomen Peter Bofinger dazu ein, einen Diskussionsbeitrag für das sozialdemokratische Regierungsprogramm zu schreiben. Unter dem vielversprechenden Titel »Einspruch gegen die Fassadendemokratie« (FAZ vom 4.8.2012) werfen sie der Bundesregierung vor, bisher nicht den Mut aufgebracht zu haben, um den notwendigen Schritt zur Vertiefung der politischen Integration Europas zu gehen. Nur für ein politisch geeintes Kerneuropa bestehe die Aussicht, »den inzwischen fortgeschrittenen Prozeß der Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie umkehren zu können« (ebd.). Das ist schon deshalb pure Augenwischerei, weil sich die Autoren darüber ausschweigen, daß es die SPD-Grünen-Regierung war, die den radikalen Abbruch sozialstaatlicher Standards in Deutschland in die Wege geleitet und damit das heutige soziale Ungleichgewicht in Europa erheblich befördert hat.

Aber noch in einer anderen Hinsicht spielen sie nicht mit offenen Karten: Sie steuern den europäischen Bundesstaat an, ohne das Kind bei seinem Namen zu nennen. »Denn was soll ein politisches Gebilde, das zwar aus Teileinheiten, aber vor allem aus einem gemeinsamen Parlament und einer gemeinsamen Regierung besteht, anderes sein als ein ›Bundesstaat‹?«, hinterfragt Micha Brumlik nicht zu unrecht ihre Argumentation, erweist sich dann aber selbst als Anhänger der Bundesstaatsidee, wenn er vorschlägt, »Europa von Portugal bis Polen als jenen politisch strukturierten Raum, das heißt als jenen Bundesstaat zu propagieren, der in der globalisierten Welt für das steht, was innergesellschaftlich mehr und mehr akzeptiert wird: für angstfreies Anderssein und versöhnte Verschiedenheit« (taz vom 13.8.2012). Angesichts der für immer mehr Flüchtlinge aus aller Welt heute schon tödlichen »Festung Europa«, einer aggressiv betriebenen Militarisierung der Außenpolitik und einer immer größeren Vertiefung der sozialen Gegensätze in Europa ist das bestenfalls ein Ausdruck naiven Wunschdenkens.

Neben dem Herausstellen tatsächlich gar nicht vorhandener sozialpolitischer Chancen und der Schönfärberei ganz offensichtlich neoimperialer Bestrebungen besteht der linklsliberale Beitrag zur Europa-Debatte offenbar darin, die demokratische Opposition gegen den EU-Bundesstaat pauschal mit dem Verdacht des Rechtspopulismus zu belegen. So unterteilt der Publizist Rudolf Walther die EU-Kritiker in drei Hauptkategorien: deutsch-nationale, wohlstandschauvinistische und radikal-populistische. »Das sind Typisierungen. Es gibt auch Mischformen. In der Zielsetzung einer fundamentalen Ablehnung von Euro und politischer Union sind sich alle einig.« (taz vom 7.8.2012)

Lagerübergreifende Arbeitsteilung

In Wirklichkeit haben sich schon jetzt einige jener Populisten, die sich als besonders geschickt im Mobilisieren rückwärtsgewandter Affekte erwiesen haben, als Fürsprecher des Elitenprojekts europäischer Bundesstaat erwiesen. Für den Autor des Bestsellers »Deutschland schafft sich ab« liegt die Einrichtung eines europäischen Bundesstaates ganz eindeutig im deutschen Interesse. Würde »die Bundesregierung in Brüssel den Verfassungsentwurf für einen europäischen Bundesstaat auf den Tisch legen und diesen zur Voraussetzung für alle weiteren finanziellen Bindungen im Rahmen der Währungsunion machen«, sähe er die Konsequenz aus dem Geburtsfehler des Maastricht-Vertrages gezogen, schreibt Thilo Sarrazin (FAZ, 17.7.2012).

Er ist freilich der Ansicht, daß die französische Regierung nicht bereit wäre, diesen Schritt mitzugehen. »Vor die Wahl gestellt, entweder die nationale Souveränität oder den Euro aufzugeben, würde Frankreich sich ohne Zögern für das Letztere entscheiden.« Dennoch ist er der Auffassung: »Ein europäischer Bundesstaat könnte eine stabile Zukunft haben, eine Europäische Union ohne gemeinsame Währung hätte sie ganz sicherlich. Eine Schulden- und Haftungsgemeinschaft souveräner Staaten auf deutsche Kosten hat sie dagegen ganz sicher nicht.«

Manche Querköpfe des politischen Betriebs zeichnen sich dadurch aus, daß sie den von ihren Parteiführungen vertretenen Hegemonieprojekten Anhänger zuführen, die sonst schwer einzufangen gewesen wären. Für jene Euro-Skeptiker im bürgerlichen Publikum, die für die bajuwarische Unabhängigkeitsfolklore empfänglich sind, könnte der CSU-Politiker Peter Gauweiler die richtigen Worte finden, um ihnen den Bundesstaat Europa schmackhaft zu machen. Zwar argumentiert er mit vielen Verweisen auf die weißblaue Geschichte vehement gegen einen europäischen Zentralstaat, der die Rechte der Länder und Regionen ignoriere. Wenn er aber dafür wirbt, Europa statt dessen nach dem Modell der Schweiz zu formen, erweist er sich als Anhänger der klassischen Bundesstaatsidee. Denn die 1848 neu beschlossene Verfassung gab der »Eidgenossenschaft« eine zentralistischere Struktur, die nach dem Vorbild der US-Verfassung Souveränitätsrechte der Kantone an den Staat übertrug. Sein Plädoyer für dieses Modell klingt wie ein konservatives Echo auf die von dem Linksliberalen Brumlik skizzierte Europa-Utopie: »Europa – die Schweiz der Welt? Das Megalopolisch-Unsympathische der Europäischen Union löste ein solcher Vorschlag jedenfalls sofort auf. Ebenso die Vorstellung von Europa als Eidgenossenschaft. Auch die Pflege von Vielsprachigkeit könnte Brüssel von Bern gut lernen. Ebenfalls die Achtung vor kantonaler Selbstbestimmung und staatsbürgerlicher Funktion. Vor allem den unbedingten Respekt vor dem Volkswillen und die Balance von globaler Einbindung und örtlicher Autarkie.« (FAZ, 1.8.2012)

Mittlerweile ist die Zahl jener Politiker und Intellektuellen, die sich für eine weitere Übertragung von Souveränitätsrechten nach Brüssel oder für die Einrichtung eines Bundesstaates Europa einsetzen, so zahlreich geworden, daß man sie in verschiedene Kategorien einteilen kann. Sie finden sich im Spitzenpersonal der Unionsparteien und der FDP ebenso wie in der SPD oder bei den Grünen. Sie agieren arbeitsteilig und zielgruppenspezifisch. Während Gauweiler den Euro-Skeptikern auf seiten des konservativen bürgerlichen Milieus die Idee eines Bundesstaates schmackhaft macht, erfüllen Jürgen Habermas und andere diese Funktion für die linksliberal orientierten Schichten. Im Windschatten dieser legitimatorischen Arbeitsteilung bemüht sich die Bundesregierung unterdessen zielstrebig darum, die europapolitischen Weichen in eine ihr genehme Richtung zu stellen: »Die Staats- und Regierungschefs sollen nach den Plänen von Bundeskanzlerin Angela Merkel noch in diesem Jahr einen Konvent beschließen, der ein neues rechtliches Fundament für die EU ausarbeitet. Das hat der europapolitische Berater Merkels, Nikolaus Meyer-Landruth, bei Gesprächen in Brüssel klargemacht. Ein konkreter Termin für den Auftakt des Konvents soll bei einem geplanten Gipfeltreffen im Dezember festgelegt werden«, berichtet der Spiegel (27.8.2012).

Fußnoten
  1. http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/620510/publicationFile/169561/120630_Zwischenbericht_Zukunftsgruppe.pdf
  2. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1779725/
  3. http://www.freidenker.org/cms/dfv/index.php?option=com_content&view=article&id=364:freidenker-01-12-andreas-wehr-krise-euro-eu&catid=59:internationale-solidaritaet-arbeit-soziales&Itemid=92
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. September 2012.
Mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.



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