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Europas Zukunft

Billiggeld, Finanzblase, Crash und »Rettung« der Spekulanten: Mexikos Tequila-Krise 1994 kann als Blaupause für Situation im Euro-Raum gesehen werden

Von Rainer Rupp *

Das (vermeintlich) vereinte Europa prahlt gerne mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Spätestens seit der kaltblütigen Attacke der Troika (EU-Kommission, Europäische Zentralbank EZB, Internationaler Währungsfonds IWF) auf zyprische Bankguthaben ist offensichtlich, daß das inhaltsleere Worte sind. Vor allem die Rücksichtslosigkeit, mit der das Dreiergespann die Souveränität des Inselstaates kassiert und jegliche politische und soziale Opposition im Lande mißachtet hat, hat gezeigt, die feierlichen Beschwörungen vermeintlicher Grundwerte durch die EU-Eliten sind allenfalls Lippenbekenntnisse. Das empfinden zunehmend mehr Menschen auch in Deutschland, wo am Wochenende eine bürgerliche Partei gegründet wurde, deren Hauptziel der geordnete Austritt aus der Euro-Zone ist. Laut einer Umfrage können sich 25 Prozent der Befragten vorstellen, einer solchen Partei bei der Bundestagswahl ihre Stimme zu geben. Sie sehen hinter der scheinbar so fürsorglichen Fassade, was die Troika tatsächlich antreibt: Es sind die Interessen der internationalen Bankenkartelle.

Im Gegensatz zu den Europäern sind die Lateinamerikaner mit der hyänenhaften Natur internationaler Bank­institute besser vertraut. Während des sogenannten verlorenen Jahrzehnts der 80er und der turbulenten ersten Hälfte der 90er Jahre wurden viele Volkswirtschaften der Region in einen Krisenstrudel gerissen, ökonomisch, sozial und am Ende auch kulturell ausgeblutet. Es war der tödliche, dem Kapitalismus anhaftende Cocktail aus Machtmißbrauch und Finanzbetrug, politischer Unfähigkeit und Korruption, der dies beförderte. Und alles geschah unter dem wachsamen Auge des IWF, der diese Entwicklungen zugunsten des globalen Bankenkartells gefördert hat. Der gleiche IWF führt heute als eines der drei Zugpferde der Troika die Plünderung Europas zugunsten seiner alten Klientel an.

Im Jahr 1994 erreichte die jahrzehntelange Mißwirtschaft in Lateinamerika mit der sogenannten mexikanischen Tequila-Krise einen Höhepunkt. Und die hätte den EU-Eliten sehr wohl als Unwetterwarnung für die Finanzorkane auf dem alten Kontinent dienen können. Doch wie in Lateinamerika schwammen auch in Europa die Verantwortlichen lieber auf den Wogen leichten Geldes mit. Jetzt, wo diese Pläne an gigantischen Schuldenklippen zu zerschellen drohen, soll die einfache Bevölkerung die Zeche zahlen. Das wird sie auf Jahrzehnte in eine soziale Misere stürzen, vergleichbar allenfalls mit Zeiten nach einem verlorenen Krieg. Die Blaupause dafür liefert Mexiko.

Der einst aufstrebenden und als Hoffnung für alle Schwellen- und Entwicklungsländer geltende Staat ist seit fast 20 Jahren in einer ökonomischen und sozialen Abwärtsspirale gefangen. Ende der 1980er Jahre und in den frühen neunziger Jahren setzte die Zentralbank auf eine Niedrigzinspolitik. Die zog eine Welle von ausländischem spekulativem Kapital – vor allem aus den USA – an. Die Folgen: Mit zinsgünstigem Geld im Überfluß lockerten die Banken des Landes – ähnlich wie später in Spanien, Portugal, Irland, Italien oder Griechenland nach der Euro-Einführung – ihre Risikostandards bei der Kreditvergabe gravierend. Von der internationalen Finanzpresse wurde das seinerzeit enthusiastisch begrüßt. Das ach so spektakuläre, auf rasant wachsenden Schuldenbergen fundierende Wirtschaftswachstum feierten sie sogar als das »mexikanische Wunder«. Je mehr US-Dollar von niedrigen Zinsen, billigen Löhnen und saftigen Gewinnen angelockt wurden, desto höher stiegen die Aktien im Lande und desto leichter wurde es für Unternehmen und die Regierung, scheinbar unbegrenzte Summen von Dollar zu leihen.

Wie alle Finanzblasen löste sich auch das »mexikanische Wunder« 1994 in heiße Luft auf. Ausgelöst von Ängsten über die politische Zukunft des Landes begann die panikartige Flucht des ausländischen Kapitals. Innerhalb weniger Monate verlor der Peso gegenüber dem US-Dollar zwei Drittel seines Wertes. Zugleich fielen die Preise für Aktien und Immobilien in den Keller. Der Kollaps des mexikanischen Bankensystems war nur noch eine Frage von Monaten.

Dennoch war bis dahin alles mehr oder weniger normal verlaufen, eben wie bei jeder anderen »geplatzen« Finanzblasen auch. Die nächsten, von Washington und dem IWF unternommenen Schritte indes sollten sich als tödlich für Mexiko und als fatale Blaupause für das erweisen, was derzeit in Europa abgeht.

An der Wall Street herrschte damals Panikstimmung, Finanzzocker fürchteten sich vor den Auswirkungen der Tequila-Krise auf die US-Banken und um deren gigantische, in Mexiko investierte Summen. Hastig stellte die mit dem US-Finanzsystem besonders eng verbandelte Administration des Präsidenten William (»Bill«) Clinton ein riesiges Rettungspaket bereit – das war man Mexiko schließlich als guter Nachbar schuldig. Neben Milliardenzahlungen von der US-Regierung bekam Mexiko 27 Milliarden Dollar vom IWF und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Genau wie heute bei den EU-Rettungsaktionen wurden schon damals die »Hilfsgelder« schleunigst über das Empfängerland (hier Mexiko) wieder zurück in das US-Bankensystem geleitet. Die dortigen Geldhäuser bekamen fast ihr gesamtes, in Mexiko investiertes Risikokapital zurück. Es war der Beginn des postmodernen Finanzkapitalismus, dessen (ökonomisch zerstörerisches) Motto lautet: »Kein Risiko, nur Gewinne«.

Das Beispiel Mexiko hat Schule gemacht, auch in der EU. Bankverluste werden einfach im Rahmen von Staatsverträgen den kleinen Leuten der Krisenländer aufgezwungen.

Laut jüngsten Schätzungen ist die Kaufkraft des durchschnittlichen Mindestlohnempfängers in Mexiko zwischen 1976 und 2000 um 74 Prozent (!) gefallen. In den zurückliegenden zwölf Jahren »stieg« sie dann wieder: Insgesamt um 0,5 Prozent. Die große Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung lebt demnach heute auf einem Standard, der fast drei Viertel unter dem Niveau von 1976 liegt. Auch die einstige Mittelschicht des zum Drogenstaat verkommenen Landes ist dezimiert. Einzige Konstante 19 Jahre nach Beginn der »Tequila-Krise« ist die alljährlichen Zinszahlung von drei Milliarden Dollar für das »Rettungspaket«.

* Aus: junge Welt, 16. April 2013


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