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Landschaft mit Scherben

In Vilnius ist die EU-Strategie zur Ukraine gescheitert. Jetzt wartet Brüssel

Von Reinhard Lauterbach *

Die EU hat mit dem Verlauf des Gipfels von Vilnius, um in der Sprache des Schachspiels zu sprechen, einen entscheidenden Tempoverlust erlitten. Erstmals hat ein anvisiertes Partnerland ihr in letzter Minute die kalte Schulter gezeigt. Der Nimbus der Unwiderstehlichkeit hat zumindest einen dicken Riß bekommen. Daran ändern auch die Assoziierungsabkommen mit Moldawien und Georgien nichts, die in Vilnius mit viel zu großem Tamtam gefeiert wurden. Die Paraphierung dieser Vereinbarungen ist lediglich der technische Abschluß der Verhandlungsprozesse auf Arbeitsebene. Die politische Entscheidung, ob der so ausgehandelte Vertrag unterzeichnet und ratifiziert werden soll, steht in beiden Fällen noch aus.

In Georgien mehren sich inzwischen kritische Stimmen, ob die EU-Assoziierung, ein noch von dem inzwischen abgewählten Präsidenten Michail Saakaschwili initiiertes Projekt, wirklich den wohlverstandenen Interessen des Landes dient. Denn Georgiens östlicher Nachbar Aserbaidschan war an einer EU-Assoziierung nie interessiert, und das südlich angrenzende Armenien hat im September die alternative Option des Beitritts zur russisch-belarussisch-kasachischen Zollunion gewählt. Was hätte Georgien, vom nächsten EU-Land durch über tausend Kilometer Schwarzes Meer getrennt, davon, nun Zollgrenzen und Abfertigungen nach EU-Standards einführen zu müssen? Moldawien, der ärmste Staat Europas, ist nach wie vor Gemüsegarten und Weinkeller Rußlands und von russischem Gas sowie den Überweisungen seiner dort oder im Süden der EU tätigen Arbeitsmigranten abhängig.

Doch zurück zur Ukraine. Die EU setzt jetzt ganz offensichtlich auf eine Phase des Abwartens: auf einen Machtwechsel in Kiew oder darauf, daß Rußland das Geld ausgeht, um das Land zu subventionieren. Ob die ukrainische Regierung regulär im Jahre 2015 wechselt oder ob die aktuellen Ereignisse dazu führen, daß »pro-europäische« Politiker schon vorher das Ruder übernehmen, ändert nichts an zwei Dingen: Erstens würde auch die ukrainische Opposition das Land in dem Zustand vorfinden, in dem es eben ist. Auf 160 Milliarden hat der Präsident Wiktor Janukowitsch die Anpassungskosten in Vilnius beziffert. Niemand in der EU hat dies in der Sache bezweifelt, man erklärte sich nur für nicht zuständig. Zweitens hat keiner der gegenwärtig aktiven ukrainischen Oppositionspolitiker eine Ahnung von Wirtschaft, die über Vulgärliberalismus hinausgeht. Die einzige, die sich da abhebt, ist die inhaftierte Julia Timoschenko. Aber die Art von Wirtschaft, mit der sich die wegen Amtsmißbrauchs verurteilte Exministerpräsidentin auskennt, ist nicht die, die die EU ihren Mitgliedern empfiehlt.

Polens für sein bisweilen undiplomatisches Mundwerk bekannter Außenminister Radoslaw Sikorski hat am Wochenende in einer Twitter-Nachricht gefragt, wie viele polnische Milliarden Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski – der ihn zu größerer Aktivität in Kiew aufgefordert hatte – denn in die korrupte ukrainische Wirtschaft pumpen wolle, um Janukowitsch aus der russischen Umarmung herauszukaufen. Sikorski hat damit unbeabsichtigt verraten, was die Verhandlungslinie der EU gegenüber der Ukraine gewesen ist: die Erwartung, daß ihr das Land früher oder später in den Schoß fallen werde wie eine faule Frucht. Das ist mittelfristig nicht auszuschließen. Denn angesichts sinkender oder stagnierender Weltmarktpreise für Öl und Gas könnte Rußland in einigen Jahren das Geld ausgehen, sich die Gunst der ukrainischen Führung zu erkaufen.

Es könnte aber auch ganz anders kommen. Schwedens Außenminister Carl Bildt, einer der Architekten der in Vilnius hart gelandeten »Östlichen Nachbarschaftspolitik«, hat gegenüber polnischen Zeitungen offiziell bestätigt, daß es Frankreich war, das EU-intern mit seinem Veto verhindert hat, daß in das Assoziierungsangebot der EU die Option einer Beitrittsperspektive für die Ukraine aufgenommen wurde. Diese Aussicht »dazuzugehören« aber war in allen Gesellschaften Osteuropas ein entscheidender Motivationsfaktor, mit dem die Bevölkerungen ruhig gehalten wurden, als die Regierungen in den 1990er Jahren die »harten Reformen« durchzogen. Frankreichs Veto ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß Angela Merkel vor einigen Jahren Nicolas Sarkozys Pläne einer Mittelmeerunion versenkt hat. Paris ist es offenbar leid, unter EU-Fahnen immer nur den deutschen Hinterhof in Osteuropa zu pflegen. Das könnte manche Hauptstadt im Westen und Süden der EU im stillen genauso sehen. Dann könnte auf die harte Landung der »östlichen Nachbarschaft« ein stilles Begräbnis folgen.

* Aus: junge Welt, Montag, 2. Dezember 2013


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