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Sturm vor dem Gipfel von Vilnius

Durch die vorläufige Absage der Ukraine erleidet das Partnerschaftsprojekt der EU einen herben Rückschlag

Von Manfred Schünemann *

Im litauischen Vilnius beginnt am Donnerstag das Treffen von Staats- und Regierungschefs zur »Östlichen Partnerschaft« der EU. Nicht erst auf dem Gipfel, sondern schon davor brach ein Sturm los.

Der Gipfel der Östlichen EU-Partnerschaft in der litauischen Hauptstadt Vilnius – am Donnerstag und Freitag dieser Woche – hätte ein besonderer werden sollen: Die Staats- und Regierungschefs der EU wollten die vertragliche Ausgestaltung der Beziehungen zu den »Partnern« im Osten weitgehend abschließen. Allerdings war längst absehbar, dass es dazu nicht kommen würde. Nur die Verträge mit Georgien und der Republik Moldau sind ausgehandelt und können paraphiert werden. Armenien entschied sich im September offiziell für einen Beitritt zur Zollunion mit Russland, im Fall Aserbaidshans stocken die Verhandlungen, mit Belarus und seinem ungeliebten Präsidenten Alexander Lukaschenko wurde noch gar nicht verhandelt.

Im Falle einer Unterzeichnung des Assoziierungs- und Freihandelsabkommens mit der Ukraine, dem größten der sechs Partnerstaaten, wäre der Gipfel dennoch zum großen Erfolg erklärt worden. Doch eine Woche vorher verkündete die Regierung in Kiew überraschend den Beschluss, »im Interesse der nationalen Sicherheit der Ukraine die Vorbereitungen zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU zu stoppen«. Das ganze Partnerschaftsprojekt hat dadurch einen herben Rückschlag erlitten, auch wenn der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch in Vilnius erklären wird, dass sein Land weiter den strategischen Kurs der »europäischen Orientierung« verfolgen werde. Selbst wenn er das Abkommen in letzter Minute doch noch unterzeichnen sollte – der Kiewer Regierungsbeschluss hat in der EU die Zweifel an der Berechenbarkeit und der Zuverlässigkeit der ukrainischen Führung verstärkt, was die künftigen Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine beeinträchtigen wird.

Bei der Suche nach den Gründen für den Sinneswandel in Kiew waren sich ukrainische Opposition und Brüsseler Politik sofort einig: Schuldig seien die »wirtschaftliche Erpressung« durch Russland, die »imperiale Politik Wladimir Putins« und das Streben Janukowitschs nach Machterhalt über die Präsidentenwahlen im Jahre 2015 hinaus. Mit diesen Thesen versucht die Opposition derzeit, eine Protestbewegung nach dem Vorbild der »Orange Revolution« 2004/05 zu organisieren, um das Vorgehen der Regierung zu delegitimieren und die Präsidentenwahl auf die Frage »Für oder gegen Europa« zu reduzieren.

Ob das gelingt, ist fraglich. Große Kreise der Bevölkerung vertrauen weder der Regierung noch der Opposition. In der Kernfrage ukrainischer Politik seit Erlangung der Unabhängigkeit – dem Verhältnis zu Russland – bleibt das Land gespalten. Und die Sorge vor einer zu engen Bindung an die EU mit negativen Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung und die soziale Sicherheit ist durchaus verbreitet.

Letzteres vor allem begründet auch das – zumindest zeitweilige – Einfrieren der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU. Die wirtschaftliche Lage der Ukraine hat sich in diesem Jahr weiter verschlimmert. Bestenfalls wird 2013 mit einem »Nullwachstum« gerechnet, in der Industrieproduktion ist ein deutlicher Rückgang um etwa 6 Prozent zu erwarten. Das wachsende Außenhandelsdefizit – Ministerpräsident Mykola Asarow bezifferte die Verluste allein im laufenden Jahr auf etwa 2 Milliarden Dollar –, die Zahlungsverpflichtungen für russische Erdgaslieferungen und der Schuldendienst gegenüber internationalen Kreditgebern drängen die Ukraine an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Infolge des Assoziierungsabkommens käme es nach Berechnungen der Regierung zu weiteren Belastungen. In der Chemieindustrie wäre ein Produktionsrückgang um 19 Prozent, im Maschinenbau um 14, in der metallurgischen Industrie um 6 und im Bauwesen um 16 Prozent zu befürchten – mit entsprechenden Folgen für die Beschäftigungslage. Dem glaubt Kiew nur entgehen zu können, wenn es gelingt, die Außenhandelsverluste auszugleichen, die der Ukraine durch die Errichtung der EU-Zollaußengrenze entstehen würden. Darüber hinaus möchte man Russland eine Senkung des Gaspreises abhandeln und kurzfristig neue Kreditvereinbarungen über 10 bis 14 Milliarden Dollar abschließen.

Alle Vorschläge zur Regelung dieser Probleme vor Unterzeichnung des Abkommens wurden aber von der EU abgelehnt. Sie war nur bereit, zur Umsetzung des Assoziierungsabkommens etwa 610 Millionen Euro in Aussicht zu stellen, und verwies im Übrigen auf den Internationalen Währungsfonds. Der IWF aber knüpft die Kreditvergabe an Bedingungen, die Kiew nicht annehmen kann: Erhöhung der Gasverbraucherpreise um 30 Prozent, Reduzierung der Renten und Sozialausgaben ...

Dazu verknüpfte die EU das Abkommen an die Voraussetzung, dass die inhaftierte ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko freigelassen wird und zur medizinischen Behandlung nach Deutschland ausreisen kann. Eine Forderung, die Janukowitsch aus innenpolitischen Erwägungen und juristischen Gründen nicht erfüllen wollte.

Russland hat diese Situation offensichtlich genutzt, um seine außenpolitischen Interessen in der Region zu verfolgen. In Gesprächen mit Janukowitsch hatte Putin Ende Oktober, Anfang November weitgehende Zusagen in Sachen Erdgasabkommen, Regelung der Schuldenfrage und Bereitstellung neuer Kredite gemacht. Natürlich verknüpfte er damit die Erwartung, dass sich die Ukraine durch eine EU-Assoziierung nicht endgültig den Weg zur Mitarbeit in der geplanten Eurasischen Union verschließt und die Unterzeichnung des Abkommens hinausschiebt.

Deutlich wird daran, dass die EU ihre Politik der »Östlichen Partnerschaft« grundsätzlich überdenken müsste. Zwar richtete sich das Konzept nicht ausdrücklich gegen Russland, aber es war von Beginn an darauf ausgerichtet, die neuen »Partner« von Russland fernzuhalten. Deutlich wurden sie aufgefordert, sich für »Europa« und gegen Putins Konzept einer Eurasischen Union zu entscheiden. Die Idee einer parallelen Partnerschaft mit der EU und mit Russland, wie sie die ukrainische Regierung immer wieder ins Spiel brachte, stieß auf strikte Ablehnung. Und dies ungeachtet der wirtschaftlichen Verknüpfungen und der engen kulturell-geistigen Beziehungen großer Teile der ukrainischen Bevölkerung zu Russland. Für die gesamte Region wäre es von Vorteil, wenn jetzt die Chance genutzt würde, einen Beziehungsrahmen für die »Östliche Partnerschaft« zu finden, der die Partner nicht in Gegensatz zu Russland bringt, sondern Russland einbezieht.

Das innen- und außenpolitische Ringen um den Platz der Ukraine in diesem Beziehungsgeflecht wird jedenfalls mit dem Vilnius-Gipfel nicht enden.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 28. November 2013


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