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Präsidentschaft zwischen Protz und Ignoranz

Ungarns Kurs an EU-Spitze stark von Innenpolitik beeinflusst

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Am 1. Januar 2011 übernimmt Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft. Die Regierung in Budapest hat dafür vier Prioritäten angekündigt.

Im Vordergrund der ungarischen Ratspräsidentschaft stehen, wie könnte es gegenwärtig anders sein, wirtschaftliche Fragen. Dazu gehört die Umsetzung der neuen Strategie für Wachstum und Arbeitsplätze mit dem fantasiereichen Namen »EU 2020«. Hinzu kommen wohlbekannte Pflichtthemen wie die Überwindung der Folgen der Wirtschaftskrise und selbstverständlich auch die Planung des neuen langfristigen EU-Budgets.

Das zweite zentrale Anliegen trägt den Namen »Stärkeres Europa« und zielt auf die Umgestaltung der gemeinsamen Agrarpolitik, die Energiefrage und das wirtschaftliche Aufrücken schwächerer Mitgliedsländer ab. Ein dritter Hauptpunkt steht unter dem Motto »Bürgerfreundliche EU«. Was darunter zu verstehen ist, findet sich auch auf dem Internetportal des ungarischen Außenministeriums: Die EU müsse sich mit Fragen, die die europäischen Bürger unmittelbar betreffen, beschäftigen. Deshalb sollen, so die Mitteilung, die Umsetzung des Stockholmer Programms für die gemeinsame Innen- und Sicherheitspolitik weitergeführt, der Schengenraum erweitert, die Grundrechte gestärkt und, als wichtigster Punkt, die Aufmerksamkeit auf die kulturelle Vielfarbigkeit Europas gelenkt werden. Diese Sammlung von Gemeinplätzen ist leicht mit dem Gräuel zu erklären, das bei einer Regierung vorhanden sein muss, die im eigenen Land die Demokratie in vielen Bereichen brutal abgewürgt hat.

Als viertes steht die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik der EU auf der Prioritätenliste der ungarischen Ratspräsidentschaft. Ziele sind der Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit dem Nachbarland Kroatien und die Entwicklung von Integrationsperspektiven des Westbalkanraums überhaupt. Den außenpolitischen Fahrplan ergänzt Tamás Magyarics, Leiter des Ungarischen Instituts für Außenangelegenheiten, folgendermaßen: Ungarn sei aufgrund seiner Lage stark am Schicksal der sogenannten grauen Zone zwischen der EU und Russland, also an der Entwicklung in Belarus, der Ukraine, Moldova und außerdem an Aserbaidshan und Georgien interessiert. Zugleich biete die Ratspräsidentschaft aber auch die Gelegenheit, Bündnisse zwischen den mitteleuropäischen Ländern zu knüpfen, um gemeinsam dafür aufzutreten, dass die gegenwärtige EU-Agrarförderung beibehalten wird.

Hinzu komme die Absicht der ungarischen Regierung, den Schutz der Minderheitenrechte auf die europäische Ebene zu heben. Dieses Ansinnen Budapests kommt nicht von ungefähr, stellt doch der Umgang mit der Roma- und Sintibevölkerung das vielleicht größte und unlösbar scheinende Problem der ungarischen Gesellschaft dar. Die Ratspräsidentschaft soll offenkundig dazu genutzt werden, die Verantwortung für das immer drastischer werdende Vorgehen in »Zigeunerangelegenheiten« und die Zuständigkeit in diesem Politikbereich der EU zuzuschieben.

Aber Ungarn hat auch eigene Pläne. Grundlage jeder Europäisierung der »Romafrage« müsse, so lassen regierungsnahe Quellen ganz offiziell vernehmen, eine europaweite Erfassung der Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe sein. Dieses Projekt wollen die Ungarn 2011 im eigenen Land und im Rahmen der Ratspräsidentschaft vorantreiben.

Ihr endgültiges Programm für den EU-Vorsitz wird die Regierung allerdings erst im Januar zur ersten Sitzung des Rates für Allgemeine Angelegenheiten präsentieren. Auch die Finanzierung der Präsidentschaft ist noch fraglich. So hat man zum Beispiel für das turnusmäßige Außenministertreffen ein Budget von 90 000 Euro eingeplant, aus dem die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Transport von 30 bis 35 Delegationen, Sicherheitsmaßnahmen und Dolmetschertätigkeit wohl kaum zu decken sind. Auch hier offenbart sich die Haltung einer selbstgefälligen Regierung mit tiefer und kaum verhohlener Abneigung gegenüber der EU. Eine weitere Ironie der Sache ist, dass der ehrgeizige Ratspräsidentschaftskalender trotz Geldmangels rund ein halbes Dutzend inländische Veranstaltungen in Ungarn vorsieht. Bekannt ist, dass Dänemark in einem Jahr aus Kostengründen nur halb so viele Veranstaltungen plant.

Viel intensiver als das liebe Geld beschäftigt die ungarische Regierung unterdessen ein innenpolitisches Problem. Zu den Albträumen jeder Regierung gehört, dass während ihrer Ratspräsidentschaft Streiks, Demonstrationen und innere Konflikte die Aufmerksamkeit der Medien von den offiziellen Veranstaltungen ablenken. Daher kündigte Ministerpräsident Viktor Orbán eine »pax presidentiae« an. Wenn es nach ihm geht, soll das innenpolitische Leben für die nächsten sechs Monate faktisch ausgesetzt werden, auf dass man »in gegenseitiger Umarmung« für die Ratspräsidentschaft arbeiten könne.

Orbán hat, seit er mit seiner Partei vor einem halben Jahr die Zweidrittelmehrheit im Parlament eroberte, eine Politik des systematischen Abwürgens der zentralen demokratischen Kontrollmechanismen verfolgt und alle staatlichen und staatsnahen Posten mit seinen Leuten besetzt. Statt mit der Korruption aufzuräumen, hat er sie durch die Gesetzgebung im wahrsten Sinne des Wortes legalisiert, auf allen Ebenen des Alltagslebens herrscht offener Nepotismus. Und er scheint die Provokationen nicht lassen zu können. Eine neue Verfassung, die allein nach dem Geschmack eines einzigen nationalistisch-klerikalen Parteibündnisses geschrieben wird und ohne Volksabstimmung in Kraft treten soll, ist für März nächsten Jahres angekündigt. Über das ebenfalls zum Frühjahr angekündigte wirtschaftliche Reformpaket gibt es bislang indes keinerlei Informationen.

Das Stichwort: EU-Ratspräsidentschaft

Die turnusmäßige Ratspräsidentschaft der EU hat nichts mit dem Europäischen Rat, den EU-Gipfeln, zu tun. Unter dem Rat versteht der Lissabon-Vertrag das, was gemeinhin Ministerrat genannt wird. Im Rat/Ministerrat sitzen die Ressortminister der Mitgliedsregierungen. Der Vorsitz in diesem Gremium wechselt alle sechs Monate. Er wird vom jeweiligen Ressortchef des Landes wahrgenommen, das die Ratspräsidentschaft innehat. Ausgenommen ist der Rat der Außenminister – diesem sitzt die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton vor. (ND)



* Aus: Neues Deutschland, 30. Dezember 2010


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