Rüge und Lob für Türkei
Ankara: Bisher Brüssels "objektivster" Bericht
Von Olaf Standke *
Es hätte schlimmer kommen können. Der gestern (14. Okt.) in Brüssel vorgestellte
Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission über die
EU-Beitrittskandidaten beklagt zwar das mangelhafte Reformtempo,
Menschenrechtsverletzungen oder wie beim Umgang mit dem Medienkonzern
Dogan mangelnde Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und erwartet von
Ankara endlich die Öffnung türkischer See- und Flughäfen für das
EU-Mitgliedsland Zypern. Allein der letzte Punkt blockiert acht der 33
Verhandlungskapitel. Doch obwohl die Frist für diese Forderung zum
Jahresende ausläuft, verkneift sich Brüssel mögliche Sanktionen. Man
will die laufende Friedensvermittlung zur Wiedervereinigung Zyperns
nicht gefährden. Seit 1974 hält die Türkei den Nordteil der
Mittelmeerinsel besetzt. Die Regierung Erdogan allerdings will den
teuren Konflikt durchaus begraben, um so auch die Chancen für eine
EU-Aufnahme zu erhöhen.
Da dürften die Worte einer Experten-Gruppe um Friedensnobelpreisträger
Martti Ahtisaari in Ankara Aufmerksamkeit finden: Nicht nur, dass die
Türkei endlich direkten Kontakt mit Nikosia aufnehmen müsse, auch Zypern
solle die Blockade wichtiger Bereiche der Beitrittsgespräche aufgeben.
Zumal diese Strategie »von großen EU-Mächten ausgenutzt« werde. Und die
EU müsse sich strikt an die Verträge halten. Das heißt: Ziel der 2005
offiziell begonnenen Verhandlungen ist die Vollmitgliedschaft in der
Union. Varianten wie die von Bundeskanzlerin Merkel favorisierte
»privilegierte Partnerschaft« seien ein »Vertrauensbruch gegenüber der
Türkei«. Paris etwa möchte das islamische Land lieber im Rahmen der
Mittelmeerunion an Europa binden.
Den neuen Beitrittsbericht hat die türkische Regierung gestern begrüßt.
Es sei der »bislang objektivste«, sagte Verhandlungsführer Egemen Bagis
und dachte dabei wohl an die zugestandenen Fortschritte im Bereich
Justiz, in den zivil-militärischen Beziehungen und bei den
Minderheitenrechten. Die EU-Kommission bewertet die außenpolitische
Rolle Ankaras im Nahost- sowie im Kaukasus-Konflikt und die
Normalisierung der Beziehungen zu Armenien positiv. Man sei sich der
Probleme natürlich bewusst, so Europaminister Bagis, und ernsthaft
bemüht, diese zu lösen.
Wenn die für den EU-Beitritt nötigen Reformen verwirklicht seien, werde
die Türkei ein völlig anderes Land sein, erklärte Präsident Abdullah Gül
jetzt. »Vielleicht wird diese Türkei dann die Zweifel der Franzosen und
anderer überwinden. Oder die Türken wollen vielleicht Europa nicht mehr.«
* Aus: Neues Deutschland, 15. Oktober 2009
"Die Menschenrechtsfragen werden nur vorgeschoben"
Linke kritisiert Vorgaben und Vorgehen der EU bei Erweiterung **
Am Mittwoch (14. Okt.) hat die EU-Kommission die Fortschrittsberichte zu
den Erweiterungsverhandlungen mit der Türkei, Kroatien und zur
Entwicklung in Mazedonien vorgelegt. Darin werden Ankara erneut Defizite
bei der Pressefreiheit und bei Bürgerrechten vorgeworfen, die
Balkanländer werden wegen Korruption kritisiert. Mit
Sabine
Lösing, Europaabgeordnete der LINKEN und Mitglied im Auswärtigen
Ausschuss, sprach für das "Neue Deutschland" (ND)
Uwe Sattler
über die EU-Erweiterung.
ND: Seit vier Jahren verhandelt die EU mit der Türkei über einen
Beitritt. Nach der jetzt erneut erteilten Rüge an Ankara scheint eine
Aufnahme in weiter Ferne zu liegen.
Lösing: Ich denke, dass von konservativer Seite gerade im Fall der
Türkei kaum die Bereitschaft zur Aufnahme existiert. Das hängt sicher
damit zusammen, dass die Türkei durch ihre Bevölkerungsgröße ein
erhebliches Stimmengewicht und damit starken Einfluss in der EU erhalten
würde. Vorausgesetzt natürlich, der Lissaboner Vertrag, der eine solche
Stimmengewichtung nach Bevölkerungszahl vorsieht, tritt in Kraft. Die
Menschenrechtsfragen werden, wie oft in der EU, nur vorgeschoben.
Die Linke ist für die Aufnahme der Türkei in die EU?
Die europäische Linke ist für Verhandlungen mit Ankara. Diese Position
ist auch mit der Linken in der Türkei und insbesondere unter den Kurden
abgestimmt. Wir hoffen, dass die Beitrittsverhandlungen vor allem in den
Kurdengebieten Demokratisierungseffekte haben.
Ist das nicht illusorisch? Schließlich hat Brüssel Ankaras
Minderheitenpolitik seit Jahren gerügt, außer symbolischen Maßnahmen ist
jedoch nichts passiert.
Trotzdem muss man diese Verhandlungen als Chance begreifen und führen,
aber ergebnisoffen. Mit Portugal, Spanien und Griechenland haben wir
schließlich auch EU-Mitglieder, die Diktaturen waren und sich geändert
haben.
Die Kritik an den Balkanstaaten fällt deutlich milder aus. Werden
Kroatien und Mazedonien in absehbarer zur EU gehören?
In absehbarer Zeit vermutlich nicht, da gibt es doch noch Nachholbedarf.
Für uns als Linke stellen sich aber gerade in diesem Zusammenhang immer
die Fragen: Was hat die EU vor, wo will sie profitieren, welche
Bestandteile haben die Abkommen? So lehnen wir ab, dass biometrische
Pässe Bedingung für Visaerleichterungen mit den Balkanstaaten sind. Denn
diese Pässe lehnen wir grundsätzlich ab. Und wenn es in den
Beitrittsverhandlungen vorrangig um die Abwehr von Flüchtlingen geht,
können wir diese nur ablehnen.
Sie haben von Vorteilen für die EU gesprochen. Ist es nicht
problematisch, dass eine Seite in der Bringepflicht steht und die andere
profitiert?
Das wird von uns auch kritisiert. Auch, weil Vorgaben gemacht werden,
die die EU selbst nicht erfüllt. Wenn man die fehlende Pressefreiheit in
der Türkei kritisiert, sollte man auch sagen, dass wir im
Europaparlament jetzt gegen den Widerstand der Konservativen beschlossen
haben, dass die mangelnde Pressefreiheit in Italien Thema einer Sitzung
sein wird.
Vor knapp zwei Wochen haben die Iren Ja zum Lissabon-Vertrag gesagt, der
von EU-Kommission und Rat wegen seiner administrativen Veränderungen
immer als Voraussetzung für weitere Aufnahmen charakterisiert wird. Ohne
»Lissabon« keine Erweiterung?
Das ist nicht so. Denn dann hätten wir ja auch früher keine
Erweiterungsrunden gehabt.
Hintergrund - Erweiterung der Europäischen Union
Die Europäische Union zählt derzeit 27 Mitgliedsstaaten. Neben den sechs
Gründerstaaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und
die Niederlande) traten im Laufe der Jahre 21 weitere Staaten bei. Mit
der deutschen Vereinigung wurde 1990 faktisch auch die DDR »EU-Mitglied«.
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Erste Erweiterung (1973): Dänemark, Irland und Großbritannien werden
Mitglieder der Gemeinschaft.
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Zweite Erweiterung (1981): Griechenland tritt bei.
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Dritte Erweiterung (1986): Spanien und Portugal werden aufgenommen.
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Vierte Erweiterung (1995): Finnland, Österreich und Schweden werden
Mitglieder.
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Fünfte Erweiterung (2004): Aufnahme von Estland, Lettland, Litauen,
Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Tschechische Republik und
Zypern in die EU.
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Sechste Erweiterung (2007): Bulgarien und Rumänien treten bei.
Die ehemaligen jugoslawischen Republiken Mazedonien, Kroatien und die
Türkei haben den Status von Kandidatenländern. Die Verhandlungen mit
Kroatien und mit der Türkei wurden am 3. Oktober 2005 eröffnet.
Die am Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess beteiligten westlichen
Balkanländer haben den Status potenzieller Anwärter auf einen Beitritt.
Neben den Republiken Mazedonien und Kroatien, die Kandidatenländer sind,
handelt es sich dabei um Albanien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro
und Serbien einschließlich Kosovo im Sinne der
Resolution
1244 des UN-Sicherheitsrats. (ND)
** Aus: Neues Deutschland, 15. Oktober 2009
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