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Den Panikmachern nicht auf den Leim gehen

Was die griechische Staatsschuldenkrise für die deutschen und europäischen Staatsfinanzen wirklich bedeutet

Von Achim Truger *

Es sind phantastische Zeiten für die Marktradikalen in Politik, Medien und Wissenschaft. Neuerdings reicht ihnen ein einziges Wort, um Deregulierung, Entstaatlichung und Privatisierung weiter voranzutreiben: »Griechenland«. Angesichts des dort drohenden Staatsbankrotts, der drakonischen Sparmaßnahmen und der dramatischen ökonomischen und sozialen Folgen sind selbst hierzulande viele bereits in panische Angst vor der Staatsverschuldung verfallen.

Mit dieser Angst lässt sich die markradikale Agenda fast überall in Europa munter umsetzen: Kürzungen bei öffentlichen Gütern und Leistungen, bei Arbeitslosenunterstützung, Mindestlöhnen, Renten, Löhnen im öffentlichen Sektor, Abbau öffentlicher Beschäftigung, Heraufsetzung des Rentenalters, Privatisierungen etc. Auch in Deutschland wagt kaum noch jemand, an der »Schuldenbremse« zu zweifeln, und der Widerstand gegen die erneuten Kürzungen in den öffentlichen Haushalten ist gering, obwohl sie oftmals schmerzhafte Einschnitte bedeuten.

Dabei waren es die Staaten, die in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008/2009 Großes geleistet haben. Als der ungezügelte, deregulierte Finanzkapitalismus, mitsamt der angeblichen Weisheit der Finanzmärkte und Ratingagenturen grandios versagte, sprangen die Staaten fast überall in der Welt in die Bresche und bewahrten die Wirtschaft mit Kredit finanzierten Programmen vor dem Fall ins Bodenlose. Bankenrettungspakete bewahrten die Finanzsysteme vor dem Kollaps, und Konjunkturpakete sowie sozialstaatliche Einrichtungen retteten zigtausende Unternehmen und Millionen von Arbeitsplätzen. So konnte eine Wiederholung der ökonomischen, sozialen und politischen Katastrophe der Großen Depression der 1930er Jahre verhindert werden. Dass nach einer solchen historischen Glanzleistung die Staaten nun ausgerechnet von den Finanzmärkten und Ratingagenturen als den großen Krisenversagern in die Enge getrieben werden, ist schon bittere Ironie.

Davon ganz abgesehen, ist die geschürte Hysterie gegenüber der Staatsverschuldung überhaupt nicht angebracht. Nach weithin akzeptierter Lehrmeinung sollten – gerade aus Gründen der viel bemühten Generationengerechtigkeit – öffentliche (Netto-)Investitionen in Infrastruktur, aber auch in Forschung und Bildung, durch Defizite finanziert werden. Ihr Nutzen in Form von höherem Wachstum und Einkommen fällt größtenteils erst in der Zukunft an, so dass es vernünftig und gerecht ist, spätere Generationen durch den Schuldendienst zu ihrer Finanzierung heranzuziehen. Zudem steht der Staat in der Verantwortung, die Wirtschaft durch Defizit finanzierte Ausgaben zu stabilisieren, eine Aufgabe, deren Bedeutung sich in der jüngsten Krise eindrucksvoll gezeigt hat.

Aber ist das angesichts der Entwicklung in Griechenland – und jüngst Italien – nicht rein akademisch? Droht Deutschland nicht über kurz oder lang die Überschuldung, wenn jetzt nicht entschlossen gespart und kürzt wird? Das ist extrem unwahrscheinlich. Ob ein Staat seine Schulden auch langfristig bedienen kann, hängt vom erwarteten Wirtschaftswachstum, der Höhe des Schuldenstandes, dem darauf zu entrichtenden Zinssatz und von der aktuellen und erwarteten Defizitsituation ab. Diesbezüglich trennen Deutschland und Griechenland derzeit Welten: Deutschland erholt sich überraschend gut von der Krise, Griechenland ist – gerade wegen der Sparpolitik – in einer hartnäckigen Rezession gefangen. Das griechische Budgetdefizit dürfte 2011 bei über zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Schuldenstandsquote bei über 150 Prozent liegen; in Deutschland werden es nur etwas mehr als ein Prozent bzw. gut 80 Prozent sein. Schließlich müsste der griechische Staat wegen der hohen Risikoprämien am Markt aktuell Zinssätze von über 15 Prozent bezahlen, selbst in den Rettungsprogrammen sind es noch fünf Prozent. Der deutsche Staat leiht sich sein Geld für um die drei Prozent.

So unwahrscheinlich sie ist, gänzlich ausgeschlossen ist eine Schuldenkrise auch in Deutschland nicht. Das zeigen Länder wie Spanien und Irland, deren Staatsfinanzen vor der Krise über jeden Zweifel erhaben schienen und die nun aufgrund geänderter Erwartungen, vor allem aber gezielter Spekulation auf den Finanzmärkten, in die Enge getrieben werden. Es ist ein Spiel mit sich selbst erfüllenden Erwartungen: Steigende Risikoprämien führen zu höheren Zinszahlungen und Defiziten, die eingeleitete Sparpolitik mindert das Wachstum, was den Zweifeln an der Zahlungsfähigkeit neue Nahrung liefert.

Davor kann man sich mit einer Verschärfung der Sparpolitik in Deutschland und Europa gerade nicht retten. Dagegen helfen nur eine entschlossene Reregulierung der Finanzmärkte, die den Spekulanten das Handwerk legt und eine europaweit abgestimmte Finanz- und Wirtschaftspolitik, um die Wachstumsaussichten für ganz Europa zu erhöhen. Es wird höchste Zeit, dass die richtigen Lehren aus der Krise gezogen werden.

* Dr. Achim Truger ist Leiter des Referats Steuer- und Finanzpolitik im Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf.

Aus: Neues Deutschland, 13. Juli 2011



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