Europäische Streikunion
Gewerkschaften machen mobil: Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen gegen Sozialabbau, Entlassungen, Lohn- und Rentenkürzungen in vielen EU-Ländern *
Als »historischen Moment in der europäischen Gewerkschaftsbewegung« hat der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) die Proteste vom Mittwoch gegen die von EU und Internationalem Währungsfonds verordnete sozialfeindliche Kürzungspolitik bezeichnet. Millionen Beschäftigte in etlichen Ländern traten in den Streik oder beteiligten sich an großen Demonstrationen. Zur Arbeitsniederlegung hatten Gewerkschaften in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Belgien aufgerufen. Beschäftigte des belgischen Bahnbetreibers SNCB hatten schon am Dienstag abend einen 24stündigen Streik begonnen. Der Hochgeschwindigkeitszug Thalys zwischen Deutschland und Belgien verkehrte nicht. Auch in Frankreich gingen mehr als zehntausend Menschen gegen die Kürzungsmaßnahmen auf die Straße.
Portugal: Verarmung stoppen
»Streikt! Für uns und für euch!« Die Parole des Tages wurde am Montag überall in Portugal befolgt. Das iberische Land erlebte eine der größten landesweiten Arbeitsniederlegungen seiner Geschichte. Dem Aufruf der größten Gewerkschaftszentrale, der kommunistisch beeinflußten CGTP-Intersindical, hatten sich neben unabhängigen auch Dutzende Einzelgewerkschaften der den Sozialisten nahestehenden UGT angeschlossen. Der Nah- und Fernverkehr mit Bussen, Bahnen oder Fähren kam fast vollständig zum Erliegen. In den großen Städten fiel die Müllabfuhr komplett aus. In den Krankenhäusern blieben lediglich die Notaufnahmen in Betrieb. CGTP-Generalsekretär Arménio Carlos hob den länderübergreifenden Charakter des Streiks hervor, der sich »gegen eine Politik der Zerstörung von Ökonomie und Beschäftigung, gegen Verarmung und Vertiefung der Ungleichheit« richte. Seit Beginn der Krise hat sich Portugals Arbeitslosenrate mehr als verdoppelt. Mit offiziell 15,8 Prozent hat sie einen absoluten Rekordstand erreicht. Premierminister Pedro Passos Coelho erklärte zum Streik, seine Regierung lasse sich davon nicht nervös machen und lobte alle Portugiesen, die am Montag ihrer Arbeit nachgingen.
Peter Steiniger
Spanien: Prügelnde Polizei
Der zweite Generalstreik in diesem Jahr hatte seit den frühen Morgenstunden weite Teile des öffentlichen Lebens in Spanien lahmgelegt. Während die Regierung eine geringe Beteiligung unterstellte, sprachen die Gewerkschaften von einer Streikteilnahme um die 80 Prozent. Seit den frühen Morgenstunden wurden in vielen Städten die Zufahrten zu Fabriken blockiert.
Fast alle Beschäftigten der Automobilfabriken von Seat und Nissan waren dem Streikaufruf gefolgt. Auch in der Schwerindustrie gab es eine breite Beteiligung. Der öffentliche Verkehr war nahezu lahmgelegt. Im Gesundheitswesen wurden nur Notfälle behandelt. Eine breite Beteiligung am Generalstreik gab es auch in Asturien. An der Demonstration am Mittag in Gijon nahmen laut Gewerkschaftsangaben 12000 Personen teil.
In ganz Spanien wurden am Mittwoch über 80 Demonstranten festgenommen, über 30 Menschen wurden bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften verletzt. In Valencia und Tarragona kam es am Vormittag zu brutalen Prügeleinsätzen der Polizei gegen Demonstrierende, ein zehnjähriger Junge wurde dabei am Kopf verletzt. Auch in Madrid ging die Polizei brutal gegen Streikende vor.
Carles Solà und Mela Theurer, Barcelona
Italien: Politik des Niedergangs
Mit Streiks, Protestaktionen und Großkundgebungen haben Gewerkschaften, Arbeitslose und Studenten in Italien massiv gegen die Kürzungspolitik der EU und der Regierung in Rom demonstriert. Zehntausende Menschen gingen in allen italienischen Großstädten auf die Straße. Die größte Gewerkschaft CGIL hatte zu einem vierstündigen Generalstreik aufgerufen. In Schulen und Verwaltungen wurde die Arbeit niedergelegt.
Die größte Protestkundgebung fand in Rom statt. Premierminister Mario Monti bekam zwei Tage vor dem ersten Jahrestag seines Amtsantritts schärfsten Widerstand zu spüren. Zehntausende Schüler, Studenten, Arbeitslose und Anhänger linksorientierter Parteien versammelten sich auf der zentralen Piazza della Repubblica. Sicherheitskräfte hinderten die Demonstranten, bis zum Regierungssitz zu gelangen. Die Chefin des stärksten italienischen Gewerkschaftsverbands CGIL, Susanna Camusso, beteiligte sich an einer Demonstration vor dem Stahlwerk des deutschen ThyssenKrupp-Konzerns in der Stadt Terni. »Ein Europa der Kürzungen führt zum Niedergang. Die gegenwärtige sogenannte Sanierungspolitik verarmt die EU-Länder und sorgt für eine riesige Welle der Arbeitslosigkeit. Italien stürzt immer tiefer in die Rezession«, so Camusso.
»Die Italiener haben bereits einen hohen Preis für die Krise gezahlt. Jetzt verlangen wir Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit«, betonten Anhänger der linken Gewerkschaft Cobas.
Zu Protesten kam es auch in Mailand, Florenz und Turin. Die Polizei setzte gegen die Demonstranten Tränengas ein.
Micaela Taroni, Rom
Griechenland: Vernetzen
Nach drei Generalstreiks in drei Monaten beteiligten sich die Gewerkschaften in Griechenland am gestrigen, vom Europäischen Gewerkschaftsbund initiierten »europäischen Aktionstag« nur mit einer dreistündigen Arbeitsniederlegung über Mittag. Gleichzeitig fanden in verschiedenen Städten Kundgebungen und Demonstrationen statt. Die kommunistisch orientierte Gewerkschaftsfront PAME hatte diesmal gänzlich auf einen eigenen Aufmarsch verzichtet. Sie rief ihre Mitgliedsorganisationen vielmehr dazu auf, den Ausstand »zu Versammlungen an so vielen Arbeitsstätten wie möglich« zu nutzen, um »die Erfahrungen aus den Kämpfen und die Zuspitzung des Kampfes gegen die arbeiterfeindlichen Maßnahmen und die Politik, die diese hervorbringt, zu diskutieren«.
Die der Linksallianz SYRIZA nahestehende Gewerkschaftsorganisation »Avtonomi Paremvasi« (Autonome Intervention) betonte die Wichtigkeit einer internationalen Vernetzung des Widerstands. Dem europäischen Aktionstag hätte ein entsprechendes politisches Gewicht verliehen werden müssen, kritisierte die linke Gewerkschaftsorganisation die Entscheidung zum Kurzstreik. »Die Beschränkung der Mobilisierung auf eine dreistündige Arbeitsniederlegung, das Fehlen politischer und organisatorischer Vorbereitung zeigen, daß die Führungen der Gewerkschaftsdachverbände nicht einmal jetzt begreifen, daß über den Wert der Entwicklung der gesellschaftlichen Kämpfe auf nationaler Ebene hinaus der Vereinigung der Kämpfe auf europäischer Ebene ein besonderes politisches Gewicht zukommt.«
Heike Schrader, Athen
* Aus: junge Welt, Donnerstag, 15. November 2012
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