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Pokerspiel um Spitzenjobs

Sondergipfel entscheidet über künftige Repräsentanten der Europäischen Union / In Brüssel will EU Ratspräsident und »Außenminister« benennen

Von Uwe Sattler *

Ratspräsident und »Außenminister« - über die Besetzung dieser mit dem Lissabon-Vertrag eingeführten Posten entscheiden heute die Staats- und Regierungschefs. Dabei prallen unterschiedliche Interessen aufeinander.

Sondergipfel der EU haben ihre eigenen Regeln. Insbesondere, was den Zeitplan anbelangt. Für das Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs am heutigen Donnerstag versuchte die schwedische Ratspräsidentschaft erst gar nicht, konkrete Termine zu benennen. Sicher ist nur, dass sich die Runde am Abend zum Arbeitsessen im Brüsseler Justus-Lipsius-Bau einfinden wird. Entschieden wird dabei über die Besetzung der beiden künftigen Spitzenjobs in der EU - des ständigen Ratspräsidenten und des »Außenministers«.

Letzte Meldung: Herman Van Rompuy und Catherine Ashton machen das Rennen

Bei dem EU-Sondergipfel in Brüssel hat der schwedische Vorsitz den belgischen Ministerpräsidenten Herman Van Rompuy für den Posten des ständigen Ratspräsidenten vorgeschlagen. Das sagte Van Rompuys Sprecher Dirk De Backer. Seine Ernennung und die der als "EU-Außenministerin" vorgeschlagenen Britin Catherine Ashton "scheint sichergestellt", sagte ein hochrangiger Diplomat. Demnach verständigten sich die großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien am 19. Nov. auf die beiden Kandidaten.
Die Staats- und Regierungschefs wollten bei einem Abendessen in Brüssel über beiden neuen Spitzenposten sprechen, die der Vertrag von Lissabon zum 1. Dezember schafft. Der Präsident des Europäischen Rats wird in den kommenden zweieinhalb Jahren die Gipfel der EU leiten und der Hohe Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik wird die EU als "Außenminister" vertreten.
Agenturmeldungen, 19. November 2009



Dass lange verhandelt und es dabei hart zur Sache gehen wird, bezweifelt niemand. Zumal es kaum Gelegenheit für Sondierungen gegeben hatte. Noch auf der Abschlusspressekonferenz des regulären Gipfels vor gut zwei Wochen hatte der amtierende EU-Ratspräsident Fredrik Reinfeldt, Schwedens Premier, betont, es sei nicht über Namen gesprochen worden. Das mag zwar wenig glaubhaft sein; wie kompliziert Personalentscheidungen in der EU jedoch sind, zeigt die Tatsache, dass der ersten Nominierung des inzwischen wiedergewählten EU-Kommissionschefs José Manuel Barroso im Jahr 2004 eine mehrwöchige Reisediplomatie der damaligen irischen EU-Präsidentschaft vorausging.

Den EU-Oberen sitzt die Zeit im Nacken. Nachdem die Iren Anfang Oktober im zweiten Anlauf dem Lissabon-Vertrag zugestimmt und die Staatschefs Polens und Tschechiens ihre Unterschrift unter das Abkommen gesetzt hatten, wird das Vertragswerk am 1. Dezember in Kraft treten. Als Neuerungen darin sind die Posten des künftig zwei Jahre amtierenden Ratspräsidenten und des »Hohen Beauftragten für die Außenpolitik« vorgesehen. Während der Präsident mehr Kontinuität in den bislang halbjährlich wechselnden Ratsvorsitz bringen soll (als Zwischenvariante war im Januar 2007 eine engere Abstimmung jeweils drei aufeinanderfolgender Präsidentschaften eingeführt worden), steht dem EU-»Außenminister« sogar ein eigener diplomatischer Dienst mit bis zu 8000 Beschäftigten zur Verfügung. Gerade für den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) waren in den vergangenen Wochen wichtige Entscheidungen getroffen worden. So stimmte das Europäische Parlament ebenso wie der Oktober-Gipfel den Leitlinien zu, auf dessen Basis der Hohe Vertreter »möglichst bald« nach Amtsantritt einen Vorschlag über Organisation und Arbeitsweise des EAD vorlegen soll.

Wer allerdings Europas Chefdiplomat werden soll, ist offen. Zwar gilt nach der Absage des britischen Außenministers David Miliband nun Italiens ehemaliger Außenminister Massimo D'Alema als Favorit, sicher ist seine Berufung jedoch keinesfalls. Einige osteuropäische Regierungen stoßen sich an D'Alemas früherer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Italiens. Zudem muss der EU-Außenminister nach dem ungeschriebenen Gesetz des Parteienproporzes zum Ratspräsidenten passen: Sollte der Gipfel aus dem gut einem halben Dutzend Kandidaten für den Ratspräsidenten einen Sozialdemokraten auswählen, müsste der Chefdiplomat zu den Konservativen gehören. Hinzu kommt die geografische Ausgewogenheit - Ost und West, Nord und Süd, kleinere und größere Staaten sollen sich möglichst von einem der beiden Spitzenvertreter repräsentiert sehen. Eine Ideallösung wird es nicht geben. Auch, weil in den vergangenen Wochen noch ein weiterer Aspekt auf den Tisch kam: »Ich würde mir für einen der beiden Spitzenposten eine Frau wünschen«, erklärte EU-Kommissionschef Barroso während des Oktober-Gipfels. Aber wer auch immer die EU führen wird - an ihrer Politik wird sich wohl nichts ändern.

Der EU-Ratspräsident

Der Präsident des Europäischen Rats sitzt der Versammlung der Staats- und Regierungschefs vor. Der neue Ratspräsident wird für zweieinhalb Jahre ernannt und kann einmal wiedergewählt werden. Chancen auf den Spitzenposten haben amtierende oder ehemalige Staats- oder Regierungschefs. Der Ratspräsident vertritt die EU nach außen, etwa bei Gipfeltreffen mit sogenannten Drittstaaten wie Russland oder China, und soll nach innen »Zusammenhalt und Konsens« fördern, wie es im Lissabon-Vertrag heißt. Der neue Ratspräsident tritt sein Amt mit Inkrafttreten des Vertrags zum 1. Dezember an.

Der bisher alle sechs Monate unter den EU-Staaten rotierende Ratsvorsitz wird für die Ministerräte - in denen die Fachminister der Mitgliedsländer beraten - dagegen beibehalten. Im kommenden Jahr haben Spanien und Belgien den rotierenden Vorsitz im Ministerrat.

Der Hohe Vertreter für die Außenpolitik

Der Hohe Vertreter fungiert als neuer »Außenminister« der EU. Ihm steht erstmals ein eigener diplomatischer Dienst mit bis zu 8000 Beamten zur Seite. Der Hohe Vertreter leitet die monatlichen Treffen der EU-Außenminister, zugleich ist er Vizepräsident der EU-Kommission. In dem neuen Amt fließen die bisherigen Posten des EU-Chefdiplomaten (Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik) und des EU-Kommissars für Außenpolitik zusammen. Bisher bekleideten diese Ämter der Spanier Javier Solana und die Österreicherin Benita Ferrero-Waldner. Die EU-Staaten wollen den Hohen Repräsentanten ebenfalls zum 1. Dezember einsetzen. Das Europaparlament dringt dagegen auf einen Amtsantritt frühestens im Februar, um den neuen Amtsinhaber gemeinsam mit den anderen neuen EU-Kommissaren im Januar anhören zu können. (ND)



* Aus: Neues Deutschland, 19. November 2009


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