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Spaltung der EU

Analyse. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder haben Maßnahmen zur Ausgestaltung des Euro-Raumes im Interesse des Finanzkapitals der europäischen Kernländer beschlossen

Von Andreas Wehr *

Manchmal ist die Tatsache, daß eine Tagung überhaupt stattfand, wichtiger als das, was auf ihr beschlossen wurde. Das gilt etwa für das Treffen der Staats- und Regierungschefs des Euro-Raums am 11. März 2011 in Brüssel. Dort wurde über die Strukturen des künftigen Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) und den Euro-Plus-Pakt entschieden. Nur wenige Tage später, am 24./25. März, folgte der obligatorische Frühjahrsgipfel aller EU-Staaten. Das höchste Gremium der EU hatte aber nur noch die 14 Tage zuvor von den Euro-Ländern gefaßten Grundsatzbeschlüsse abzunicken. Damit ist für jeden sichtbar: Die europäische Schuldenkrise verändert grundlegend den institutionellen Aufbau der EU. Was im Frühjahr 2010 mit den Entscheidungen über das »Rettungspaket« für Griechenland und mit der befristeten Einrichtung einer Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, dem sogenannten Rettungsschirm, begann, ist nun, mit dem Beschluß über den ESM und mit der Einrichtung eines Euro-Plus-Pakts in feste institutionelle Formen gebracht worden. Die 17 Euro-Staaten schaffen sich ihre eigenen Strukturen. Deren Aufbau und Kompetenzen werden aber nicht in den Europäischen Verträgen geregelt. In dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) wird lediglich eine Ermächtigung für dieses Vorgehen eingefügt.[1]

Deutsche Offensive

Seit Jahren wird darüber spekuliert, ob es eines Tages zu einer Spaltung zwischen Euro-Ländern und der übrigen EU kommen werde. Jetzt wird diese Spaltung Realität. Mit den Entscheidungen vom 11. März ist quasi eine zweite Union innerhalb und zugleich neben der EU entstanden. Für den britischen Economist steht fest, daß im März 2011 grundlegende Entscheidungen getroffen wurden: »Historiker können sich eines Tages an diese Woche als an jene erinnern, in der die Aufspaltung Europas begann.« Als traditionelles Organ des liberalen Freihandels befürchtet der Economist, daß mit den neuen Strukturen der Euro-Zone mehr »Dirigismus« und »Wirtschaftslenkung« Einzug halten werden. Keinen Zweifel läßt das Blatt daran, wem es dafür die Schuld gibt. Zugelassen habe dies die deutsche Kanzlerin Angela Merkel: »In der Vergangenheit hatte sie den Ideen von regelmäßigen Euro-Gipfeln genau so widerstanden, wie sie den Briten, Polen und Schweden zugesichert hatte, ihren Platz an diesem Tisch zu haben.« (»Can Angela Merkel hold Europe together?«, in: The Economist, 12.3.2011) Tatsächlich hatte Merkel in der Vergangenheit französischen Wünschen nach einer engeren Koordinierung der Euro-Länder oder gar einer Euro-Wirtschaftsregierung immer wieder eine klare Absage erteilt, so noch im Frühjahr 2009: »Eine verstärkte Koordinierung unter den 16 Euro-Staaten, wie sie Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy befürwortet, berge die Gefahr der Spaltung, warnt sie (Merkel). Und: ›Spaltungen in Europa sind mit mir nicht zu machen‹«. (»Im deutschen Interesse. Merkel lehnt europäische Wirtschaftsregierung ab. Grundsatzrede in der Humboldt-Universität«, in: Der Tagesspiegel vom 28.5.2009)

Und doch gibt es jetzt den auf die Euro-Länder beschränkten ESM und den Euro-Plus-Pakt, den man der besseren Optik wegen auch für Nicht- Euro-Länder geöffnet hat, ohne daß ihre Mitgliedschaft größere Verpflichtungen für sie mit sich bringt.[2]

Der Sinneswandel der Bundesregierung erklärt sich aus zwei Veränderungen. Zum einen hat Frankreich seine bisher an eine Wirtschaftsregierung der Euro-Zone geknüpften Forderungen aufgegeben. Keine Rede ist mehr von einer europäisch abgestimmten Lohnpolitik und von einem Abbau des hohen, andere Volkswirtschaften an den Rand drängenden deutschen Leistungsbilanzüberschusses. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) höhnte über diesen Richtungswechsel: »Bei aller Orientierungslosigkeit ist allerdings eine Lernkurve erkennbar. Denn in Frankreich wächst das Verständnis für das Machbare – gerade im Blick auf Deutschland. (…) Deutschland kann auch nicht von seinem exportorientierten Wirtschaftsmodell abgebracht werden. Die französische Grundsatzkritik daran erwies sich als Sackgasse und wird jetzt aus Regierungsmunde nicht mehr wiederholt.« (»Frankreichs Lernkurve«, in: FAZ vom 17.12.2010) Mehr noch: Längst ist Paris auf die deutsche Linie eingeschwenkt. Mit großer Entschlossenheit wurde im Herbst 2010 die Erhöhung des Renteneintrittsalters – gegen den erbitterten Widerstand von Gewerkschaften und den Parteien der Linken – durchgesetzt. Diese Niederlage der französischen Arbeiterbewegung in einer wichtigen Klassenauseinandersetzung hat die ganze Politik in Europa entscheidend verändert.

Erst diese veränderte Haltung des großen Nachbarlandes gestattet es der Bundesregierung, in der Euro-Krise in die Offensive gehen zu können. Es kann der nötige Druck aufgebaut werden, um die sozialen Verhältnisse in den widerspenstigen Ländern der europäischen Peripherie angreifen und neu organisieren zu können – und zwar nach deutschem Vorbild. Griechenland wurde das »Rettungspaket« nur unter der Bedingung gewährt, daß das Land erhebliche Einschnitte in sein soziales Netz, ganz ähnlich wie man es von der deutschen Agenda 2010 kennt, zuläßt. So verfuhr man auch mit Irland im Oktober 2010. Schon zuvor waren osteuropäische Staaten außerhalb der Eurozone, Lettland, Rumänien und Ungarn, auf Kurs gebracht worden. Mit Berlin wurde schließlich das »Reformpaket« abgestimmt, daß der spanische Ministerpräsident am 12. Mai 2010 im Parlament verkündete und das eine völlige Abkehr von seiner bis dahin moderaten sozialdemokratischen Politik bedeutet. Auch das jetzt Portugal auferlegte Programm folgt deutschen Vorgaben. Bei dem Treffen zwischen dem damaligen portugiesischen Ministerpräsidenten José Socrates und Angela Merkel in Berlin am 2. März 2011 wurden die Eckdaten dafür festgelegt.

Euro-Plus-Pakt

Mit der Vorlage eines »Pakts für Wettbewerbsfähigkeit«, der auf dem EU-Gipfel als »Euro-Plus-Pakt« verabschiedet wurde, ging die deutsche Bundesregierung einen großen Schritt weiter. Die Euro-Länder sollen fortan auf Dauer und verbindlich in das Prokrustesbett der Austeritätspolitik gezwungen werden. Die deutsche Europastrategie ist damit aus einer nur reagierenden Haltung zu einer offensiven imperialistischen Gestaltung des Raums übergegangen: »Aus der Währungsunion werde nur dann eine dauerhafte Haftungsgemeinschaft, wenn die Wirtschaftspolitik im Euro-Raum künftig deutschen Prinzipien folge, versprach Merkel. Ohne Zustimmung zu ihrem ›Wettbewerbspakt‹ gebe es keinen ewigen Krisenfonds.« (»Retter in Not«, in: FAZ vom 12.3.2011)

Auch unter dem neuen Namen geht es in diesem Pakt um die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Länder. Die soll vor allem, und dabei ganz dem deutschen Vorbild folgend, durch eine Absenkung der Lohnstückkosten erreicht werden. Dem dient die »Überprüfung der Lohnfindungsregelungen, namentlich des Grads der Zentralisierung im Verhandlungsprozeß, und erforderlichenfalls des Indexierungsverfahrens.« Gefordert wird die »Sicherstellung, daß die Lohnabschlüsse im öffentlichen Sektor den auf eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gerichteten Anstrengungen im Privatsektor förderlich sind (...)«. Verlangt wird die »weitere Öffnung von geschützten Sektoren« und die »Beseitigung von »ungerechtfertigten Beschränkungen bei den freien Berufen und im Einzelhandelsgewerbe«. Vorgeschrieben werden »Arbeitsmarktreformen zur Förderung der ›Flexicurity‹« und die »Angleichung der Rentenleistungen an die nationale demographische Situation, beispielsweise durch Angleichung des tatsächlichen Rentenalters an die Lebenserwartung« sowie eine »Begrenzung der Vorruhestandsregelungen und Nutzung gezielter Anreize für die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer«. Auch die »Schuldenbremse«, das neueste deutsche Politikexportmodell, wird zur Herstellung von »Haushaltsdisziplin auf nationaler und subnationaler Ebene« den anderen Euroländern angedient.[3]

Unerwähnt bleiben in dem Pakt hingegen die schädlichen Wirkungen permanenter Leistungsbilanzüberschüsse, verursacht etwa durch deutsche Exportoffensiven. Noch am 4. Oktober 2010 hatte das Handelsblatt aufgeregt gemeldet, daß Brüssel »Strafzahlungen für Länder mit großen Ungleichgewichten vorsieht. Äußerungen der Kommission deuten darauf hin, daß auch Länder mit großen Überschüssen ins Visier genommen werden.« Diese Diskussion konnte die Bundesregierung im Auftrag der deutschen Industrie aber schnell beenden.

Die im Pakt geforderte »Entwicklung einer gemeinsamen Körperschaftssteuer-Bemessungsgrundlage« hat mit einer Steuerharmonisierung auf europäischer Ebene nichts zu tun, ganz im Gegenteil: »Das stärkt den Binnenmarkt. Steuerwettbewerb über unterschiedliche Sätze wird einfacher.« (»Steuerwettbewerb«, in FAZ vom 17.3.2011). Auch Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle sieht in der gemeinsamen Bemessungsgrundlage einen Fortschritt: »Ohne vergleichbare Strukturen kann sich ein Mittelständler, der einen neuen Standort für seine Fabrik sucht, kein Urteil über die steuerlichen Wettbewerbsbedingungen bilden. Die Steuersätze sollen weiterhin unterschiedlich sein.« (»Im Gespräch: Rainer Brüderle«, in: FAZ vom 28.2.2011)

Eine solche Festlegung der Euro-Länder auf eine Politik der Lohnkürzung und des Sozialabbaus geht selbst dem sonst so sozialpartnerschaftlich gestimmten Europäischen Gewerkschaftsbund zu weit. In einer Erklärung, unterzeichnet von den Vorsitzenden der nationalen Gewerkschaftsverbände in der EU, beklagt dieser, daß »das ganze Konzept des sozialen Europas dadurch erhöht gefährdet werde«.[4] Am Tag des EU-Gipfels fand denn auch eine von erstaunlicher Militanz gekennzeichnete Gewerkschaftsdemonstration mit mehr als 30000 Teilnehmern in Brüssel statt.

Nationale Souveränität

Doch zufrieden mit dem Euro-Plus-Pakt sind auch die Herrschenden in Deutschland nicht. Zu viele Forderungen und Positionen des in Berlin konzipierten Abkommens sind im Verlauf des europäischen Aushandlungsprozesses verwässert worden oder mußten gar ganz aufgegeben werden. So ist die Einführung einer »Schuldenbremse« in die Verfassung eines jeden Euro-Landes nicht länger mehr Pflicht, sondern nur eine der Möglichkeiten zur Befolgung der haushaltspolitischen Vorschriften der EU. Entfallen ist die verbindliche Streichung von Lohnindexierungen, d.h. die Koppelung der Löhne an die Inflationsraten, die noch heute in Belgien, Luxemburg und Portugal gilt. Sie sollen jetzt lediglich »überprüft« werden. Ganz fallengelassen wurde die gegenseitige Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen, die nach deutschen Vorstellungen innerhalb von nur zwölf Monaten in nationales Recht umgesetzt werden sollte, eine von Beginn an realitätsfremde Forderung.

Was aus deutscher Sicht aber vor allem den Wert des Pakts mindert, ist seine generelle Unverbindlichkeit und das Fehlen von Sanktionen bei Verstößen gegen ihn. Die in ihm enthaltenen Ziele werden lediglich als Selbstverpflichtungen der Mitgliedsländer definiert. Vorgesehen ist, daß die Staats- und Regierungschefs des Euro-Raums auf einem jährlichen Gipfeltreffen über die Verwirklichung dieser Selbstverpflichtung beraten. Sanktionen bei Verstößen gegen den Pakt sind erst gar nicht vorgesehen. Es wird vom Grundsatz ausgegangen: »Die Wahl der konkreten politischen Maßnahmen, die für die Erreichung der gemeinsamen Ziele zu treffen sind, verbleibt in der Verantwortung jedes einzelnen Landes (…)«[5] So wird denn auch kaum erwartet, daß mit dem Pakt die deutsche Austeritätspolitik den anderen Euro-Ländern verbindlich auferlegt werden kann. Enttäuscht zeigten sich daher die deutschen neoliberalen Medien: »Den ewigen Krisenfonds werde es nur geben, wenn die Wirtschaftspolitik im Euro-Raum künftig deutschen Prinzipien folge, hatte Frau Merkel danach versprochen, als sie die Partnerländer mit ihrem ›Pakt für Wettbewerbsfähigkeit‹ schockte, aus dem mittlerweile soviel Luft entwichen ist, daß er als ›Pakt für den Euro‹ für alle unverbindlich genug ist.« (»Transferunion«, in: FAZ vom 25.3.2011)

Wie schon der Stabilitäts- und Wachstumspakt und die Lissabon-Agenda bzw. das heutige Konzept »Europa 2020« wird also auch der Euro-Plus-Pakt an mangelnder Durchsetzbarkeit kranken. Letztlich entscheiden eben die Länder, was sie von seinen Forderungen mit welchen Mitteln in welchem Zeitraum umsetzen. Der angestrebten Hegemonie der kerneuropäischen Staaten unter Führung Deutschlands stehen weiterhin die nationalstaatlichen Souveränitäten im Wege. Sie können wohl im Zuge des europäischen Einigungsprozesses geschwächt, aber nicht beseitigt werden. Der Errichtung einer deutschen Hegemonie im Euro-Raum sind damit bis auf weiteres Grenzen gesetzt.

Ganz anders kann man hingegen mit den Ländern verfahren, die bereits am Tropf europäischer Hilfszahlungen hängen wie Griechenland und Irland und bald Portugal. In vergleichbarer Lage sind außerhalb der Eurozone Lettland, Rumänien und Ungarn. Hier werden die Zahlungen, aufgeteilt in einzelne Tranchen, erst jeweils nach erfolgten »Reformschritten« bewilligt, über deren Realisierung Europäische Kommission, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds penibel Buch führen. Die betroffenen Länder haben somit Kernbestandteile ihrer nationalen Souveränitäten eingebüßt, sie sind zu Kolonien des europäischen Kerns herabgesunken. Die dort geführten Abwehrkämpfe richten sich gegen nationale Entrechtung, gegen ökonomische Abhängigkeit und gegen die Zerstörung der Sozialsysteme. Die deutsche Linke hat diese Kämpfe von Gewerkschaftern, Sozialisten und Kommunisten mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zu unterstützen. Der Widerstand dort darf nicht als Rückzug auf den Nationalstaat diffamiert werden, denn mit der Verteidigung der Souveränitäten ihrer Länder verteidigen die klassenbewußten Kräfte in Griechenland, Irland und Portugal zugleich die Demokratie.

Transferunion für Banken

Neben der Entscheidung über den Euro-Plus-Pakt stellt die Vereinbarung über einen neuen Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) die zweite wichtige Entscheidung des Gipfeltreffens im März dar. Der vor knapp einem Jahr, in der Nacht des 7.Mai 2010, in größter Eile geschaffene Rettungsschirm für die gesamte Euro-Zone, die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität, ist lediglich auf einen Zeitraum bis 2013 beschränkt. Der nun beschlossene ESM wird diese vorläufige Stützkonstruktion ablösen, und er wird für eine nicht näher bestimmte Zeit geschaffen. Der neue ESM wird mit gigantischen 700 Milliarden Euro zugleich deutlich größer als die alte Finanzstabilisierungsfazilität sein. Ausgestattet ist er mit 80 Milliarden Euro Barkapital sowie 620 Milliarden Euro an Garantien bzw. abrufbarem Kapital. Ein gewisser Teil der Finanzausstattung des neuen Fonds in Höhe von 190 Milliarden muß von den Euro-Ländern bar aufgebracht werden. Für Deutschland heißt das, knapp 22 Milliarden Euro einzahlen zu müssen. Die Erbringung eines Baranteils ist neu. Bisher konnte man mit den Rettungspaketen sogar noch verdienen, indem etwa die Bundesregierung auf dem Finanzmarkt zu den für Deutschland günstigen Bedingungen Anleihen aufnahm und mit einem schönen Zinsaufschlag an Griechenland weiterreichte. Auch die Irland-»Hilfe« kostete bislang nichts. Die Euro-Länder mußten lediglich für Kredite, die die Finanzstabilisierungsfazilität als Institution an Irland vergab, bürgen. Dies ist nun anders. Insofern kann tatsächlich von der Errichtung einer Transferunion gesprochen werden, von einer Union, die nach den europäischen Verträgen eigentlich ausgeschlossen sein sollte.

Eingerichtet wird aber keine Transferunion zugunsten der betroffenen Defizitländer. Vielmehr werden einmal mehr die riesigen Forderungen der Banken der kerneuropäischen Länder abgesichert, die sie bis zu Beginn der Krise den Staaten, Unternehmen und Privatpersonen in der europäischen Peripherie gewährt hatten. Dafür sorgen vor allem zwei Bestimmungen der neuen Vereinbarung. So wird dem ESM-Gouverneursrat ausdrücklich gestattet, »die Auswahl der Instrumente, die dem ESM zur Verfügung stehen, zu ändern«. Damit wird möglich, daß der Fonds auch Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt aufkauft. Dies bedeutet, daß Banken vom Ausfall bedrohte Staatsanleihen, etwa solche Griechenlands, die auf dem Sekundärmarkt gehandelt werden, an den Fonds abgeben können. Bisher hat die Europäische Zentralbank (EZB) solche schlecht benoteten Papiere aufgekauft. Die Banken hatten sich in der Vergangenheit dazu nicht lange bitten lassen und solche Papiere gleich in Milliardenhöhe an die EZB abgegeben. Diese Praxis soll nun offensichtlich vom Fonds fortgesetzt werden.

»Uns selbst helfen«

Auch die von der deutschen Bundesregierung immer wieder lautstark geforderte Beteiligung privater Gläubiger an einem Ausfallrisiko im Falle einer Umschuldung eines Euro-Landes wird es nicht geben. Überhaupt sollen nur solche Anleihen davon betroffen sein, die nach dem Jahr 2013 ausgegeben werden. Zudem setzt die Umschuldung eines Landes zukünftig eine politische Entscheidung im Euro-Raum voraus. Da aber die kerneuropäischen Staaten einer solchen Umschuldung, die zu hohen Verlusten ihrer Banken führen, nicht zustimmen werden, wird sie – und damit eine Beteiligung privater Gläubiger an ihr– kaum möglich sein.

In erfrischender Klarheit hat der Finanzminister von Luxemburg, Luc Frieden, erklärt, worum es bei der Schaffung des ESM tatsächlich ging. Er wurde gefragt: »Werden durch den ESM die Banken dauerhaft vor den Wertberichtigungen, die bei einer Umschuldung nötig werden, geschützt?« Seine Antwort darauf lautete: »Wenn wir in einer so vernetzten Welt anderen helfen, dann helfen wir auch unseren eigenen Banken. Angesichts der hohen Engagements europäischer Banken in den Euro-Ländern stellen wir fest, daß wir uns selbst helfen, wenn wir anderen helfen.« (»Im Gespräch: Luc Frieden«, in: FAZ vom 25.3.2011). Mit anderen Worten: Die sogenannte Hilfe für die Defizitländer ist nichts anderes als ein weiteres Bankenrettungspaket.

Anmerkungen
  1. Dem Artikel 136 AEUV soll ein Absatz 3 angefügt werden: »Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren.«
  2. Neben den mittlerweile 17 Euroländern gehören ihm auch Bulgarien, Dänemark, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien »auf freiwilliger Basis« an.
  3. Der Euro-Plus-Pakt. Stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz, Anlage I der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25. März 2011, EUCO 10/11
  4. Schreiben des EGB vom 9.3.2011 an die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der Eurozone und anderer Mitgliedsländer
  5. Der Euro-Plus-Pakt. Stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz, a.a.O., S. 15
Von Andreas Wehr erschien im Oktober 2010 im PapyRossa-Verlag das Buch »Griechenland, die Krise und der Euro«. Mehr unter: www.andreas-wehr.eu

* Aus: junge Welt, 4. April 2011



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