Sehnsucht nach Normalität
Serbien-Streit und Haushaltspolitik auf Gipfel-Tagesordnung
Von Kay Wagner, Brüssel *
Die Zeiten des hektischen Treibens vor EU-Gipfeln scheinen fürs Erste vorbei. Fast gespenstisch ruhig ging es vor dem Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel zu. In EU-Kreisen zieht die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Serbien noch die größte Aufmerksamkeit auf sich.
Eurokrise? Rettungspakete? Griechenlandpleite? Obwohl alle kürzlich beschlossenen Maßnahmen noch nicht in trockenen Tüchern sind, machen diese Schlagworte derzeit nicht die Runde in »Europas Hauptstadt«. Auch, dass die Ratingagentur Standard & Poor's termingerecht zwei Tage vor dem EU-Gipfel Griechenland das Attribut »teilweise zahlungsunfähig« angeheftet hat, ließ Brüssel kalt. Hier scheint man sich nach ruhiger Normalität zu sehnen. Schon vor dem Gipfel im Januar war das zu spüren. Doch weil damals noch der Fiskalpakt geschnürt werden sollte, blieb es bei der Sehnsucht.
Die Vorzeichen lassen erwarten, dass es bei der heute und morgen stattfindenden Zusammenkunft der EU-Staats- und Regierungschefs anders wird. Zwar steht der Fiskalpakt erneut auf dem Programm: Am Freitagvormittag soll er in einer viertelstündigen Zeremonie unterzeichnet werden, damit ihn in den kommenden Monaten Parlamente oder - wie kurz vor dem Gipfel für Irland angekündigt - die Bevölkerung annehmen oder ablehnen können. Doch gesprochen werden soll über den Pakt nicht mehr. Zumindest nicht mehr öffentlich.
Lediglich diskutiert wird auch der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM). Kommissionspräsident Manuel Barroso machte am Mittwoch deutlich, dass er beim EU-Gipfel noch keinen Kompromiss zu den Krisenfonds ESM und EFSF erwartet. Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder hatten vergangenes Jahr verabredet, die Obergrenze des ESM im März zu überprüfen. Dies war im Rahmen des EU-Gipfels erwartet worden. Ein gesondertes Treffen der Euro-Länder wurde jedoch abgesagt. EU-Diplomaten begründeten dies mit dem Widerstand Deutschlands gegen eine ESM-Aufstockung. Zurückhaltend zeigte sich EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zum Vorschlag von Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker, einem EU-Kommissar die Zuständigkeit für Griechenland zu übertragen. »Ein Kommissar wird das Griechenland-Problem nicht lösen«, sagte der Portugiese.
Heikle Themen des Treffens sind nicht auszumachen. Selbst das »Europäische Semester« taugt nicht zum Ruhestörer. Dabei geht es um die Überprüfung der Haushalts- und Strukturpolitik der Mitgliedstaaten für den Zeitraum von sechs Monaten. Hierzu soll zunächst nur eine Bestandsaufnahme darüber erfolgen, wie das 2011 erstmals eingeführte Semester sich in der Praxis schlägt.
Im Vorfeld dieses Gipfels ging es deshalb auch eher um Themen, die schon seit Monaten hätten debattiert werden sollen. Nämlich Wirtschaft, Wachstum und Nachhaltigkeit, Jobs, Bildung und Innovation. Themen, mit denen Europa auf den Weg in das Jahr 2020 geschickt werden soll, in dem die EU der modernste und fortschrittlichste Teil der Welt sein möchte.
Zwölf EU-Staaten hatten vor ein paar Tagen einen Brief an Barroso geschickt. Darin forderten sie den Portugiesen auf, mehr konkrete Vorschläge zu präsentieren, auf welchem Wege Europa 2020 seine Ziele erreicht haben könnte. Barroso schrieb einen langen Antwortbrief und heftete diesem eine Liste von Maßnahmen an, die seine Behörde bereits in die Wege geleitet habe. Acht Themen davon werden in der ein oder anderen Form Arbeitsgrundlage des Treffens sein: Binnenmarkt, digitaler Binnenmarkt, Energie, Innovation, Handelswachstum, Bürokratieabbau, Beschäftigung und Regulierung des Finanzsektors. Bahnbrechende Beschlüsse sind kaum zu erwarten.
Neben der Vorbereitung von wichtigen internationalen Treffen in diesem Jahr - G8-Gipfel im Mai, G20-Gipfel im Juni sowie die UN-Rio+20-Konferenz ebenfalls im Juni - und Gesprächen zur Lage in den Ländern des Arabischen Frühlings sowie Syrien wird die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Serbien erwartet. Viele EU-Mitgliedsstaaten hätten den förmlichen Beschluss dazu gern schon am Dienstag während des EU-Außenministerrats getroffen. Doch Rumänien stellte sich bis zum Schluss quer, aus Sorge um eine rumänische Minderheit in Serbien. Beobachter erwarten, dass diese Unstimmigkeiten schon heute ausgeräumt werden können.
Eine kleine Überraschung könnte der Gipfel allerdings doch bieten: Das auslaufende Mandat des Ständigen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy könnte auf eine zweite Amtszeit verlängert werden. Belgische Zeitungen hatten darüber berichtet, gestützt auf Informationen von Diplomaten. Der ehemalige Premier des Landes war vor gut zwei Jahren überraschend in das neu geschaffene Amt des EU-Ratspräsidenten gehievt worden. Eine öffentliche Debatte über seine Nachfolge hat bislang nicht stattgefunden.
* Aus: neues deutschland, 1. März 2012
Wahlspeck für Serbien
Von Detlef D. Pries **
Serbien stehen Wahlen bevor. Voraussichtlich im Mai wird die Belgrader Regierung ihre Politik vom Wähler beurteilen lassen müssen. Erfolge kann sie kaum vorweisen. Die wirtschaftliche und soziale Lage hat sich im Gegenteil deutlich verschlechtert. Und das lauthals verkündete Ziel, Kosovo zurückzugewinnen und sich zugleich dem EU-Beitritt zu nähern, hat sich als Seifenblase erwiesen. Die großen EU-Staaten sind schließlich für Kosovos Unabhängigkeit in den Krieg gezogen und lassen in dieser Sache nicht mit sich handeln. Stattdessen wurde Belgrad ein ums andere Mal zum Nachgeben gezwungen, bis die Regierung sich selbst von den Serben in Nordkosovo des Verrats beschuldigt sah.
Aber derart hörige Partner will man sich in den EU-Zentralen natürlich erhalten. Deshalb soll Serbien unbedingt noch vor der Wahl mit dem EU-Kandidatenstatus »belohnt« werden, den man ihm erst im Dezember 2011 - maßgeblich auf deutsches Betreiben - verweigert hat. Ob sich die serbischen Wähler dadurch fangen lassen? Nachbar Kroatien wurde 2004 Beitrittskandidat und wird wahrscheinlich 2013 EU-Mitglied. Die Mazedonier sind seit 2005 »Kandidaten«, doch die Beitrittsverhandlungen ruhen, weil die Griechen den Namen des Staates nicht akzeptieren. Auch wenn Rumäniens letzter Widerstand gegen den Kandidatenstatus für Serbien heute gebrochen wird, finden sich bestimmt etliche Gründe, die Glück verheißende EU-Mitgliedschaft in ferne Zukunft zu verlegen.
** Aus: neues deutschland, 1. März 2012 (Kommentar)
Zurück zur EU-Europa-Seite
Zur Serbien-Seite
Zurück zur Homepage