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Wozu brauchen wir Europa?

Die Wissenschaftlerin Daniela Schwarzer über die Notwendigkeit der Vertiefung der EU *


Daniela Schwarzer ist Forschungsgruppenleiterin des Bereichs Europäische Integration bei der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die Politökonomin ist zudem Mitglied der »Glienicker Gruppe«. Die elf deutschen Ökonomen, Politologen und Juristen haben kürzlich Vorschläge zur Reform der EU entwickelt und veröffentlicht. Mit Schwarzer sprach Katja Herzberg.


Vor 20 Jahren trat der Vertrag von Maastricht in Kraft. Ist dieses Jubiläum für Europa, das heute in einer Wirtschafts- und in Teilen sogar in einer sozialen Krise steckt, ein Grund zum Feiern?

Der Vertrag von Maastricht hat die Grundlage für die Schaffung der Währungsunion gelegt. Das ist ein historischer Schritt gewesen, der für Europa sehr wichtig war. Aber die Aufgabe ist zweifelsohne – und das ist nicht erst seit der Krise klar –, dass die politische Seite der Währungsunion gestärkt werden muss.

Also stimmen Sie der These vom Geburtsfehler Maastricht zu?

Der Maastricht-Vertrag war wahrscheinlich das, was man in der damaligen Situation historisch möglich machen konnte. Das politische Einigungsziel wurde vertagt. Nach Verabschiedung des Maastrichter Vertrages, sogar noch vor dem eigentlichen Beginn der Währungsunion im Jahr 1999, wurde versucht nachzubessern. So wurde unter anderem der Stabilitäts- und Wachstumspakt 1997 ergänzt. Später wurde die Euro-Gruppe geschaffen und jetzt, unter dem Druck der Krise, wurden die Koordinierungsmechanismen gestärkt und ein Eurozonen-Gipfel eingeführt. Das alles zeigt, dass diese politische Integration nachholend ist und man versucht, zu ergänzen. Aber was wir nicht haben, das sind Strukturen, die wirklich demokratisch legitimierte Entscheidungen hervorbringen können.

Sie sprechen Maßnahmen wie die Bankenunion oder die Finanztransaktionssteuer an. Auch institutionelle Reformen sind im Gespräch. Die letzten EU-Gipfel haben jedoch immer wieder gezeigt, dass wichtige Entscheidungen vertagt wurden. Woran liegt es, dass die Regierungschefs nicht vorankommen?

Jede tiefere Integration der Eurozone würde bedeuten, dass formal Souveränität von nationalen Regierungen und Parlamenten auf die europäische Ebene übertragen werden oder zumindest eine Mischform hergestellt werden muss, bei der zum Beispiel die nationalen Parlamente noch mitbestimmen, aber auch die europäische Ebene stärker mitentscheidet. Das möchten nationale Entscheidungsträger nicht unbedingt und es gibt verfassungsmäßige Hürden. In vielen Debatten über die weitere europäische Integration wird aber auch die Illusion aufrecht erhalten, dass wir national noch völlig autark die Dinge entscheiden. Meine Sicht auf die Situation in der Eurozone ist aber, dass mit der integrierten Währung und den integrierten Finanzmärkten eigentlich schon viel Handlungsspielraum verloren gegangen ist und dass es jetzt darum geht, Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit auf der Ebene der Eurozone wiederzugewinnen.

Deutschland könnte dabei als Krisengewinner eine wichtige Rolle spielen. Sehen Sie bei der möglichen neuen Regierung aus SPD und CDU/CSU bzw. bei Angela Merkel entsprechende Bemühungen?

Ich denke, dass von deutscher Seite die Stärkung der Kontroll- und Koordinierungsmechanismen über nationale Politik weiterhin eine Forderung bleiben wird. Dahinter steht die Sorge, dass in der Eurozone, wie sie jetzt aufgestellt ist, Trittbrettfahrerverhalten von anderen Regierungen stattfinden kann und nicht ausreichend Reformen stattfinden. Man möchte verhindern, dass das ein Ausmaß erreicht, in dem andere dafür die Kosten tragen müssen.

Sie fordern als Mitglied der »Glienicker Gruppe« einen Euro-Vertrag und eine Wirtschaftsregierung, also mehr Integration. Warum?

Man muss stärker in den Mittelpunkt der Diskussion rücken, welche Formen der Zusammenarbeit man braucht, wenn man sich in eine Währungsunion begibt, in der bestimmte Prinzipien wie der Haftungsausschluss für die Verschuldung anderer Mitgliedsstaaten gelten und in der man gleichzeitig öffentliche Güter hat, die man eigentlich nur gemeinsam bereitstellen kann. Darunter fallen aus meiner Sicht zum Beispiel die Inflationsrate und die Wachstumsentwicklung in der Eurozone. Für diese Dinge müssen gemeinsame Entscheidungen her, die die Entwicklung in der Eurozone insgesamt stärker in den Blick nehmen. Deshalb unterstütze ich die Forderung nach einer Wirtschaftsregierung unter Einbezug der Gemeinschaftsinstitutionen, also der Kommission und des Parlaments.

Ist ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten nötig, um die EU insgesamt zu retten?

Der Bedarf nach Integration ist jetzt in der Eurozone viel größer als in der EU 28. Hinzu kommt, dass es unter 28 Mitgliedsstaaten noch viel schwieriger ist, einen Konsens zu erzielen. Besonders, weil elf davon gar nicht diesen Druck haben, der entsteht, wenn man die nationale Währung und die Wechselkurspolitik aufgegeben hat. Was wir vermeiden sollen, ist indes eine Abspaltung der Eurozone von der EU. Aus deutscher Sicht, aber auch aus Sicht aller anderen Länder innerhalb der Eurozone und der EU, ist es ganz wichtig, den Binnenmarkt und die europäischen Institutionen zu erhalten und letztere sogar zu stärken.

Glauben Sie, dass mit Ihren Vorschlägen zur Vertiefung der Zusammenarbeit auch das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen ist?

Es ist meines Erachtens unbedingt nötig, das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen und sie stärker einzubinden. Seit den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden 2005 hat sich das europäische System in gewisser Weise von dem Austausch und Feedback der Bevölkerung zurückgezogen. Gleichzeitig wurden verstärkte Kommunikationsanstrengungen unternommen. Marketing kann Teilhabe an politischen Entscheidungen aber nicht ersetzen. Deshalb sind neue Formen der Bürgerbeteiligung und eine Stärkung der repräsentativen Demokratie in der EU so wichtig.

Es fehlt also eine echte politische Debatte über die Zukunft der EU mit den Unionsbürgern?

Die Integration hat eine derartige Tiefe erreicht, dass wir eine breite politische Auseinandersetzung über Europa brauchen. Natürlich sehe ich, dass es schwierig ist, das alles der Bevölkerung gegenüber zu kommunizieren. Aber im Grunde sehe ich keine Alternative dazu, der Bevölkerung mehr Mitsprache in diesem Prozess zu geben. Geschieht dies nicht, droht der Integrationsprozess die Legitimität der EU und der nationalen Regierungen, die Teil des Systems sind, zu untergraben.

Unmut über mangelnde Teilhabe ist laut Umfragen auch ein Grund für den Zulauf, den antieuropäische Parteien derzeit haben. Ist es mit Blick auf die Europawahl im Mai darum jetzt so wichtig, eine Zukunftsdebatte zur EU zu führen?

Ich halte es für sehr wichtig, dass wir nicht mehr nur sagen, warum wir Europa haben, sondern wozu wir Europa brauchen. Das heißt also, dass man sich politische Ziele setzt, die man in Europa gemeinsam erreichen will. Und dass gleichzeitig eine Vision entwickelt wird, wie das ganze Entscheidungssystem in seiner Komplexität mit 28 Mitgliedsstaaten, vielen Sprachen, sehr unterschiedlichen nationalen politischen Kulturen funktionieren kann. Das heißt nicht unbedingt mehr Europa. Für mich heißt es, dass Kritik an der EU, wie sie heute funktioniert, legitim ist. Die frühere Sichtweise, dass, wer für Europa ist, nicht EU-kritisch sein darf, halte ich für überholt. Wir müssen das System kritisch unter die Lupe nehmen, wenn wir wollen, dass ein geeintes Europa eine Zukunft hat.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 1. November 2013


Vom kranken Mann zum Musterschüler

Wie sich Deutschlands Rolle in Europa wandelte

Von Simon Poelchau **


Deutschland gilt heute als Musterschüler in Europa. Während der halbe Kontinent in Massenarbeitslosigkeit und Rezession versinkt, sprudeln in der Berliner Republik die Steuereinnahmen, und die Beschäftigung ist – zumindest offiziell – auf Rekordniveau.

Doch dies war nicht immer so: Im Juni 1999 bezeichnete die britische Wirtschaftszeitung »The Economist« Deutschland noch als den »kranken Mann Europas«. Damals lag die Arbeitslosigkeit hierzulande bei rund zehn Prozent und in den neuen Bundesländern war sie mit 16,5 Prozent ungefähr so hoch wie zurzeit im Krisenland Portugal. Zudem hatte die Bundesrepublik zwei Jahre vor dem Jahrtausendwechsel bei der Staatsverschuldung die einst magische Grenze von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung überschritten. Diese Marke war als eines der Konvergenzkriterien im Zuge der Verträge von Maastricht eingeführt worden.

Damit sollte im Rahmen der Schaffung der Währungsunion gewährleistet werden, dass sich die Wirtschaftsleistungen der Mitgliedsländer anglichen. Ähnlich wie bei der heutigen Krisenpolitik konzentrierten sich Europas Staatschefs dabei weniger auf soziale Gerechtigkeit und die Schaffung von Beschäftigung als vielmehr auf Haushaltskonsolidierung und Preisstabilität. So durfte die Neuverschuldung nicht mehr als drei Prozent betragen. Und auch dieses Kriterium konnte Deutschland mehrfach nicht einhalten.

Was ist passiert, dass Deutschland jetzt nicht mehr als alter Mann, sondern als Musterschüler Europas gilt? Die Antwort verbinden viele mit einer Person: dem Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). In seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 rief er zum »Mut zur Veränderung« auf. Was er damit ankündigte, war nichts anderes als der komplette Umbau der Sozialsysteme und die Einführung von Hartz IV mit der Agenda 2010. Dabei hatte Schröder auch die Rolle der Berliner Republik in der EU im Blick. Denn die Reformen sollten auch eingeführt werden, um der »deutschen Verantwortung in und für Europa gerecht zu werden«, wie Schröder damals betonte.

Ob der Grund für Deutschlands Stärke in der Eurokrise tatsächlich in der Agenda 2010 liegt, ist indes umstritten. Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung etwa erklärte anlässlich des zehnten Jubiläums von Schröders Rede, dass der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg vielmehr in den Konjunkturpaketen nach dem Ausbruch der Finanzkrise lag. Zumindest führten die Reformen jedoch dazu, dass die Reallöhne in den Jahren danach erst einmal fielen. Deutschlands Wirtschaft erhielt so einen Wettbewerbsvorteil und gerade die Exporte ins europäische Ausland nahmen zu.

Nicht alle in Deutschland profitieren von den Reformen. Mehr als ein Fünftel der Arbeitnehmer ist mittlerweile Zeitarbeiter oder geringfügig oder befristet beschäftigt. Und vor allem die SPD konnte sich bis jetzt noch nicht von der Agenda 2010 erholen. Ein Jahr nach ihrer Einführung wurde Gerhard Schröder abgewählt und die Partei büßte elf Prozent an Wählerstimmen ein.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 1. November 2013




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