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Schädlicher Sparkurs

Ratingagentur zweifelt an Euro-Rettung. Schuldenabbau senkt Absatz. Deutschlands Exporte betroffen. Bundesrepublik muß mehr importieren

Von Herbert Schui *

Liegt Standard & Poor’s mit seinem Rating für die Euro-Zone falsch? Die Agentur begründet ihren Pessimismus. »Während sich die europäische Wirtschaft abkühlt, erwarten wir, daß ein Reformprozess, der allein auf (…) Sparanstrengungen ruht, zwecklos ist, wenn (…) die Nachfrage schrumpft und die Steuereinnahmen der Staaten erodieren«, zitierte die Süddeutsche Zeitung Anfang Dezember. Die Brüsseler Beschlüsse vom 9. Dezember bedeuten in der Realität: weniger öffentliche Ausgaben, weniger Bruttoinlandsprodukt, weniger Steuereinnahmen – und das nicht nur in den Krisenländern, sondern, übertragen durch den Außenhandel, auch in Deutschland. Gefährdet ist der Schuldendienst in der Europäischen Union allgemein.

Wachstumsbremse

Das jährliche Staatsdefizit soll im Sinne des Maastricht-Vertrages auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gesenkt werden. In der Praxis bedeutet das höhere Verbrauchssteuern, also weniger Konsumausgaben, vor allem aber eine Senkung der Staatsausgaben. Im Jahr 2010 betrug das Staatsdefizit in der Euro-Zone und der EU rund sechs Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Nach Ländern geordnet fächert es sich weit auf: Griechenland, Spanien und Portugal haben ein Defizit von rund zehn Prozent des BIP, Italien kommt auf 4,6 und Frankreich auf 7,1 Prozent, Deutschland auf 4,3 Prozent.

In der Folge müssen die Staatsausgaben um bis zu sieben Prozentpunkte gesenkt werden. Dabei wird der Wachstumsverlust höher ausfallen als die gekürzten Ausgaben: Denn senkt ein Staat seine Personalausgaben, dann sinkt die Konsumnachfrage der Lohnempfänger. Dadurch nimmt die Produktion ab, die Arbeitslosigkeit steigt, die Lohnsumme und die Nachfrage sinken erneut. So wird auch der Absatz von importierten Produkten – etwa von deutschen Erzeugnissen im Ausland – zurückgehen. Das wird das deutsche Wirtschaftswachstum empfindlich treffen. Schließlich exportierte Deutschland im Jahr 2010 allein 38,4 Prozent seiner gesamten Produktion. Sechs Zehntel davon gehen in die Europäische Union.

Exporteinbruch

Das Absinken der Exporte in die EU-Länder kann nicht wettgemacht werden durch vermehrte Ausfuhren in andere Regionen, beispielsweise nach China oder Amerika. 2010 importierte China für 54 Milliarden Euro deutsche Waren, nach Amerika gingen Waren für 100 Milliarden, davon in die USA für 66 Milliarden, die Länder der EU dagegen importierten für 571 Milliarden Euro deutsche Waren. »Der Ausblick auf die Weltwirtschaft ist im Augenblick ziemlich düster«, wird die Chefin des IWF, Christine Lagarde, nicht müde zu wiederholen.

Deutschland kann seinen Export, vor allem aber seinen Exportüberschuß nur dann aufrechterhalten, wenn es seine Einnahmen aus dem Außenhandelsüberschuß wieder zurückschleust in die Defizitländer, die »auf dem Pfad fiskalischer Rechtschaffenheit vorangehen« – wie es der Chefökonom der HSBC-Bank, Stephen King, am 12. Dezember in der Londoner Financal Times beschreibt. Ein solches Recycling funktioniert (wenngleich mehr schlecht als recht) im Außenwirtschaftsverkehr zwischen China und den USA: Was die Amerikaner für chinesische Waren ausgeben, fehlt als Nachfrage für die heimische US-Produktion. Diese fehlende Nachfrage ersetzen die USA durch Defizitausgaben. China wiederum finanziert das Defizit durch den Kauf von US-Anleihen. Aber ein solches Recycling ist schwer auf den Weg zu bringen im Außenwirtschaftsverkehr Deutschlands. Anders als in China fließen die Devisenerlöse hierzulande nicht auf die Konten der Notenbank. Denn in einer Währungsunion entfällt der Umtausch. Selbst Einnahmen von Fremdwährungen aus Übersee veräußern die Unternehmen meist direkt am Devisenmarkt. In jedem Fall werden für die Exporterlöse keine Staatsanleihen der Krisenländer gekauft. Weil Recycling nicht möglich ist, bleibt für die Defizitländer nur die EZB als Kreditgeber in letzter Instanz.

Mehr Importe

Oder, und das ist die Lösung auch auf lange Sicht: Deutschland beseitigt seinen Handelsbilanzüberschuß durch mehr Importe. Das setzt höhere Löhne und Gewinnsteuern in Deutschland voraus. Ziel ist also nicht, mit steigenden Lohnkosten (und Preisen) die Ausfuhr zu drosseln. Vielmehr müssen höhere Löhne und Staatseinnahmen den Kauf von ausländischen Erzeugnissen ankurbeln, also die Einfuhren. Importiert Deutschland mehr, dann produzieren seine Handelspartner mehr Exportgüter, sie kommen zu mehr Beschäftigung und Wachstum und so zu mehr Steuereinnahmen. Ob höhere Kosten die deutschen Ausfuhren tatsächlich verringern würden, bleibt eine offene Frage. Aber wenn es so ist, dann wird die gestiegene Binnennachfrage das ausgleichen. Natürlich beruhigt eine solche Lösung weder die Ratingagenturen noch die Finanzmärkte.

Dann müßte auf politischer Ebene für Ruhe gesorgt werden, durch Regulierung und Verstaatlichung. Geschieht aber all das nicht, spart sich Europa unter Anleitung Deutschlands in einen langanhaltenden Wirtschaftsabschwung hinein – es sei denn, Frankreich rückt nach der Präsidentschaftswahl im kommenden Frühjahr von Merkels Politik ab. Der sozialistische Kandidat Francois Hollande fordert, die Brüsseler Vereinbarung neu zu verhandeln. Doch bleibt offen, ob er sich daran hält und ob er überhaupt gewählt wird.

* Aus: junge Welt, 24. Dezember 2011


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