Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ohne Schamgrenze

Das sogenannte Euro-Wachstumspaket ist ein trojanisches Pferd des Neoliberalismus

Von Rainer Rupp *

Die Politik der radikalen Haushaltskürzungen hat bewirkt, daß die Wirtschaftsleistungen in den Krisenländern der Euro-Zone stark eingebrochen sind. Auch die übrigen EU-Mitgliedsstaaten wurden von der Kontraktion erfaßt. Die Rettung maroder Privatbanken, die das Hauptziel dieser Politik ist, findet auf dem Rücken der Lohnabhängigen statt. Es drohen soziale Unruhen. In dieser Situation mußte eine Korrektur her, ohne den Kurs der Umverteilung von unten nach oben zu ändern. Geschafft hat dies der neue französische Präsidenten François Hollande, der die Wahl mit der Forderung nach mehr Wachstum gewann.

Der zwischen Hollande und der als Sparzuchtmeisterin verschrieenen Bundeskanzlerin Angela Merkel erwartete Konflikt blieb aber aus. Nach wenigen Tagen im Amt hat sich der Franzose den »Sachzwängen« der Euro-Krise gebeugt. Mit abenteuerlicher Geschwindigkeit zauberten er und Merkel gemeinsam mit ihren EU-Kollegen ein 120-Milliarden-Euro-»Wachstumspaket« herbei als Ausgleich für die drastischen Ausgabenstreichungen.

Totalumkrempelung

Eine genauere Analyse zeigt jedoch, daß die von den medialen Hofschranzen hochgelobten Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft vor allem aus heißer Luft bestehen: Es handelt sich bei ihnen vor allem um Umschichtungen bereits laufender Programme. Zudem sollen die versprochenen Gelder nur als Zuschuß zu privaten und öffentlichen Investitionen vergeben werden. Das Klima dafür ist aber derzeit EU-weit frostig, d.h. Zuschüsse werden nicht wirksam, weil nicht investiert wird. Der Rest des »Wachstumspakets« – Investitionen in die Infrastruktur der EU-Länder – benötigt mindestens ein Jahr Vorlauf, bevor Geld fließt. Die Behauptung, es werde ein Gleichgewicht zwischen Haushaltskürzungen und Wachstum angestrebt, erweist sich als eine weitere zynische Maßnahme, um die Rettung des kriminellen Bankensystems zu rechtfertigen. Es bleibt bei der Umverteilung von unten nach oben.

Wenn die »Eliten« heute von Wachstum sprechen, denken sie nicht an produktive Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern an ein breitgefächertes Programm »struktureller Änderungen«. Gemeint sind damit die neoliberale Totalumkrempelung der Wirtschaft und die Beseitigung verbliebener Elemente von Sozialstaatlichkeit. Um Wachstum zu fördern, werden weitere Privatisierungen staatlicher und kommunaler Betriebe, von Versorgungsbetrieben und Dienstleistungen, bis hin zu Schulen, Universitäten und Krankenhäusern gefordert.

Angeblich soll außerdem mit der Abschaffung staatlicher Subventionen Wirtschaftswachstum gefördert werden, in Wirklichkeit geht es um die Abschaffung des sozialen Netzes und der Sicherheit des Arbeitsplatzes. Zugleich schenken die Staaten Banken und ihren Eigentümern weitere Hunderte Milliarden Euro, indem sie deren Schrott- und Zockerpapiere übernehmen und mit Steuergeldern teuer bezahlen. »Wachstum« heißt hier lediglich, den internationalen Konzernen und Banken den Weg zur Übernahme staatlicher Unternehmen zu ebnen.

Todsichere Anlagen

Derweil sucht das internationale Kapital verzweifelt nach sicheren Anlagemöglichkeiten. Es ist sogar bereit, »Sicherheitsprämien« für Papiere zu zahlen, die bisher gute Erträge brachten. Käufer deutscher Schatzbriefe bekommen derzeit aber keine Zinsen mehr, sondern haben in den letzten Tagen sogar – nach Abzug des Verlustes durch Inflation – 0,3 Prozent drauflegen müssen, nur um ihr Geld beim deutschen Staat für eine Zeitlang sicher zu »parken«. Dagegen gelten die Anleihen der meisten anderen Staaten inzwischen als mehr oder weniger dubios. Wohin also mit den Bergen privat angehäufter Gelder? Da gelten Privatisierungen und Übernahmen z.B. von bisher staatlichen Versorgungsbetrieben für Wasser, Elektrizität und anderen Energieträgern, Verkehrsbetrieben, Immobilien, Sozialwohnungen usw. als »todsichere« Anlagen. Sie erhalten dadurch zusätzliche Attraktivität, daß sie in der Krise zu Schnäppchenpreisen zu haben sind. Denn die Krisenländer der Euro-Zone werden im Rahmen der sogenannten Rettungspakete zur raschen Privatisierung ihrer wirtschaftlichen »Filetstücke« regelrecht gezwungen.

Als Resultat dieser »Wachstumsstrategie« werden in den nächsten Jahren die ausländischen Direktinvestitionen stark ansteigen. Das bedeutet: Insbesondere in den EU-Krisenstaaten werden europäische und US-amerikanische Großkonzerne einen noch größeren Teil der Wirtschaft kontrollieren als bisher und folglich dort auch die Politik bestimmen. Die Gelder, welche die Regierungen durch die Privatisierungen einnehmen, sind meist schon für die Zahlung der Bankenschulden verpfändet. Daher wird nicht einmal kurzfristig eine Erleichterung der finanziell angespannten Lage der Staatskassen erreicht. Langfristig werden den Ländern wichtige Einnahmen entgehen, während die Bevölkerung höhere Preise für die privatisierten Dienstleistungen und höhere Mieten zahlen muß. Das lehrt die Erfahrung von neoliberal »reformierten« Volkswirtschaften wie Großbritannien oder Deutschland.

Resultat und Zweck dieser »Wachstumsstrategie«: Die Masse der Lohnabhängigen wird finanziell noch stärker ausgequetscht und durch steigende Arbeitslosigkeit in Schach gehalten, während die Reichen reicher werden. Schamgrenzen kennt das kriminelle System nicht

* Aus: junge Welt, Freitag, 13. Juli 2012

Mythen des Kapitals

Märkte ohne Lenkung und Erfolge von Privatisierung

Von Rainer Rupp **


Gemäß bürgerlicher Wirtschaftstheorie treffen auf den Märkten unendlich viele Anbieter und Nachfrager aufeinander. Deshalb haben die Märkte immer Recht und sind jedem noch so gut gemeinten Versuch einer Lenkung haushoch überlegen. Dieses Brimborium wird an unseren Universitäten mit dem Anstrich von Wissenschaftlichkeit gelehrt. Das als universell gültig Dargestellte gehört jedoch in den Fachbereich Märchen. Denn die so hoch gelobten »Märkte« werden in der kapitalistischen Praxis immer (!) von einigen wenigen Mächtigen zwecks Profitmaximierung kontrolliert und manipuliert. Derlei Aktivitäten sind zwar durch allerlei Gesetze, z.B. zu Kartellen, verboten, aber diese Vorschriften sind in der Regel absolut ineffizient. Demonstriert wird das täglich z.B. durch die Abzocke der Energiekonzerne an den Tankstellen. Gleiches gilt für die aktuell in den Medien diskutierten kriminellen Machenschaften zur Manipulation der wichtigsten Meßlatte der Finanzmärkte, des Libor (London Interbank Offered Rate), durch europäische und US-amerikanische Großbanken.

Die Forderung von Bundeskanzlerin Merkel nach einer »marktkonformen Demokratie« bedeutet daher nichts anderes, als sich solchen Machenschaften der die Märkte beherrschenden Kräfte bedingungslos zu unterwerfen. Das hat schwerwiegende Konsequenzen für die wirtschaftliche Zukunft und den weiteren gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bundesrepublik. Denn die »Märkte« reagieren fast ausschließlich auf kurzfristige und nicht auf langfristige Probleme. Wer aber möchte in einer Welt leben, in der die soziale, politische und wirtschaftliche Stabilität von Leuten bestimmt wird, die in der Regel nur an einem möglichst guten Vierteljahresergebnis interessiert sind?

Der Prozeß der neoliberalen »Reformen« in Wirtschaft und Gesellschaft, insbesondere die Privatisierung öffentlicher Unternehmen, wird begleitet vom Mantra: »Schaffung von Arbeitsplätzen«. Angeblich orientieren sich private Unternehmen stärker an den unfehlbaren Märkten, arbeiten daher effizienter und können ihre Produkte billiger anbieten als öffentliche Betriebe. Dadurch steige die Nachfrage, was Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätzen nach sich ziehe. Die Erfahrungen – auch die deutschen – haben jedoch gezeigt, daß Privatisierung genau das Gegenteil bewirkt. Ihre angeblichen Erfolge gehören ebenso wie das von den unkontrollierten Märkten in den Bereich der kapitalistischen Mythen. Vor diesem Hintergrund sind die Pläne der Eurokraten und Politiker zur Abschaffung des Sozialstaats (»Sparprogramme«) und der Plünderung des öffentlichen Eigentums durch mehr Markt (»Wachstum durch Strukturanpassung«) lediglich »Klassenkampf von oben«, den Warren Buffet, einer der superreichen US-Amerikaner, erklärt hat.

** Aus: junge Welt, Freitag, 13. Juli 2012




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