Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Roma brauchen Perspektiven"

Europarat thematisiert größte Minderheit


Anne Brasseur ist Fraktionsvorsitzende der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa im Europarat. Um die Roma-Thematik auf die Tagesordnung der vierten Sitzungswoche (vom 4. bis zum 8. Oktober) des Europarats zu setzen, stellte sie einen Dringlichkeitsantrag. Unter dem Titel »Die jüngste Zunahme der Debatten über die nationale Sicherheit in Europa: Der Fall der Roma« legte sie der Parlamentarischen Versammlung ihren Bericht vor. Mit der Luxemburgerin sprach für das Neue Deutschland (ND) Antje Stiebitz.

ND: Was ist für Sie die Essenz der Roma-Debatte, die in der Parlamentarischen Versammlung stattgefunden hat?

Brasseur: Der erste Punkt ist, dass wir gemeinsam Lösungen für das Problem finden. Wir haben die Lösungen heute natürlich nicht gefunden. Aber ich glaube, es ist uns gelungen, die Vorgehensweise gemeinsam zu definieren. Ich glaube auch, dass der Vorschlag des Generalsekretärs des Europarats, Thorbjørn Jagland, sich am 20. Oktober mit den höchsten Instanzen zusammenzusetzen, wirklich der richtige Weg ist. Indem man sich wieder auf sich selbst konzentriert und die politischen Ansichten renationalisiert, können wir die Probleme der schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft mit Sicherheit nicht lösen. Das ist das zweite. Und drittens können wir in unseren Staaten keine Zonen dulden, in denen kein Recht waltet. Normen und Gesetze müssen von jedem eingehalten werden. Egal, ob das die Einwohner des Landes oder Zugezogene sind. Der Staat muss die Möglichkeit haben, mit Prävention oder Repression zu reagieren. Man kann die Probleme nicht lösen, indem man verbale Ausrutscher benutzt, um in der nationalen Politik Punkte bei den Wählern zu sammeln. Damit stigmatisiert man eine ganze Gruppe von Menschen – und hier sind das eben die Roma.

Wo sind die Ansatzpunkte, was wird gemacht und wer zahlt?

Geld alleine löst das Problem nicht. Es gibt ja Gelder, die, glaube ich, auch reichen würden. Aber man muss sehen, wie man sie in den Herkunftsländern gezielt einsetzt. Das Problem geht viel weiter. Wir haben bei den Roma Männer und Frauen, die einer Gruppe angehören, die aber kein Land haben. Andere, die haben ein Land, auch wenn sie nicht in ihrem Herkunftsland wohnen. Wir müssen versuchen, Vertreter der Roma zu finden. Aber weil sie kein nationales Land als Herkunft haben, ist es sehr schwierig, die auszumachen.

Es gibt Roma-Vereinigungen ...

Ja, die gibt es und es gab hier auch Anhörungen. Doch bei diesen Anhörungen waren auch einige dabei, die sich zwar der Verteidigung der Roma verschrieben haben haben, Nichtregierungsorganisationen, die ich auch sehr gut finde, die aber selbst von ihrer Herkunft keine Roma waren. Und das ist problematisch. Wir müssen versuchen, die Stimme der Roma zu hören. Beispielsweise, und das müssen wir jetzt mit den Nationaldelegationen sehen, gibt es in verschiedenen Nationalparlamenten Abgeordnete, die von Herkunft Roma sind. Es wäre gut, wenn die Delegationen sie hierher schicken würden.

Warum erst jetzt? Die Problematik ist seit Jahrzehnten bekannt.

Wir hatten im Juni einen sehr guten Bericht im Europarat über die Roma-Situation. Da hat kein Mensch zugehört, fast keiner war im Plenum, es hat keinen Menschen interessiert, auch die Presse nicht. Mit den Vorkommnissen in Frankreich, die nicht hinnehmbar sind, war plötzlich Interesse da. Nicht nur von Parlamentariern, sondern auch von der Presse und damit der öffentlichen Meinung. Und ich hoffe, dass wir das jetzt nützen können, um etwas Positives daraus zu machen.

In der Debatte hieß es, dass sich die Roma integrieren wollen, und es wurde kundgetan, dass auch die Mehrheitsgesellschaft sie integrieren will. Warum mangelt es dann an Roma-Projekten?

Ich habe mich mit Menschen unterhalten, die tagtäglich draußen mit Roma arbeiten. Und die Problematik ist so vielschichtig. Viele kommen hierher, weil sie glauben, sie hätten hier ein besseres Leben. Und natürlich kommen die nicht irgendwohin, sondern zu Menschen der gleichen Herkunft. Damit ist es eine Gruppe, die sehr stark ist. Oft ist ihre Zahl so groß, dass verschiedene Kommunen damit nicht klarkommen. Man muss da versuchen, das richtige Maß zu finden. Ich würde beispielsweise vorschlagen, dass man die Gruppen, die hier sind, in kleinere Einheiten aufteilt, und dass die Kinder zur Schule gehen und dort nicht ausgegrenzt werden. Und das Wichtigste ist, dass man eine Beschäftigung für die Roma findet. Da kommen Menschen, die haben Talente, die man gebrauchen könnte. Sie sind musikalisch und handwerklich kreativ. Wir sollten das Positive betrachten und und ihre Stärken entwickeln. Die Roma brauchen Perspektiven.

Was ist Ihr Wunsch für die Roma-Konferenz am 20. Oktober?

Dass wir das Problem erkennen, auflisten und konkrete Lösungen finden. Und nicht, dass die Franzosen auf die Zuständigkeit der Rumänen verweisen und umgekehrt. Wir brauchen gemeinsame Lösungen. Ich hoffe, dass der Generalsekretär das machen kann. Unsere Plenarsitzung im Januar ist zu spät, aber wir haben im November den Ständigen Ausschuss, der sich damit befassen kann, und dahin soll unser Generalsekretär kommen, um dann zu sehen, wie wir als Parlamentarische Versammlung die Ergebnisse weitertragen können. Wir beschließen ja etwas und sind auch Parlamentarier in unseren Mitgliedsländern. Und da müssen wir ansetzen und unsere Regierungen in die Pflicht nehmen.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Oktober 2010


Signalwirkung aus Straßburg

Der Europarat debattierte / LINKE-Delegierte Katrin Werner war dabei

Von Antje Stiebitz **


Vom 4. bis zum 8. Oktober tagte die Parlamentarische Versammlung des Europarats in Straßburg. Die Themenpalette reichte von den Roma über die Bekämpfung von Extremismus bis zu Kindern ohne Eltern. Katrin Werner, LINKE-Delegierte des Bundestages, debattierte mit.

Das vierte Mal in diesem Jahr traf sich in Straßburg die Parlamentarische Versammlung, um fünf Tage lang zu diskutieren. Unter den Delegierten war auch Katrin Werner, eine von zwei LINKE-Bundestagabgeordneten, die im Europarat vertreten sind. Die Themen waren zahlreich, alle gehörten zu den Kernaufgaben des Europarates: Menschenrechte, demokratische Grundrechte und rechtstaatliche Grundprinzipien.

»Leider haben die Beschlüsse des Europarats keine gesetzgebende Kraft, sondern nur Signalwirkung«, bedauert Katrin Werner. Ihrer Meinung nach wendet Deutschland die Aussagen des Europarates viel zu wenig in der Politik an. Als Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte möchte sie die Menschenrechtskonventionen aber gerne auf die nationale Ebene holen und in der alltäglichen Politik wiederfinden. Im Bezug auf Menschenrechte werde gerne über Afrika oder Aserbaidshan gesprochen, moniert die 37-Jährige, aber nicht über das eigene Land. Beispielsweise versicherte Außenminister Guido Westerwelle zu Beginn der Sitzungswoche auf ihre ausdrückliche Frage noch, dass die Rückführungen von Roma-Kindern nach Kosovo 100-prozentig rechtsstaatlich seien, und am Donnerstag sprach sich die Parlamentarische Versammlung in der Dringlichkeitsdebatte zu den Roma dafür aus, von Rückführungen nach Kosovo abzusehen. Signalwirkung ohne Konsequenzen.

Katrin Werner, selbst Mutter einer dreijährigen Tochter, interessiert sich vor allem für die Rechte von Kindern. Und die werden Donnerstagnachmittag im Hemicycle, dem eindrucksvollen Plenarsaal, diskutiert. Hier wird jeder Beitrag in acht Sprachen simultan übersetzt. Katrin Werner hat zwei kurze Reden vorbereitet: Eine zum »Recht von kranken und behinderten Kindern auf Bildung« und eine weitere zu »Kindern ohne elterliche Fürsorge«. Es ist das erste Mal, dass sie im Europarat sprechen wird.

In der Caféteria geht sie die Texte ein letztes Mal durch, sie wirkt nervös. Doch wenig später spricht sie für die Vereinigte Europäische Linke über die Notwendigkeit inklusiver Bildungsmodelle, von einer Schule für alle und einer präventiven familienfreundlichen Politik, damit Kinder nicht allein gelassen werden. Das Thema liegt ihr spürbar am Herzen. Am Abreisetag hat sie eine Reihe von Entschlüssen des Europarats im Gepäck. Die trägt sie in ihre Fraktion und ihren Wahlkreis. »Der große Radius, mit dem man viele Menschen erreicht, ist das nicht«, fügt sie hinzu. Sie wünscht sich eine größere Wirkung des Europarats.

Für die Zukunft kann sich Katrin Werner vorstellen, einmal als Berichterstatterin zum Thema Kinderrechte zu arbeiten: Wie viele Kinder leben in Deutschland auf der Straße, wie viele werden ohne Eltern groß, wie funktioniert Kinderhandel? Solchen Fragen würde sie gerne nachgehen. »Doch im Moment ist alles noch neu für mich und ich habe tierisch Respekt davor, wie die Leute im Europarat arbeiten.«

** Aus: Neues Deutschland, 15. Oktober 2010


Weitere Beiträge zu Europa

Zur Rassismus-Seite

Zur Menschenrechts-Seite

Zurück zur Homepage