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Tobias Pflüger

Die deutsche Rolle bei der Militarisierung Europas

1 Die EU - keine zivile zwischenstaatliche Institution mehr, sondern auf dem Weg zur Militärmacht

"Überall wo die Europäische Union ist, herrscht Frieden."
Friedbert Pflüger, CDU, Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag, am 01. Juni 1999 auf der Europakonferenz der nationalen Parlamente in Berlin. (Süddeutsche Zeitung 2.6.99)

Friedbert Pflüger bringt mit diesem Satz das allgemeine Verständnis der Europäischen Union zum Ausdruck.* Doch Pflüger übersieht dabei, dass zwar innerhalb der EU Frieden "herrscht", dass aber die Europäischen Union dabei ist, sich Stück für Stück auch zu einer Militärunion zu mausern. Im Folgenden soll es darum gehen zu untersuchen, welche Rolle die bundesdeutsche Regierung bei der Militarisierung der Europäischen Union nach dem Jugoslawienkrieg gespielt hat. Zentral dabei ist, welche konkreten Beschlüsse und Pläne und welche reale Politik insbesondere im Militärbereich seit Ende des NATO-Krieges gegen Jugoslawien in Deutschland umgesetzt wurden.

Die EU hat auf ihren beiden Gipfeln nach dem Krieg wesentliche Beschlüsse in Bezug auf eine eigenständige Militärmacht EU gefasst. Unter deutscher Präsidentschaft wurden beim EU-Gipfel in Köln am 06.06.1999 Einigungen erzielt, die dann beim EU-Gipfel in Helsinki 10./11.12.1999 konkretisiert wurden: Neu installiert wurden ab dem 01.03.2000: ein "sicherheitspolitisches Komitee", ein EU-Militärausschuss und ein EU-Militärstab. Wesentlichster Punkt ist eine eigenständige EU-Interventionstruppe von ca. 60.000 Mann. Zugleich einigte man sich bei der EU auf zwei Möglichkeiten bei EU-Militärinterventionen: Entweder mit Rückgriff auf NATO-Equipment oder eigenständig. Verkauft wurde das Ganze als "Konsequenz" aus dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Den noch neutralen Staaten Finnland, Schweden, Österreich und Irland wurden "konstruktive Enthaltungen" zugestanden. D.h. die Militarisierung der EU konnte vorangetrieben werden und die "neutralen" Staaten verstießen nicht direkt gegen ihre "Neutralität". Die neue rechts-rechtsextreme Regierung Österreichs liegt in der Außen- und Militärpolitik im übrigen voll auf Linie der EU, das derzeitige Verhalten der anderen EU-Staaten ist zumindest was die wesentliche Außen- und Militärpolitik anbelangt, also lediglich ein "Strohfeuer". Wie allerdings Großbritannien und Irland in einer militarisierten EU zusammenarbeiten sollen, ist offen. Diese Militarisierung der EU geht einher mit einer Oligopolisierung der europäischen Kriegswaffenindustrie, federführend sind hier wie im Militärbereich die EU-Kernstaaten Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Schließlich sollen einer europäischen Interventionsarmee auch "europäische" (sprich insbesondere britische, deutsche und französische) Waffen zur Verfügung stehen.

2 Die Vorgeschichte der Militärmacht Europa, die Rolle Großbritanniens, Österreichs und Frankreichs

Die Vorgeschichte der Entwicklung zu einer Militärmacht Europa ist sehr lang und differenziert zu betrachten. Lange Jahre waren insbesondere die französische und die deutsche Regierung (im übrigen unabhängig von der jeweiligen Regierungsfarbe) diejenigen, die innerhalb der Europäischen Union auch eine gemeinsame Militärpolitik (oder wie es so schön heißt: "gemeinsame europäische Sicherheitspolitik ") vorantrieben. Die Gründung des Eurokorps (inzwischen bestehend aus Truppen aus Frankreich, Deutschland, Spanien, Belgien und Luxemburg) und innerhalb des Eurocorps die Herausbildung der deutsch-französischen Brigade waren erste Schritte zu einer gemeinsamen europäischen Militärpolitik. Doch auch die Niederlande drängten auf gemeinsame "europäische" militärische Fähigkeiten. So wurde 1995 das deutsch-niederländische Korps in Münster gebildet, was u.a. zu der obskuren Tatsache führte, dass es eigenständige niederländische Heeresstrukturen, die in den Niederlanden befehligt werden, nicht mehr gibt.

Doch zu einer gesamteuropäischen Militärpolitik kam es nicht. Das lag entscheidend an der ablehnenden britischen Haltung. Der britische Premierminister Tony Blair vollzog hier jedoch einen Schwenk: Im Oktober 1998 schlug Tony Blair auf dem informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Pörtschach vor, eigenständige militärische Fähigkeiten der EU zu schaffen.

Interessant ist die Rolle der (alten) Regierung des offiziell neutralen Österreichs beim Prozess hin zu einer gemeinsamen Militärpolitik der EU: Auf einer Internetseite des militärnahen "Österreichischen Instituts für Europäische Sicherheitspolitik" heißt es: "Am 3. und 4. November 1998 fand in Wien auf Initiative von Bundesminister Dr. Werner Fasslabend die erste Konferenz der Verteidigungsminister der Europäischen Union statt. Obwohl das Ziel einer gemeinsamen Verteidigungspolitik im Vertrag von Maastricht festgeschrieben wurde, war eine Ministertagung europäischer Verteidigungsminister im Rahmen der Europäischen Union bisher tabu, da vor allem Großbritannien Tagungen außerhalb der NATO und WEU ablehnte. Die von Premierminister Blair eingeleitete Europäisierung der britischen Sicherheitspolitik hat nicht nur die Durchführung der Konferenz in Wien erleichtert, sondern wesentlich zu deren Erfolg beigetragen. Im Rahmen der Konferenz, die informellen Charakter hatte, wurde vor allem die Umsetzung des Vertrages von Amsterdam im Verteidigungsbereich beraten, insbesondere das künftige europäische Krisenmanagement und die wichtige Frage der europäischen Rüstungskooperation. Der britische Verteidigungsminister Robertson informierte die Konferenz über die neuen britischen Vorstellungen im Zusammenhang mit der Schaffung einer autonomen europäischen Verteidigungskapazität. Obwohl in Wien noch nicht klar war, dass die Verteidigungsminister der Union regelmäßig tagen werden, sprachen sich seither Chirac und Blair am 4. 12. beim französisch-britischen Gipfel von St. Malo für regelmäßige Treffen der Verteidigungsminister im institutionellen Rahmen der EU aus. Österreich ist damit eine strategische Weichenstellung zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik gelungen. Die bahnbrechende Initiative des österreichischen Verteidigungsministers gehört sicher zu den bleibenden Resultaten der österreichischen Präsidentschaft."

Die Initiative des britischen Premierministers wurde wie beschrieben bei einem französisch-britischen Gipfel in St. Malo am 04.12.1998 konkretisiert. In dem dort von den "linken" Regierungen der beiden Länder verabschiedeten Papier werden konkrete Pläne vorgelegt: "Erklärung über die europäische Verteidigung: ... Um Entscheidungen treffen zu können und - wenn die Allianz als ganzes nicht betroffen ist - militärische Maßnahmen zu billigen, muss die Europäische Union über geeignete Strukturen verfügen. Sie muss auch über die Mittel zur Bewertung von Situationen, über Aufklärungsquellen und über die Mittel zur Strategieplanung verfügen, ohne unnötige Verdoppelung und unter Berücksichtigung der derzeitigen Mittel der Westeuropäischen Union (WEU) und der Entwicklung ihrer Beziehungen zur Europäischen Union. In dieser Hinsicht muss die Europäische Union auf angepasste militärische Mittel (frühzeitig festgelegte europäische Mittel innerhalb des europäischen Pfeilers der NATO oder nationale oder multinationale Mittel von außerhalb der NATO) zurückgreifen können. Europa braucht verstärkte bewaffnete Kräfte, die in der Lage sind, schnell auf neue Gefahren zu reagieren, und die sich auf eine starke und wettbewerbsfähige industrielle und technologische Grundlage stützen."

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer bringt den Verlauf der schnellen Entwicklung der Militarisierung Europas in seiner Rede als dann amtierender Ratspräsident vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 12. Januar 1999 auf den Punkt: "Die kollektive Verteidigung wird weiterhin Aufgabe der NATO bleiben. Aber die Europäische Union muss auch die Fähigkeit zu einem eigenen militärischen Krisenmanagement entwickeln, wann immer aus Sicht der EU ein Handlungsbedarf besteht und die nordamerikanischen Partner sich nicht beteiligen wollen. Dieses Thema hat durch die Initiative Tony Blairs in Pörtschach und das französisch-britische Treffen in St. Malo neue Impulse bekommen. "

3 Die deutsche Rolle oder "Wir setzen uns an die Spitze einer beginnenden Entwicklung"

Die neue deutsche Regierung setzte sich an die Spitze der beginnenden Bewegung bei den Regierenden für eine Militärpolitik Europas. Dazu wieder Joschka Fischer in seiner Rede vor dem Straßburger Parlament: "Die Schaffung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität könnte nach dem Binnenmarkt und der Wirtschafts- und Währungsunion von großer Wichtigkeit für die weitere Vertiefung der Europäischen Union werden. Wir werden uns in unserer Doppelpräsidentschaft in Europäischer Union und WEU mit Nachdruck darum bemühen, diese neue Dynamik seit Pörtschach zu nutzen. Bis zum Europäischen Rat in Köln wollen wir einen Bericht über die Möglichkeiten der Fortentwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität erarbeiten."

Gesagt, getan. Unter deutscher Führung wurden aus den Absichtserklärungen und Plänen konkrete Beschlüsse, die alsbald umgesetzt wurden: Unter der deutschen Doppelpräsidentschaft bei EU und WEU ging plötzlich - trotz gleichzeitigem NATO-Krieg gegen Jugoslawien - alles Schlag auf Schlag: Am 18.03.99 findet in Bonn ein trilaterales Treffen der Verteidigungs- und Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens, also der Kernstaaten der EU, statt. An diesem Tag - Oskar Lafontaine holte gerade seine Entlassungsurkunde ab - wurde neben der aktuellen Eskalation im Falle NATO-Kosovo-Jugoslawien der weitere Fahrplan für die europäische Militärpolitik beschlossen.

Am 10./11. Mai 1999 - trafen sich die 28 Außen- und Verteidigungsminister der Westeuropäischen Union (WEU) und die der WEU-assoziierten Staaten in Bremen. Innerhalb der WEU werden die neuen britisch-französisch-deutschen Initiativen besprochen. Am 28./29.05.1999 wurde bei deutsch-französischen Konsultationen in Toulouse die Umwandlung des Eurokorps von einer gemischten Einheit aus Hauptverteidigungskräften und Krisenreaktionskräften in eine Einheit der Krisenreaktionskräfte beschlossen. Damit kann das Eurocorps nun vollständig als Interventionstruppe genutzt werden. Der entscheidende Punkt bei der Militarisierung der europäischen Union war dann jedoch der EU-Gipfel vom 3. bis 4. Juni 1999 in Köln. Dort fielen die wesentlichen, bekannten Beschlüsse. Staatspräsident Chirac und Bundeskanzler Schröder ergriffen dann im Oktober 1999 die Initiative, den Posten des "Mister GASP" innerhalb der EU zu stärken.

Am 14.10.1999 trafen sich der deutsche, der französische und der spanische Regierungschef mit den Spitzen der Konzerne DASA (Daimler-Chrysler-Aerospace, deutsch), Lagardčre/Matra (französisch) und Casa (spanisch) in Strasbourg, um die Fusion der drei Konzerne zur EADS (European Aeronautic, Defence and Space Company) bis Mitte 2000 bekannt zu geben. Das Versprechen im Koalitionsvertrag, "die Koalition unterstützt aktiv die Bemühungen um den Zusammenschluss der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie", wurde also eingelöst. Die Machtverhältnisse im neuen und ersten tatsächlich europäischen Kriegswaffenkonzern EADS zeichnen sich ab, wenn man sich die Verteilung der zentralen Managerposten und die Verteilung der Aktienpakete anschaut: Die Posten werden unter 23 Deutschen, 25 Franzosen und vier Spaniern aufgeteilt. Zu 34,43 Prozent geht das Kapital der EADS an die Börsen Frankfurt, Paris und Amsterdam. 65,57 Prozent der Aktien bleiben bei einer Holdinggesellschaft, die zu jeweils gleichen Anteilen (45,75 %) von deutschen (Daimler-Chrysler) und französischen (Französische Pooling-Company) Mutterfirmen, sowie zu 8,5 Prozent von der spanischen Holding SEPI gehalten werden. Bis Juli 2003 müssen die DASA und Lagardčre ihre Anteile - laut Vertrag - behalten.

4 Die politische Stoßrichtung

Staatssekretär Dr. Walther Stützle aus dem Bundesministerium der Verteidigung, konkretiserte die Bedeutung der deutschen Präsidentschaft auf dem Symposium "Sicherheit, Menschenrechte & Stabilität in Europa und der NATO" am 28. Juni 1999 im Haus der Industrie in Wien: "Der Gipfel von Köln hat für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und für den Aufbau einer europäischen Verteidigungspolitik ganz konkrete Entscheidungen getroffen. Der Wert dieser Entscheidungen ist in der Öffentlichkeit bisher wenig registriert worden. ... Köln ist ein Einschnitt für den Aufbau einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft."

Zum Verhältnis der bisher zentralen Funktion der EU als wirtschaftlicher Gemeinschaft zur jetzigen Funktion als Militärgemeinschaft sagte Stütztle: "Die Sache ist einfach: Eine Union, die sich nicht verteidigen kann, ist keine Union. Eine harte Währung, die eine schwache Verteidigung hat, ist auf lange Frist keine harte Währung. Daraus gilt es, die praktischen Schlüsse für die Tagesarbeit zu ziehen, es gilt, die zwei Prozesse miteinander zu harmonisieren und im Gleichgewicht zu halten."

5 Die Umsetzung im Bereich des Militärischen.

Was hat die Bundesregierung nun im Militärbereich direkt nach dem Jugoslawienkrieg konkret unternommen, um diesen Prozess voranzutreiben? - Die wesentlichen Teile der Struktur der Bundeswehr blieben nach dem Krieg vorerst gleich, es kam nur zu kleinen Veränderungen: Die bisherige offizielle Gesamtzahl der Bundeswehr wurde von 340.000 auf 324.000 korrigiert, die Anzahl der Soldaten der Krisenreaktionskräfte, die als einziges für Kampf- und Kriegseinsätze genutzt werden können und dürfen, wurde von bisher 53.600 Soldaten oder 16 Prozent der Gesamtzahl der Bundeswehr auf etwas über 60.000 erhöht. Die Teile mit höherer militärischer "Qualität" wurden erhöht, während eine rein zahlenmäßige Reduzierung stattfand. Quantitativ wurde abgerüstet, qualitativ aufgerüstet. Mehr konnte und wollte der Bundesminister der Verteidigung Rudolf Scharping zu diesem Zeitpunkt im Juni 1999 nicht verändern. Wesentlicher Grund dafür war die mit viel Vorschusslorbeeren eingesetzte Kommission "gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" unter der Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Der Bericht der Kommission sollte ursprünglich erst im Sommer 2000, später dann Ende Mai 2000 vorgelegt werden.

Doch schon vor der Vorlage des Kommissionsberichts wurden schon einige nicht unwesentliche Veränderungen insbesondere im europäischen Bereich und im Umfeld der Bundeswehr vorgenommen: Verschiedene bisher zivile Bereiche wurden eng vernetzt mit militärischen Komponenten, so im Gesundheitsbereich und im Bereich der Wirtschaft:
Eurokorps als Vorreiter: Am 28./29.05.1999 wurde bei deutsch-französischen Konsultationen in Toulouse die Umwandlung des Eurokorps von einer gemischten Einheit aus Hauptverteidigungskräften und Krisenreaktionskräften in eine Einheit der Krisenreaktionskräfte beschlossen. Damit kann das Eurokorps, das aus Truppen aus Deutschland, Frankreich, Spanien, Belgien und Luxemburg besteht, nun vollständig als Interventionstruppe genutzt werden. Auch früher war das Eurokorps Vorreiter bei europäischen zwischenstaatlichen Militärkooperationen. Im übrigen soll die geplante neue europäische Eingreiftruppe zusätzlich zum schon bestehenden Eurokorps aufgestellt werden. Das Kommando der KFOR im Kosovo wurde bei der Kommandoübergabe im Frühjahr 2000 ebenfalls an das Eurokorps gegeben. Ein spanischer General des Eurokorps löste den deutschen General Reinhardt als Befehlshaber ab. So ist das Eurokorps die europäische Truppe im Einsatz, dazu kommt dann noch die geplante neue europäische Eingreiftruppe.

Bundeswehr im Krankenhaus: Die Bundeswehr hat während des Jugoslawien-Krieges begonnen mit ausgewählten Kliniken zivilmilitärisch zusammenzuarbeiten, d.h. es gibt dort einen gegenseitigen Austausch von Personal und Material "schon in Friedenszeiten" für die spätere Nutzung bei "Landes- und Bündniseinsätzen". Festgelegt wurde das in Verträgen zwischen Bundeswehr und ausgewählten Krankenhäusern ähnlich dem auf der Bundeswehr-Homepage befindlichen "Muster-Rahmenvertrag". Ziel ist, dass bei einem "Bündnisfall" (sprich also in einem nächsten Kriegsfall) auch ein Rückgriff auf zivile Krankenhausstrukturen möglich wird. Deshalb werden nun Bundeswehr-Ärzte in zivilen Krankenhäusern ausgebildet und in Einzelfällen ist eine Rekrutierung zivilen Personals durch Bundeswehrkrankenhäuser geplant. Bei Einstellungsgesprächen werden Ärzte gefragt, ob sie etwas gegen eine zeitlich begrenzten Einsatz in Bundeswehrstrukturen hätten.

Bundeswehr und Wirtschaft: Es gibt jetzt eine umfangreiche Zusammenarbeit zwischen privaten Firmen und Bundeswehr. "Eine strategische Partnerschaft auf dem Weg in den modernen Staat" sei das. In Teilen der Bundeswehr findet Outsourcing und Privatisierung statt. Ein umfangreicher Personalaustausch zwischen Bundeswehr und den beteiligten Firmen ist vorgesehen. Zu den Firmen gehören auch bisher vollständig zivile Firmen aus allen möglichen Branchen. Wieder findet eine zivilmilitärische Vermischung statt. Kriegführung wird quasi Teilprivatisiert. Für die neue europäische Militärpolitik bedeutet diese zivilmilitärischen Zusammenarbeiten eine enorme Effektivierung der Bundeswehr im Einsatz, das hat dann natürlich auch bündnispolitische Bedeutung.

6 Die Vorstellungen der Weizsäcker-Kommission und die Scharpingsche Regierungs-Vorlage

Im Bericht der Weizsäcker-Kommission heißt es recht ausführlich zum Bereich europäische Militärpolitik (Seite 29, Punkt 37): "Dem selben Zweck dient auch die erstrebte Einschmelzung der Westeuropäischen Union in die Europäische Union. Die Union wird dadurch auch de jure zur Sicherheitsallianz. Das ist deswegen bedeutsam, weil die Beistandsklausel des WEU-Vertrags verbindlicher ist als der Artikel 5 des Nordatlantikpakts. Deutschland sollte darauf hinwirken, dass jene EU-Staaten, die der WEU nicht oder nur assoziiert angehören, ihre Vorbehalte gegenüber der im WEU-Vertrag fixierten Beistandsverpflichtung revidieren. Im Juni 1999 öffnete der Europäische Rat in Köln den Weg zur Stärkung der GASP. Er beschloss, die Westeuropäische Union, die in den letzten Jahren zunehmend auf die Führung eigenständiger Militäreinsätze in Krisensituationen ausgerichtet worden war, bis Ende 2000 in der Europäischen Union aufgehen zu lassen. Das von Truppen aus Frankreich, Deutschland, Spanien, Belgien und Luxemburg gebildete Eurokorps soll nach dem Willen dieser Staaten zu einer schnellen Eingreiftruppe fortentwickelt werden. Im Dezember 1999 entschied der Europäische Rat in Helsinki, dass die Mitgliedstaaten bis 2003 in der Lage sein müssen, gemeinsam binnen 60 Tagen 50.000 - 60.000 Soldaten, ergänzt durch See- und Luftstreitkräfte, an einen Krisenherd jenseits des NATO-Gebiets zu entsenden und ein Unternehmen dieses Umfangs mindestens ein Jahr lang aufrechtzuerhalten. Aufgabe dieser Streitkräfte sind humanitäre Aktionen und Rettungsunternehmen, Krisenverhütung und Krisenbewältigung, friedensbewahrende und friedenserzwingende Operationen. Die Planung muss sich schon heute darauf einstellen, dass die Verteidigungspolitik nicht mehr länger aus der europäischen Integration ausgeklammert wird. Neben dem NATO-Bezug muss auch dieser EU-Rahmen für die künftige Bundeswehr verbindlich sein. Den Weichenstellungen von 1999 werden weitere Schritte folgen. Auf absehbare Zeit bedeutet das kein Aufgehen der Streitkräfte der EU-Staaten in einer europäischen Armee. Aber die Staats- und Regierungschefs der Union haben die Fähigkeit zu gemeinsamem militärischen Handeln in Krisen zum entscheidenden Test für die internationale Glaubwürdigkeit der Union gemacht."

Doch noch spannender sind die Entscheidungen zur Bundeswehr nach der Vorlage des Kommissionsberichts, die dann europapolitische Implikationen haben. Rudolf Scharping (SPD) will die Bundeswehr auf 255.000 einsatzbereite Soldaten verkleinern. Zu den 255.000 "präsenten Kräften" kommen 22.000 Soldaten, die sich in Aus- und Fortbildung, Berufsförderung oder Erziehungsurlaub befänden. Der Wehrdienst wird ab 2002 von zehn auf formal neun Monate verkürzt, doch die neun Monate sind eine optische Täuschung, real sind es sechs Monate, theoretisch kämen dazu dann noch Wehrübungen von bis zu drei Monaten. Die Zeitung "Die Welt" schreibt dazu zutreffend: "Da im Ministerium kaum jemand davon ausgeht, dass ernsthaft Reservisten im großen Maßstab einberufen werden, ergibt sich aus der neuen Planung ein tatsächlicher Wehrdienst von nur noch sechs Monaten." Die für die Rekrutierung wichtige Möglichkeit für die Wehrpflichtigen, den Wehrdienst bei deutlich besserer Bezahlung "freiwillig" auf 23 Monate zu verlängern, soll beibehalten werden. Nach den Scharpingschen Plänen soll die Bundeswehr dann 180.000 bis 200.000 Zeit- und Berufssoldaten haben. Der Zivildienst (vermutlich 10 Monate) wäre damit wohl um ein Vielfaches länger als der reale Dienst bei der Bundeswehr. Zentral ist die zukünftige Größe der "Einsatzkräfte", sie soll 150.000 Soldaten betragen, das ist fast eine Verdreifachung von vor dem Jugoslawienkrieg (53.600 Soldaten)!

Im verbindlichen "Eckpunkte"-Papier Rudolf Scharpings sind jene Aussagen zentral, welche die Fähigkeit der Bundeswehr, an Kriegen teilzunehmen, "verbessern" sollen: "Die Bundeswehr muss in der Lage sein, sich gleichzeitig an zwei Operationen mittlerer Größe zu beteiligen".... "Die Ausrüstung der Bundeswehr wird umfassend modernisiert".... "Die Verbesserung der strategischen Verlegefähigkeit hat erste Priorität" etc.

Die Bundeswehrveränderung wird ganz schnell eingetütet, damit sich kein Widerstand regt, die Angriffsfähigkeit der Bundeswehr wird strukturell, finanziell und personell abgesichert. Hans-Peter von Kirchbach der "Held des Oderbruchs" hat als Generalinspekteur der Bundeswehr ausgedient, die Bundeswehr als Hilfsverein zu verkaufen ist nicht mehr notwendig. Sein Nachfolger als Generalinspekteur ist Harald Kujat. Kujat ist typischer Repräsentant der neuen Bundeswehr im Einsatz. Kujat hat umfangreiche Erfahrung mit der Bundeswehr im Einsatz, er war als NATO-Vertreter in Sarajevo und er gilt zusätzlich als SPD-nah. Kujat steht für den neuen Kriegskurs der Bundesregierung.

Unter der Überschrift "Bundeswehretat wird jährlich um zwei Milliarden wachsen" gab Rudolf Scharping der Zeitung "Die Welt" ein Interview. Scharpings Aussage heißt einerseits enorme interne Umschichtungen im Bundeswehr-Haushalt (durch Privatisierung [s.u.]) und andererseits jährliche Steigerungsraten in Milliardenhöhe zu den schon jetzt 59,6 Mrd. DM Militärausgaben (nach NATO-Kriterien) im Jahr 2000.

Scharping bringt die neueste Bundeswehr auf den Punkt mit seiner Aussage: "Viel wahrscheinlicher ist, dass auf dem Territorium anderer Länder deutsche Sicherheit verteidigt werden muss. Dazu braucht man braucht man Truppen, die beweglicher, leichter verlegbar, länger und über längere Distanzen versorgbar sein müssen."

Alle drei vorliegenden Konzeptionen (Weizsäcker/Kirchbach und Scharping) stellen einen weiteren Schritt zur Kriegsführungsfähigkeit dar: Krieg und Kriegsführung sind mit der neuen NATO-Strategie auch für die Bundesrepublik und damit die Bundeswehr wieder zum "normalen" Mittel von Politik geworden. Beide Papiere verstärken diesen Trend zu Krieg. Es muss oberstes Ziel sein, diese Fähigkeit zum Kriegführen wieder rückgängig zu machen. Zentrales Ziel in der jetzt folgenden Debatte muss es sein, eine strukturelle Kriegsführungsunfähigkeit und strukturelle Angriffsunfähigkeit der Bundeswehr zu erreichen. Dies ist insbesondere dadurch möglich, dass die Komponenten der Bundeswehr abgerüstet werden, die militärisch die Kriegsführungsfähigkeit herstellen und die gefährlichste militärische Qualität ausmachen, dies sind die Krisenreaktionskräfte bzw. Einsatzkräfte von 157.000 Soldaten (Kirchbach-Papier), 140.000 Soldaten (Kommissions-Bericht) bzw. 150.000 Soldaten (Scharping).

Die Bundesregierung setzt diese "nationalen" Beschlüsse dann auch gleich in Europa um: Für die neue Eingreiftruppe werden deutsche Soldaten zur Verfügung gestellt, die Anteile innerhalb des Eurokorps, die bisher Hauptverteidigungskräfte waren wurden, nun Krisenreaktionskräfte und die Zusammenarbeit in den schon bestehenden gemeinsamen Korps mit den Niederlanden (deutsch-niederländisches Korps in Münster), mit Dänemark und Polen (im Nordkorps in Szeczin) werden intensiviert.

7 Drei Fallen

Friedensbewegung, kritische Friedensforschung , Linke und andere könnten in drei aufgestellte Fallen laufen:
  1. Die Reduzierung der Bundeswehr auf 255.000 (Scharping), 240.000 (Kommission) oder 290.000 (Kirchbach) Mann und Frau ist keine Abrüstung, es ist aufgrund der Aufstockung der Einsatzkräfte (früher Krisenreaktionskräfte- KRK) eine qualitative Aufrüstung! Deshalb ist ein Begrüßen einer rein zahlenmäßigen bzw. quantitativen Abrüstung kontraproduktiv, es muss darum gehen, die Teile der Bundeswehr abzurüsten, mit denen Krieg geführt werden könnte!
  2. Die isolierte Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht ist kontraproduktiv. Die Abschaffung der Wehrpflicht ist weder im Kirchbach-Papier noch im Kommissionsbericht vorgesehen. Aber insbesondere im Kommissionsbericht wird mit der Einführung eines "Auswahlwehrdienstes" das Ende der Wehrpflicht eingeläutet. Das Ende der Wehrpflicht wäre endlich das Ende eines staatlichen Zwangsdienstes. Doch: Wenn nur die Wehrpflicht fallen würde, aber die Bundeswehr weiter qualitativ aufgerüstet wird, sprich wenn die Kriegsführungsfähigkeit weiter ausgebaut wird, dann ist dies zwar für die betroffenen Männer individuell zu begrüßen, doch friedenspolitisch ist dies ein enormer Rückschritt. Die Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht muss deshalb immer in den Gesamtkontext gestellt werden, zentrales Ziel muss sein, die Bundeswehr strukturell angriffsunfähig zu machen. Die Frage der Wehrpflicht ist nicht die zentrale Frage der deutschen Militärpolitik, die zentrale Frage ist, ob eine Interventionsarmee gewünscht wird oder nicht, wir setzen uns für die Verhinderung einer solchen kriegsfähigen Armee ein.
  3. Aus dieser obigen Feststellung wird von manchen die Schlussfolgerung gezogen, dann müssten Friedenskräfte sich für den Erhalt der Wehrpflicht einsetzen, weil damit eine Interventionsarmee verhindert werden könnte. Auch diese Schlussfolgerung ist kurzsichtig. Auch bisher ging Wehrpflicht und der Ansatz einer Interventionsarmee zusammen. Ein Beibehalten der Wehrpflicht verhindert die Kriegsführungsfähigkeit nicht. Das Kirchbach-Papier hatte als Vorgabe, genau die Kombination von Wehrpflicht und Interventionsarmee zu erreichen, der Kommissionsbericht versucht mit der Einführung der Auswahlwehrpflicht beides unter einen Hut zu bekommen. Nach wie vor bleibt für die Bundeswehrführung die Wehrpflicht die "beste" Rekrutierungsmöglichkeit von späteren Berufs- und Zeitsoldaten. Deshalb: Pro-Wehrpflicht-Positionen sind kontraproduktiv!

8 (Militärisches) Kerneuropa

Die entscheidenden Weichenstellungen hin zur Militärmacht Europa waren unter deutscher EU/WEU-Präsidentschaft vorgenommen worden. Es kann angesichts der wechselnden Führungsrolle der Kernstaaten der EU (Großbritannien, Frankreich und Deutschland) nicht davon die Rede sein, dass die deutsche Regierung die Militarisierung der EU allein vorangetrieben hat, doch wie der Verlauf zeigt, hat die deutsche Regierung wesentlichen Anteil an der Geschwindigkeit des Prozesses und der konkreten Umsetzung der Militarisierung der EU.

Außenminister Joschka Fischer hat in seiner Rede "Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" am 12. Mai 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin die Idee eines Kerneuropa aufgegriffen, die ursprünglich einmal von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers von der CDU am 01.07.1994 in die Diskussion gebracht worden war. Fischer nennt Kerneuropa nun aber "die Bildung eines Gravitationszentrums". "Ein solches Gravitationszentrum müsste die Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration sein und bereits alle Elemente der späteren Föderation umfassen." Jacques Chirac konkretisierte Fischers Vorstellungen am 30. Mai 2000: In einer europapolitischen Grundsatzrede betonte er, es müsse innerhalb der EU wie bei der "Tour der France" eine "Spitzengruppe" geben, die schneller voranprescht. Nach Chiracs Ansicht gebe es schon zwei positive Beispiele für diese "Spitzengruppe": 1. Das Eurokorps, das im Kosovo kürzlich das Kommando der KFOR übernommen hat und 2. die britisch-französische Initiative beim Gipfel in St. Malo 1998 zu einer gemeinsamen europäischen Militärpolitik. Interessanterweise beides Beispiele aus dem Bereich der europäischen Militärpolitik. Das Gravitationszentrum zeichnet sich ab: Die Kernstaaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien sollen insbesondere in der europäischen Militärpolitik mal anfangen Nägel mit Köpfen zu machen, der einzige Unterschied zu Schäuble/Lamers ist wohl der, dass Fischer sich auch vielleicht Italien mit im Boot vorstellen kann. Ziel ist jedenfalls ein militärisches Kerneuropa.

Die Kernstaaten der EU sind ja zugleich auch die europäischen Kernstaaten der NATO. Deutschland zählt spätestens seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien und seiner Rolle während des Bombardement und danach (zeitweise Befehlsgewalt bei den KFOR-Truppen im Kosovo) zu den NATO-Kernstaaten.

Die neue NATO-Strategie wird derzeit auf die Bundeswehr durchdekliniert. Die NATO ist ein Interventionsbündnis geworden, die EU ist auf dem Weg zur Militärmacht und die Bundeswehr wird verändert in eine Profi-Interventionsarmee. Friedensbewegung und Friedensforschung haben nun die Aufgabe die konkreten Auswirkungen der Militarisierung den Menschen bewusst zu machen: "Bundeswehr und Krankenhäuser", "Frauen in die Bundeswehr" und "Wirtschaft und Bundeswehr" sind hier genauso Ansatzpunkte wie die Entwicklung im Bereich der Militarisierung der EU.

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