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Revolution, Verfassung und Republik

Von Norman Paech, Hamburg

Die anhaltende Diskussion über die EU-Verfassung und deren Legitimierung durch ein Referendum veranlasst uns, einen grundlegenden Text zur Bedeutung von Verfassungen in demokratischen Gesellschaften zu dokumentieren. Wir geben im Folgenden eine Rede wieder, die der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech im April 1999 in Weimar gehalten hat.


1. Revolution und Verfassung

Welchen Grund gibt es, nach fünfzig Jahren Grundgesetz auch des achtzigsten Jahrestages einer Verfassung zu gedenken, die keine fünfzehn Jahre der Realität stand gehalten hat? Ich kann mich nicht erinnern, dass es vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren in der Bundesrepublik Veranstaltungen zur Würdigung der Weimarer Reichsverfassung gegeben hätte. Aber vielleicht ist es die nachwirkende Enttäuschung über eine Verfassungsdebatte im frisch vereinigten Deutschland, die nichts anderes gebracht hat als die Demütigung eines Enthusiasmus, der aus Art. 146 GG das Werk einer neuen Verfassung - "von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen" - in Angriff nehmen wollte, und von den Bonner Technikern schließlich in den bürokratischen Bei- und Abtritt des Art. 23 GG gezwungen wurde?

Erinnern wir uns, der Verfassungsenthusiasmus kam aus dem Osten unseres Landes, nur von einigen unverbesserlichen Optimisten des Fortschritts im Westen unterstützt. Er wollte aus dem, was viele eine Revolution in ihrem Staat nannten, einen substantiellen Zugewinn an Freiheit und vor allem an Gleichheit für die Gesellschaft des neuen Staates formulieren, und in der neuen Verfassung kodifizieren. Eingedenk der Verbindung von Revolution und Verfassung in der europäischen Moderne, stand das Verfassungsprojekt für den sichtbaren Beweis, dass die Geschichte mit dem Untergang der sozialistischen Staaten eben doch noch nicht zu Ende sei. Aber spricht sein definitives Scheitern für das Ende der Geschichte und für die Zwecklosigkeit dieser "nachholenden Revolution", wie Habermas sie nannte? Ich meine nicht.

Auf jeden Fall knüpften die Umwälzungen in den osteuropäischen Ländern gesellschaftspolitisch an das Erbe der bürgerlichen Revolutionen und ihre kapitalistischen Verkehrsformen an und standen verfassungspolitisch in der Tradition der atlantischen Verfassungskultur. Also Grund genug, sich auf diesen Zweiklang von Revolution und Verfassung in der eigenen Geschichte zu besinnen, wo die eigene Gegenwart so wenig Anhaltspunkte dafür liefert.

Weder die Virginia Bill of Rights von 1776 noch die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 waren die ersten Verfassungen, die auf revolutionären Umwälzungen beruhten. Aber es waren die Verfassungen, auf denen dann der gesamte europäische Verfassungsprozess aufbaute und der auch heute für die Konstitutionalisierung so vieler junger Staaten die historische Folie abgibt. Der Unterschied zwischen beiden Verfassungen wird vor allem sichtbar an der Tatsache, dass die Amerikanische Verfassung mit nicht mehr als 12 Änderungen gut 200 Jahr überlebt hat, Frankreich in der gleichen Zeit aber ebenso viele Verfassungen mit zahllosen Änderungen benötigte. Fragt man nach dem Warum, so stößt man auf den ganz unterschiedlichen Charakter der Revolutionen, die den Kodifikationen vorausging.

In der amerikanischen Revolution stand nicht die Beseitigung einer Feudalordnung, die Umwälzung einer Eigentums- und Gesellschaftsordnung auf der Tagesordnung, sondern die Unabhängigkeit vom Mutterland. Den Verfassungsvätern stellte sich die Aufgabe, die Volkssouveränität und die Freiheit und Gleichheit ihrer Bürger - nicht ihrer Sklaven - in eine neue Regierungsform zu gießen. Nicht die soziale Frage war der Inhalt der amerikanischen Revolution, sondern die institutionelle Sicherung der Unabhängigkeit, der individuellen Freiheit und des Einzelnen auf seinem eigenen Weg zum Glück. Es mag sein, dass in der fehlenden Notwendigkeit, die soziale Frage in der Verfassung zu thematisieren, ein Grund für ihre Überlebensfähigkeit liegt. Ganz anders die französische Revolution, selbst wenn auch sie Volkssouveränität und Verfassung auf ihre Fahnen schrieb. Sie war eine soziale Revolution, der es um die Umwälzung der Eigentums- und Gesellschaftsordnung und die Umverteilung des Reichtums ging. Beide Revolutionen waren in ihrer Grundtendenz bürgerlich kapitalistisch aber die französische hatte mit der feudal-absolutistischen Herrschaft ein ungleich größeres und schwieriger zu beseitigendes Hindernis auf ihrem Weg. Und diese soziale Dynamik trieb sie gleichzeitig an die Grenzen der bürgerlichen Ordnung, wo der Ruf der revolutionären Massen nach sozialer Gerechtigkeit und Solidarität über diese Grenzen bereits hinaus drang.

Verfassungen sind im besten Fall Urkunden erfolgreicher Revolutionen, Kodifikationen revolutionärer Kämpfe und ihrer Errungenschaften. Sie ziehen die Summe und schließen ab. Aber sie weisen auch mit ihren Prinzipien, Rechten und Pflichten über sich hinaus auf eine Wirklichkeit, die die Gesellschaft in einem ständigen Prozess des Fortschritts noch herzustellen hat. Die französische Verfassung wurde auf diesem Weg der Fortentwicklung bereits 1793 gestoppt. Aber das Vermächtnis ihrer sozial-revolutionären Herkunft wirkte auf den ganzen europäischen Verfassungsprozess der nächsten beiden Jahrhunderte.

Wie stand es damit nun in Deutschland? Wir wissen, die Revolution im beginnenden 19. Jahrhundert kam von oben, und so war auch ihr sozialer Inhalt. Die ersten Verfassungen - es begann 1818 in Bayern - waren oktroyiert, von oben verordnet. Der revolutionäre Funke, der in einigen deutschen Landen von Frankreich her übergesprungen war, wurde in den Kriegen gegen die napoleonische Armee erstickt. Und wenn Hans Ludwig von Hatzfeld 1815 schrieb: "Beinah alle Klassen der Einwohner glauben, durch ihre Aufopferung eine Konstitution erkämpft zu haben", (1) so können wir die Realität dieses Satzes nur dann richtig einschätzen, wenn wir berücksichtigen: hier sprach ein Fürst - und ein verlorener Krieg ist noch keine Revolution.

Die Grundrechte, die diese Verfassungen verbürgten, bezogen ihre Legitimation nicht aus dem vorstaatlichen Naturrecht, sondern vom monarchischen Willen. Dennoch, die Verfassungskämpfe des Vormärz, die auf dem Grat zwischen monarchischer und demokratischer Souveränität balancierten, konnten der absolutistischen Macht Grenzen errichten, die zugleich die Freiheiten der Bürger erweiterten. Als sich dann 1848 der revolutionäre Ruf des Volkes nach uneingeschränkter Souveränität mit der Forderung nach sozialem Fortschritt verbindet, scheint sich für einen Augenblick die soziale Gleichheit und solidarische Brüderlichkeit der Gesellschaft gegenüber der individuellen Freiheit der Bürger und der nationalen Einheit des Staates behaupten zu können. Aber wenn es auch in einem Ausschußbericht über die deutsche Reichsverfassung vom Oktober 1848 heißt: "Es kann nicht darauf ankommen, das alte Gebäude neu zu übertünchen oder einen neuen Balken einzuschieben; es bedarf einer Umgestaltung unserer bisherigen Verfassung mit neuen Elementen, neuen Grundformen," so waren damit weder die Eigentumsverhältnisse noch die Verteilung von Reichtum und Armut gemeint. Das nationale Element überwog in der Paulskirchen-Versammlung bei weitem das demokratische. Volkssouveränität wurde weniger mit Fortschritt als mit nationaler Einheit identifiziert.

Als dann die Paulskirchen-Verfassung scheiterte und sich das Bürgertum im preußischen Verfassungskonflikt mit der monarchischen Gewalt arrangierte - interessant ist der Ratschlag der Minister und Vertrauten des preußischen Königs, als dieser die Verfassung durch einen königlichen Freibrief ersetzen will, statt dessen zum Mittel der Korrektur durch Verfassungsänderung und Interpretation zu greifen, ein bis heute hin gültiger Rat - als sich also das Bürgertum in das Bett des Monarchen legte, hatte es das demokratische Projekt zugunsten der nationalen Einheit aufgegeben. Die produktive Spannung zwischen Revolution und Verfassung verkehrte sich in die staatsrechtliche Defensive der beamteten Juristen, die es gerade "in unserer Zeit einer ungestümen politischen Gärung und Entwicklung als ein unabweisbares Bedürfnis" bezeichneten, "eine urkundliche Formulierung des Staatsrechts zu haben als ein festes Fundament für jede Weiterbildung und als einen sicheren Wall gegen unberufene Neuerungssucht."(2) Die Verfassung nicht mehr als verbürgte Summe der revolutionären Errungenschaften, sondern als notarielle Urkunde gegen die Anmaßungen des Fortschritts. Nicht die Verfassung ordnet die Staatsgewalt, sondern der Staat ordnet die Verfassung. Sie war damit nicht mehr, was Marx in seiner Kritik des Hegelschen Staatsrechts forderte: wirklicher Ausdruck des Volkswillens, "...damit der Mensch mit Bewußtsein tut, was er sonst ohne Bewußtsein durch die Natur der Sache gezwungen wird zu tun."(3)

Fortschritt und Demokratie waren also nach wie vor unerfüllt. Das Volk stand immer noch vor den Zitadellen des Bürgertums, wenn es auch in seinen Fabriken arbeiten durfte. Und eine Verfassung, die nicht nur juristischer Ausdruck der Staatsorganisation bleiben sollte, mußte alle drei Elemente in sich vereinen: Volk, Demokratie und Fortschritt. Dazu sei aber notwendig, betonte Marx, "dass die Bewegung der Verfassung, dass der Fortschritt zum Prinzip der Verfassung gemacht wird, dass also der wirkliche Träger der Verfassung, das Volk, zum Prinzip der Verfassung gemacht wird. Der Fortschritt selbst ist dann die Verfassung."(4) Der Satz ist nicht so kryptisch und mysteriös, wie oft behauptet, wenn man erkennt, dass er natürlich über die liberalen Forderungen der demokratischen Verfassungsfreunde hinausgeht, und nicht mehr im Bürgertum, sondern im Proletariat das Subjekt des historischen Fortschritts sieht.

2. Republik und Verfassung

Die Verwirklichung von Demokratie, Fortschritt und Verfassung stand jedoch erst am Ende des vom Kaiserreich ausgelösten Weltkrieges an. Was sich im Herbst 1918 in kurzer Zeit von der Meuterei der Matrosen über den Aufstand der Soldaten und Arbeiter zur Revolution des Volkes ausweitete, setzte nicht nur die Beendigung des Krieges und die Errichtung der Republik auf die Tagesordnung, sondern die ganze soziale Frage. Was am 9. November 1918 noch wie die Proklamation der ganzen Bandbreite der Revolutionären Ziele aussah: Philipp Scheidemann (SPD) rief den Massen von einem Fenster des Reichstagsgebäudes zu: "Arbeiter und Soldaten! Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt. Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die Republik". Zwei Stunden später verkündete Karl Liebknecht (Spartakusbund/USPD) im Lustgarten vor dem Berliner Schloß vor seinen Anhängern die "freie sozialistische Republik Deutschland" und rief zur "Vollendung der Weltrevolution" auf.- das stellte sich bald schon als das symbolische Urteile über den Misserfolg auch dieser Revolution heraus: Das Volk gespalten und auf dem Weg zur sozialistischen Republik an der bürgerlichen Ecke stecken geblieben. Aber Republik immerhin!

Bleiben wir nüchtern und ehrlich. Was vermochte der revolutionäre Elan der Obleute, von Spartakusbund und KPD gegen die Koalitionen des Rats der Volksbeauftragten, des Ebert-Groener-Paktes und des Stinnes-Legien-Abkommens? Die neue Regierung - der Rat der Volksbeauftragten - , eine Koalition aus Vertretern der Mehrheitssozialdemokraten und USPD, stützte sich vollkommen auf die im Amt belassene Bürokratie, die alten Experten, bis hin zu den Staatssekretären der letzten kaiserlichen Regierung. (Ein deutsches Modell der Kontinuität) Die Abmachung Eberts mit der Obersten Heeresleitung gegen die "Ausbreitung des terroristischen Bolschewismus", wie es Hindenburg am gleichen Tag nannte und an alle Heeresgruppen verbreitete, verhinderte wohl einen Bürgerkrieg, aber sicherte der Armee den Status eines Staates im Staate außerhalb parlamentarischer Kontrolle. Und noch am 15. November hatten die Unternehmerverbände den Gewerkschaften die Sozialisierung gegen das Linsengericht des Achtstundentages und der Betriebsräte abgekauft. "Der Gang der Entwicklung hat gezeigt, dass bis weit in die Reihen der Unabhängigen Sozialdemokratie die Massen mit der Revolution nur den Sturz der Dynastien bezweckten."(5) Ihre Forderungen waren stark sozial betont, aber im großen Ganzen verließen sie doch nicht den Rahmen der bürgerlichen Demokratie.

Damit war die "dialektische Demokratie" wie Ernst Fraenkel, Syndikus des Metallarbeiterverbandes und Rechtsberater beim Parteivorstand der SPD, das Weimarer System später nennen sollte, bereits konstituiert und das Schicksal der zukünftigen Verfassung vorweggenommen: "Die Staatsform des aufgeklärten Hochkapitalismus",(6) wie Fraenkel sie auch nannte. In ihr war der Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit zwar nicht aufgehoben aber soweit befriedet, dass er die Handlungsfähigkeit des Staates nicht lähmte. Gleichzeitig ließ er die Möglichkeit für die Austragung der gesellschaftlichen Gegensätze und die verfassungsrechtliche Verbürgung des sozialen Fortschritts immer noch offen.

Als die Abgeordneten der Nationalversammlung im Frühjahr 1919 den Verfassungsentwurf des Berliner Professors Hugo Preuß berieten, wurden die letzten Ausläufer revolutionärer Unruhen in Bremen, Berlin, Braunschweig und München im Blutbad regulärer Truppen und Freikorps ertränkt. Das alte politische und militärische Systems Mitteleuropas war zusammengebrochen, die Monarchie beseitigt, aber die Hoffnung der Revolutionäre und der Sozialdemokratie auf eine Mehrheit in der Nationalversammlung scheiterte an der zu wenig beachteten Reorganisation der bürgerlichen Parteien im Hintergrund der Unruhen. Damit war der Widerspruch zwischen diesen bürgerlichen Parteien, die die nationale Einheit eines politisch freien Volkes zum Inhalt der Demokratie machten, und den proletarischen Schichten, die über die nationale Demokratie hinaus die soziale Demokratie erkämpfen wollten, in der verfassunggebenden Versammlung selbst institutionalisiert. Und so können wir die Charakterisierung, die Karl Marx schon für die französische Verfassung von 1848 formulierte, auch für die Weimarer Verfassung von 1919 gelten lassen: "Der umfassende Widerspruch aber dieser Konstitution besteht darin: Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, dass sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den anderen, dass sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen."(7)

Die Weimarer Reichsverfassung hat diesen Widerspruch kodifiziert - u.zw. in ganz besonderer Form. Sie verbürgt die Republik, die allgemeinen und freien Wahlen (zum ersten mal auch die der Frauen), die politischen Freiheiten des Volkes, die Souveränität seiner Vertretung durch das Parlament und die Teilung der Gewalten, ja sogar die Möglichkeit Gesetze direkt durch das Volk durch Volksbegehren und Volksentscheid beschließen zu lassen. Doch in den Garantien zur sozialen Frage ist sie ungleich diffuser und unentschlossen: Sie sicherte den Unternehmern die Wirtschafts- und Eigentumsfreiheit und setzte daneben, dass das Reich "für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen" kann (Art. 156). Das sieht wie ein Kompromiss aus, ist aber in Wahrheit das scheinbar unentschiedene Nebeneinander der beiden antagonistischen Wirtschaftssysteme, denen es in der freien Wildbahn des Marktes überlassen wird, sich gegeneinander durchzusetzen. (Wir kennen das vom Bonner Grundgesetz). Dass diese Konkurrenz zugunsten Privateigentum und Kapitalismus ausgehen musste, dafür sprachen die übrigen sozialen Absichtserklärungen, zur Sozialversicherung, zur Arbeit ("Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs", Art 157) usw., auf die sich niemand berufen konnte. Aus dem Recht zur Enteignung nach Art. 153 hat die Rechtsprechung des Reichsgerichts ein juristisches Bollwerk für Privateigentum und kapitalistische Wirtschaftsordnung machen können, indem sie die Entschädigungspflicht auf jeden im öffentlichen Wohlfahrtsinteresse notwendigen Eingriff ausgedehnt hat. (Auch diese Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof fortgeführt). Die Verfassung bestätigte die Gewerkschaften als gleichberechtigte Tarifpartner (Art. 165, das ist nicht wenig) und sicherte den Beamten ihre wohlerworbenen Rechte (129), sie versprach, kinderreiche Familien ebenso zu fördern wie die Kriegsteilnehmer und den Mittelstand, sie widmete dem Schulwesen acht Artikel (im GG einer) und gewährte den Konfessionen weitgehende Sonderrechte (Art. 137, 138). Kurz, eine "Grabbelkiste" der Grundrechte und Grundpflichten, von denen der große Politikwissenschaftler Otto Kirchheimer 1930, im Herbst der Republik und drei Jahre vor seiner Emigration sagte: "So haben die Grundrechte des deutschen Volkes im ganzen gesehen nicht die Funktion erfüllt, die Grundrechten zukommt. Es sind und konnten nach Entstehung und Inhalt keine Werte sein, in deren Namen das deutsche Volk einig sein kann. Wohl aber haben sie durch ihre schillernde Mehrdeutigkeit jenen bedenklichen Mangel an politischer Entscheidungsfähigkeit, der die Agonie unseres heutigen Lebens kennzeichnet, erheblich befördert und dem demokratischen Staatswesen nicht jenen eindeutigen programmatischen Rückhalt gegeben, dessen er und seine ausführenden Organe mehr denn je bedurft hätten."(8)

Damit ist aber das Urteil über die Weimarer Verfassung noch nicht gesprochen. Was konnte aus einer so unentschiedenen Konstellation antagonistischer Kräfte nach Krieg und Revolution überhaupt als Verfassungsordnung entstehen? Der bedeutendste sozialdemokratische Verfassungsrechtler Hermann Heller verteidigte auf der Verfassungsfeier des Deutschen Studentenverbandes 1929 die Verfassung vehement gegen linke und rechte Invektiven, indem er auf den disziplinierenden und zivilisierenden Rahmen hinwies, den eine Verfassung den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen aufzwingt: "Gut nennen wir also eine heutige Verfassung, indem sie den geschichtlich unausweichlichen Kampf in kulturermöglichende Formen bringt, den schöpferischen Kräften aber die Freiheit zur Gestaltung einer schöneren Zukunft läßt."(9) Lassen wir einmal dahingestellt, inwieweit eine derartige Äußerung drei Jahre vor dem Untergang der Republik eher eine Beschwörung denn eine Feststellung ist. Wo Bürgertum und Arbeiterklasse gleichsam in einem politischen Patt einander gegenüberstehen, ist in der Tat die Sicherung eines demokratischen gesellschaftlichen Verfahrens, an das sich die "unausweichlichen Kämpfe" zu halten haben, keine zu verachtende Leistung einer Verfassung. Doch hat das Weimar geschafft?

3. Demokratie und Verfassung

Wenden wir uns dem unglücklichen Ende der Republik und dem weitverbreiteten Vorwurf der Mitverantwortung der Verfassung für den Untergang der ersten deutschen Demokratie zu. Es ist historisch ebenso sinnlos, die Verfassung von 1919 für die steigende Flut antidemokratischer Kräfte - ja nicht nur der Nationalsozialisten - und ihre brutale Entschlossenheit, die Demokratie zu beseitigen, verantwortlich zu machen, wie es aktuell unsinnig ist, das Grundgesetz und das Völkerrecht selbst für ihre Verletzung durch eine große Koalition bürgerlicher Parteien zu schmähen. Dennoch gibt es verfassungsrechtliche Institutionen und normative Weichenstellungen, die diesen Kräften den Weg der Zerstörung erleichtern und sogar mit einem Schein der Legalität versehen können.

Den bürgerlichen Parteien war es nämlich in der Nationalversammlung gelungen, eine "Nebenverfassung" in die Reichsverfassung mit einzubauen. Sie sicherte eine anti-parlamentarische Reserve ab, deren autoritäre Dynamik allerdings schon nach kurzer Zeit ihre Betreiber und Nutznießer selbst mit in den Strudel diktatorialer Säuberungs- und Willküraktionen riss. Dies war in erster Linie der sog. Notstandsartikel 48, der die geradezu unantastbare außerparlamentarische Machtstellung des Reichspäsidenten begründete. Auf sieben Jahre durch eine Volkswahl mit einer demokratischen Legitimation versehen, verfügte er über eine praktisch unbegrenzte Kompetenz zur Auflösung des Reichstags (Art. 25) und zur Ernennung des Reichskanzlers und der Reichsminister ohne parlamentarische Mitwirkung. Seit 1932 setzte er mit diesem Besteck die Volksvertretung faktisch außer Kraft. Er konnte zudem die Reichswehr, die seiner alleinigen Kommandogewalt unterstand, gegen ein Land einsetzen, das "die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllte", und sie zur "Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" einsetzen. Zu den Maßnahmen des Art. 48 gehörte auch der Erlass von Verordnungen, mit denen er das Parlament von der Gesetzgebung ausschalten konnte. Tatsächlich wurde in der Weimarer Republik nur in den Zeiten, in denen die Wirtschaft nicht von der Krise geschüttelt wurde, nach der Normalverfassung regiert. Das rapide Abgleiten in die Nebenverfassung Anfang der dreißiger Jahre und ihr bruchloser Übergang in die Nazidiktatur war eine voraussehbare Konsequenz. Man mußte nur wie Otto Kirchheimer die Augen von dem juristischen Mechanismus der Verfassung auf die Interessen der stärksten Fraktionen lenken. "Ob politische Demokratie", schrieb er 1930, "zeitweilige (kommissarische) Diktatur gem. Art. 48 der Verfassung oder Dauerdiktatur unter Suspendierung der Verfassung, gilt weitesten Kreisen des Bürgertums von seinem Standpunkt aus mit Recht als Zweckmäßigkeitsfrage, die nur unter dem einen Gesichtspunkt zu entscheiden ist: was dient am besten der Aufrechterhaltung des status quo?"(10) Und genauso war es. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: die Kräfte, die die Verfassung eines parlamentarischen Regierungssystem mit einer antiparlamentarischen Nebenverfassung versehen hatten, wurden nicht etwa Opfer ihres Verfassungsmanövers, sie profitierten auch in der dritten Stufe der Dauerdiktatur davon, bis das ganze System in Scherben ging. Und auch das muß noch einmal betont werden: nicht die Verfassung hat diese Interessen hervorgebracht und mit den übermächtigen destruktiven Tendenzen ausgestattet. Die Verfassung hat ihnen aber mit der anti-parlamentarischen Öffnung einen institutionellen Vorteil verschafft, den sie skrupellos nutzten, um den parlamentarischen Gegner zu vernichten. Sie hatten 1919 diese Notbremse des Ausnahmezustandes in die Verfassung einbauen können, die sie dann bei gegebenem Anlass betätigten, ohne Rücksicht auf die Vernichtung ihres eigenen Werkes.

Das parlamentarische System hätte durchaus funktionieren können, wenn es nur von den Nationalsozialisten angegriffen worden wäre. Aber die Rede von der "Krise des Parlamentarismus" und die Entlegitimierung der Verfassung begann schon früher in den Reihen der bürgerlichen Parteien, der Justiz, der politischen und juristischen Verfassungsdoktrin sowie der Presse und forderte den Übergang vom Normal- zum Ausnahmezustand. Carl Schmitt, der Meisterdenker dieser anti-konstitutionellen Inzucht, bekannte 1932 öffentlich, dass ein Verfassung mit normativem Charakter überhaupt schädlich sei: " Das deutsche Volk hat keinen Beruf zur Verfassungsgesetzgebung ... Institutionen .... verbauen ... uns wahrscheinlich einen Weg, der frei bleiben muss...Eine Verfassung, wenn sie einmal da ist ..., wird man ... nicht leicht wieder los; sie ist dann nämlich eine Quelle der Legalität."(11) Der mit chauvinistischen Emotionen geführte Angriff gegen die Grundfesten der politischen Demokratie bündelte sich in der Trias : 'Weimar-Versailles-Genf', Verfassung, Friedensvertrag und Völkerbund. Die Befreiung von diesen Fesseln, d.h., die Befreiung von der Legalität, verkündeten die Schamanen der Verfassungslehre als die Bedingung für "die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates". "Dieser ... Erfolg mag dabei vom politischen Lebensstrom vielfach in nicht genau verfassungsmäßigen Bahnen erreicht werden: dann wird die durch die Wertgesetzlichkeit des Geistes wie durch die Artikel der Verfassung aufgegebene Erfüllung der Integrationsaufgabe trotz dieser einzelnen Abweichungen dem Sinn auch der Verfassung eher entsprechen als ein paragraphentreueres, aber im Erfolg mangelhafteres Verfassungsleben."(12) Erinnern wir uns des Ratschlags des Grafen von Westfalen an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV aus dem Jahr 1852: nicht die Beseitigung, die Interpretation der Verfassung schützt die Monarchie. Ein zeitloses Rezept, welches auch heute noch unsere Verteidigungs- und Außenminister entzückt.

In der Endphase der Schlacht um Weimar einigt sich die Staatsrechtslehre auf den Ruf: Rettung der Verfassung durch die Opferung der Verfassung. Carl Schmitt 1932: "Stellt man ... in der Erkenntnis, dass die Weimarer Verfassung zwei Verfassungen sind (er trennt hier den Organisationsteil vom Grundrechtsteil), eine dieser beiden Verfassungen zur Wahl," so müsse der parlamentarische Gesetzgebungsstaat zugunsten der "substanzhaften Ordnung" des Grundrechtsteils geopfert werden. "Gelingt das, so ist der Gedanke eines deutschen Verfassungswerkes gerettet."(13) Er erhält dafür von seinem Kollegen Ernst Rudolf Huber volles Lob, "dass er in dieser bedrohlichen Lage ... die Forderung nach der Legalität in ihrer verfassungsrechtlichen Nichtigkeit entlarvt"(14) habe. (Landeck/Huber, Verfassung und Legalität, 1932) Er konnte sich auch nur deshalb noch auf die Grundrechte stützen, weil Rechtsprechung und Lehre sie zuvor schon weitgehend von ihrer sozialstaatlichen Substanz gesäubert hatten.

4. Resümee

Die Weimarer Verfassung fiel zweifellos in eine Epoche, die trotz Krieg, Revolution und ökonomische Krise immer noch zur Wachstumsphase des Kapitalismus zählte. Erst jetzt lösten sich die letzten Überreste des feudalen und halbfeudalen Systems auf. Und das Bürgertum erhielt erst jetzt seine volle und seiner ökonomischen Macht entsprechende Stellung, als man ihm voreilig schon das Ende seiner Geschichte verkündete. 1919 sah man zweifellos zu Recht in Deutschland die stärkste Bastion des kontinentalen Sozialismus und unterschätzte die dahinter sich auftürmenden Festungsmauern des Bürgertums. Die Arbeiterbewegung erkämpfte zwar die Prinzipien und Verfahren der politischen Demokratie, die Raum für die Organisation einer neuen Sozialordnung gab. Aber sie unterminierte selbst den gesellschaftlichen Neuanfang indem sie den bürgerlichen Organisationsapparat mit seiner Bürokratie und den alten Funktionärseliten übernahm. Nur im Grundrechtsteil konnte sie die Option für eine neue Sozialordnung offenhalten. Die wurde ihr aber schon bald - gleichsam hinter ihrem Rücken - durch die Justiz wieder entzogen.

Von links ist der Verfassung noch z.Zt. ihrer Gültigkeit vorgeworfen worden, sie habe sich nicht entschieden. Sie unterliege dem Irrtum, "dass die Prinzipien der Demokratie allein bereits die Prinzipien einer bestimmten sozialen oder weltanschaulichen Ordnung seien." Man habe es unterlassen, der Verfassung ein politisches und soziales Aktionsprogramm beizugeben, "in dessen Namen die Organisation einer neuen Gesellschaftsordnung stattfinden solle". "Am Ende des bürgerlichen Zeitalters, als jene denkwürdigen Institutionen wie Rechtsstaat, bürgerliche Bildung, richterliche Unabhängigkeit und Meinungsfreiheit durch die spezifischen Lebensbedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems ihren eigentlichen Sinngehalt verloren, hätte die Demokratie nur noch ein eindeutiges Bekenntnis zu einem inhaltlichen Organisationsprinzip der Gesellschaft, dem Sozialismus, neu zu beleben vermocht."(15) Ob Ende oder Höhepunkt des bürgerlichen Zeitalters, die rechtsstaatlichen Institutionen sind in ihm immer gefährdet und müssen verteidigt werden. Es ist aber ein Fehlschluß, von der Verfassung die Inhalte und Organisationsprinzipien einer neuen Gesellschaftsordnung zu verlangen, wenn die Revolution nicht die Kräfte freisetzt, die diese neue Ordnung durchzusetzen in der Lage ist. Weimar hat gezeigt, dass die demokratischen Kräfte noch weit schwächer waren, dass sie nicht einmal die Angriffe auf ihre eigenen Existenzbedingungen in der bürgerlichen Ordnung abwehren konnten. Was bereits 1919 im Wahlergebnis zur Nationalversammlung sich andeutete und in der Verfassung nur zu einem äußerst labilen Kompromiss mit einer gefährlichen Nebenverfassung ausreichte, war in den folgenden Jahren nicht umkehrbar zugunsten der fortschrittlichen Kräfte. Das aber war nicht der Weimarer Verfassung anzulasten.

Ich schließe mit einer einzigen Lehre aus Weimar, die gerade heute von großer Aktualität ist: Die Verteidigung der Legalität, von Verfassung und Völkerrecht, ist eine Grundbedingung für unsere demokratische Existenz.

Fußnoten
  1. Zitiert nach Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt.a.M. 1991, S. 120.
  2. So Carl v. Kaltenborn, Einleitung in das consitutionelle Verfassungsrecht, Leipzig 1863, S. 342, zit. nach D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 144.
  3. Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrecht, MEW 1, 259.
  4. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW a.a.O.
  5. Otto Kirchheimer, Weimar - und was dann?, in: ders., Politik und Verfassung, Frankfurt a.M., S. 12.
  6. Ernst Fraenkel, Um die Verfassung, 1932, zit. nach Wolfgang Luthardt (Hrg.), Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927 - 1933, Frankfurt. a.M., 1978, S. 47.
  7. Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW 7, S. 43.
  8. Otto Kirchheimer, Weimar - und was dann? S. 39, 40.
  9. Hermann Heller, Freiheit und Form in der Reichsverfassung, 1929, in: ders., Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. 2, S. 374.
  10. Otto Kirchheimer, Weimar - und was dann? S. 20.
  11. Carl Schmitt, Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland u. Westfalen, Jg. 1932, Nr. 1, S. 30 f.
  12. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München, Leipzig, 1928, S. 78.
  13. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, Berlin 1980, S. 98.
  14. Friedrich Landeck (Pseudonym für Ernst Rudolf Huber), Verfassung und Legalität, in: Deutsches Volkstum. 14, 1932, S. 734.
  15. Otto Kirchheimer, Weimar - und was dann? S. 55
Gekürzte Fassung einer Rede, gehalten am 18. April 1999 im Nationaltheater zu Weimar auf einer Veranstaltung "80 Jahre Weimarer Verfassung" der PDS.


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