Der "Raubzug" im Osten führte ins Desaster
Vom Jubel über die EU-Erweiterung ist nicht viel geblieben
Von Hannes Hofbauer *
Am 1. Mai vor fünf Jahren sind zehn Länder der Europäischen Union beigetreten. Davon taten dies
nur drei in territorialer Kontinuität, nämlich Polen, Ungarn und Malta. Von den sieben anderen
existierten sechs (Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, Slowakei, Slowenien) 15 Jahre zuvor
überhaupt noch nicht, während von Zypern de facto nur der griechische Teil Mitglied geworden ist.
Brüssel hat den osteuropäischen Zerfall der Jahre 1989 bis 1991 also nur häppchenweise verdaut.
Vor dem EU-Beitritt war die Zerschlagung nach nationalen Gesichtspunkten angesagt, anschließend
daran die Übernahme in die Struktur der Nordatlantikallianz. Erst danach durfte periphere Integration
unter das Brüsseler Regime stattfinden. Und das ging folgendermaßen vonstatten: Am Anfang der
Transformation stand jeweils eine Hyperinflation mit dreistelligen Raten, einzig in Ungarn mit 60
Prozent und der Tschechoslowakei mit 35 Prozent ging die Vernichtung von alten Spareinlagen
etwas sanfter über die Bühne. Die 600-prozentige Inflationsrate des Jahres 1990 im
bevölkerungsreichsten Beitrittsland Polen machte allen Konsumversprechen ein Ende, um neuen
Investoren Sicherheiten und geräumte Märkte präsentieren zu können.
Die erste Hälfte der 90er Jahre war dann von einer kompletten wirtschaftlichen Neuorientierung
geprägt, die mit Produktionsrückgängen von 50 bis 60 Prozent ganze Landschaften
deindustrialisierte, um sie in der Folge für akkumulationssuchendes Kapital großteils aus
Westeuropa zu öffnen. Der vollständige Eigentumswandel hieß dem lateinischen Wort für
»berauben« entsprechend privatisieren. An dem »Raubzug« beteiligten sich vor allem deutsche,
italienische, niederländische und österreichische Unternehmen.
Das Aufnahmeprozedere in die Europäische Union funktionierte über ein bilaterales Screening-
Verfahren, neudeutsch »Acquis communautaire« genannt, in dem jeweils die EU-Kommission als
Ganzes jedem einzelnen Land gegenüberstand. Der auf 80 000 Seiten kodifizierte Rechtsbestand
der EU wurde auf diese Weise in 31 Kapiteln den Neuankömmlingen übergestülpt. Als zentral
erwiesen sich hierbei die vier kapitalistischen Freiheiten von Kapital, Waren, Dienstleistungen und
Arbeitskraft, wobei letztere erst mit einer Verspätung von bis zu sieben Jahren, also im Jahr 2011, in
Kraft tritt.
Die Aufnahme selbst, 2002 in Kopenhagen beschlossen, war dann nur mehr der juristische
Formalakt zur Eingliederung der neuen Märkte in die Brüsseler Union. Der ökonomischen
Konvergenz folgte aber mitnichten eine soziale. Dies bedeutete, dass zum Beispiel über extreme
Lohndifferenzen innerhalb des sogenannten Integrationsraumes der neoliberale Wind zunehmend
aus dem Osten bläst. Jahrzehnte lang übliche steuerliche Progression kam zudem mit der
Einführung der Flat tax in vielen osteuropäischen Ländern ebenso unter Druck wie das gesamte in
der Nachkriegszeit aufgebaute Sozialgebäude.
Dem Hochgesang auf den Liberalismus, der in Osteuropas neuen EU-Staaten seit fünf Jahren zu
jedem Festakt zelebriert wurde, folgte rasch die Ernüchterung. Die Weltwirtschaftskrise hat den
Osten des Kontinents mindestens ebenso fest im Griff wie die westlichen Zentren der EU. Nach der
Periode der Abzockei, wie sie vor allem im Bankensektor geradezu sprichwörtlich geworden ist,
folgte parallel zum Platzen der Hypothekenkredite in den USA der ökonomische Katzenjammer
zwischen Prag, Tallinn, Warschau und Ljubljana.
Im Jahr 2008 waren die euphemistisch als »emerging markets« (»Wachstumsmärkte«)
bezeichneten europäischen Peripherien im Osten erneut, wie schon vor 20 Jahren, mit heftigen
Produktionseinbrüchen und Inflationsängsten konfrontiert. Der am 23. April 2009 veröffentlichte
»World Economic Outlook« des Internationalen Währungsfonds (IWF) prognostiziert ein Schrumpfen
des Bruttoinlands-produktes um 2,9 Prozent, wobei einzelnen baltischen Staaten ein Minus von 12
Prozent vorausgesagt wird. Die Länder mit eigenen Währungen versuchen über die Abwertungen
ihre Exportwirtschaft, die im wesentlichen auf einer im Vergleich zu Deutschland drei- bis achtmal
billigeren Arbeitskraft beruht, gegenzusteuern, stürzen damit jedoch gleichzeitig jene Unternehmen
und Bürger, die Eurokredite aufgenommen haben, in den Schuldenturm. In der osteuropäischen
Eurozone, die mittlerweile die Slowakei und Slowenien (neben Kosovo und Montenegro) umfasst, ist
ein nationaler finanzpolitischer Spielraum nicht mehr gegeben. Dort hofft man auf Hilfe aus Brüssel,
wie sie bereits Lettland und Ungarn erhalten haben.
Ungarns neuer Ministerpräsident, Gordon Bajnai, gibt im Auftrag der Kreditgeber aus Washington
(IWF) und Brüssel (EU) für die folgenden Monate eine restriktive Politik vor: Er werde
Sparprogramme umsetzen, die, wie er sagte, »weh tun werden«. Gemeint sind damit
Gehaltskürzungen für Staatsdiener, Streichungen der 13. Auszahlung für Rentner sowie des
Erziehungs- und Kindergeldes. Auch Zuschüsse für Heiz- und Energiekosten sollen in Ungarn bald
der Vergangenheit angehören. Dafür will man an der Donau den Mehrwertsteuersatz von 20 auf 23
Prozent erhöhen, um klar zu machen, wer die Krise bezahlen soll.
* Aus: Neues Deutschland, 2. Mai 2009
Weitere Beiträge zu EU-Europa
Zurück zur Homepage