Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kapitalexpansion

Hannes Hofbauer zieht eine düstere Bilanz der EU-Osterweiterung

Von Ramona Sinclair *

Die Europäische Union expandiert zunehmend nach Osten. Am 1. Mai 2004 traten zusammen mit Malta und Zypern acht osteuropäische Staaten der EU bei; am 1. Januar 2007 folgten mit Rumänien und Bulgarien zwei weitere Staaten aus dem ehemaligen sowjetischen Einflußgebiet.

Der österreichische Historiker Hannes Hofbauer hat mit seinem im Jahre 2003 erschienenen Buch »Osterweiterung -- Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration« vor den politischen, ökonomischen und sozia­len Folgen dieses Prozesses gewarnt. Nach Hofbauer diente die militärische Zerschlagung Jugoslawiens durch Bürgerkrieg und NATO-Intervention nicht zuletzt als Exempel, um widerspenstige Regierungen Osteuropas dazu zu bewegen, auf eigenständige volkswirtschaftliche Konsolidierungskonzepte zu verzichten und ihr Land schutzlos der Expansion des anlagehungrigen westeuropäischen Kapitals auszuliefern.

Industriezusammenbruch

In seinem jetzt erschienenen Buch zur EU-Osterweiterung zieht Hofbauer auf Grundlage der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Mitgliedsländern eine vorläufige, düstere Bilanz: Nirgendwo habe ein osteuropäischer Arbeitsmarkt von dem EU-Beitritt profitieren können.

Nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Modernisierungsprojektes in den achtziger Jahren mutierten florierende Industriegebiete blitzschnell zu Billiglohnregionen. Die politischen Eliten - ob Nationalkonservative oder neoliberal gewendete Kommunisten - verkauften die ehemals in Volkseigentum befindlichen Betriebe meist für ein Spottgeld an die westeuropäische Konkurrenz. Diese legte zahlreiche Produktionsstandorte still, funktionierte andere zu verlängerten Werkbänken der westeuropäischen Kernunternehmen um. Die Volkswirtschaften der neuen EU-Mitgliedsländer verharren auch jetzt noch ausnahmslos im Status von Zulieferern für westeuropäische Großunternehmen. Nur ein einziges osteuropäisches Land - Slowenien, das als entwickelte Industrieregion von der Abkopplung vom unterentwickelten Süden Jugoslawiens profitierte - habe wirtschaftlich den Stand des Zusammenbruchsjahres 1990 wieder erreichen können.

Der weitgehende Zusammenbruch von Industriezentren ging einher mit einem Sterben landwirtschaftlicher Betriebe. Deren Produkte werden durch die massenhafte Einfuhr hochsubventionierter Agrarprodukte aus Westeuropa zunehmend vom Markt verdrängt. Dies änderte sich auch nach dem EU-Beitritt der osteuropäischen Länder kaum. Bei der Verteilung von Agrarsubventionen in Brüssel erhält ein dort ansässiger Bauer derzeit nur ein Viertel des Betrages, der seinem westeuropäischen Kollegen zugestanden wird.

Dritter Weltkrieg

Hofbauer hat zahlreiche Regionen Osteuropas bereist, mit vielen Leuten gesprochen, sich vor Ort selbst ein Bild gemacht. Erschreckend ist seine Schilderung der sozialen Lage in der Slowakei: »Wir sind Opfer des Dritten Weltkrieges, der ein ökonomischer Krieg ist«, zitiert Hofbauer das Resümee eines slowakischen Gewerkschaftsführers aus dem Jahre 2003. Das neoliberale Sparprogram der damaligen Regierung verursachte kurz danach eine verzweifelte Hungerrevolte der slowakischen Roma. Bei den nächsten Parlamentswahlen siegte in Bratislava zwar die Opposition. Die neue Regierung verfüge aber - wie Hofbauer schreibt - nach der Privatisierungsorgie der abgewählten Machthaber über fast keinen sozialpolitischen Spielraum mehr.

Massenhafte Armut fand Hofbauer in Rumänien und Bulgarien vor. Über die Hälfte der Rumänen gelten nach offiziellen Angaben als arm, in Bulgarien sollen es 80 Prozent der Bevölkerung sein. In beiden Ländern nimmt statistisch nachweisbar die Landbevölkerung zu - die Hungernden fliehen aus der Stadt und fristen notgedrungen ein ärmliches Dasein als Subsistenzbauern.

Die soziale Polarisierung in Osteuropa nimmt immer weiter zu - eine Minderheit bereichert sich, während die Bevölkerungsmehrheit verarmt. Das Sozialgefälle ist beispielsweise in Ungarn fünfmal so hoch wie derzeit in Deutschland. Die Verarmung geht einher mit einem rapiden Absinken des Bildungsniveaus -- den Betroffenen fehlt das Geld für die Schule.

Eine Entwicklungshilfe für Osteuropa gibt es nicht. Statt dessen fließen enorme Kapitalmengen von Ost nach West -- als Gewinntransfer in »Mutterfirmen«, durch Verzinsung der enormen Staatsverschuldung oder als Fluchtkapital einheimischer Eliten, die ihr Geld in die vermeintliche Sicherheit westeuropäische Banktresore transferieren.

Die Bevölkerung der verarmten Regionen Osteuropas nimmt ständig ab -- infolge einer nachweislich erhöhten Sterbe- und sinkenden Geburtenrate sowie durch Abwanderung. Immer mehr Menschen flüchten in Richtung Westen. Hofbauer berichtet aber auch über Widerstand gegen die neoliberale Ausplünderung, über Bauernproteste, Revolten von Arbeitern, die sich gegen die Schließung ihrer Betriebe wehren, über Hungeraufstände der Allerärmsten. Die neu gebildete »EU-Eingreiftruppe« und die geplante Osterweiterung der NATO haben wohl die Niederschlagung weiterer zu erwartender Sozialrevolten der Verarmten zum Hintergrund.

Hannes Hofbauer: EU-Osterweiterung - Historische Basis, ökonomische Triebkräfte, soziale Folgen. Promedia Verlag, Wien 2007, 319 Seiten, 19,90 Euro

* Aus: junge Welt, 19. Mai 2008


Weitere Beiträge zu Europa

Zurück zur Homepage