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Europäische Eingreiftruppe in Nizza abgesegnet

Aber: Das Verhältnis zur NATO bleibt unklar und umstritten

Noch am Sonntag, den 10. Dezember, ging der Streit auf dem Gipfel der EU-Regierungschefs um die Stimmengewichtung in der erweiterten EU weiter. Während die Medien hierzulande gern den französischen Ratspräsidenten Chirac wegen dessen Halsstarrigkeit kritisieren, wäre durchaus die Frage angebracht, warum die deutsche Bundesregierung, die in der EU faktisch in vielen Bereichen ohnehin den Ton angibt, so viel Wert auf eine arithmetische Stimmenverbesserung legt. Deutsche Außenpolitik künftig auch mit dem Ellenbogen, auch gegen den "Erzfreund" Frankreich?
Strittig bleiben auch die Feinheiten der Abstimmung zwischen dem Aufgabenbereich der EU-Eingreiftruppe und der NATO, wie der folgende Artikel aus der Süddeutschen Zeitung verdeutlicht. Frankreich auf der einen Seite, Großbritannien, der treueste "Verbündete" der USA, auf der anderen Seite, die Bundesrepublik wohl eher hin und her gerissen zwischen den beiden - so stellt sich das Ränkespiel hinter den Kulissen im Augenblick dar. Dies ändert aber nichts daran, dass an der EU-Militarisierung im Grundsatz festgehalten und dass die Schnelle Eingreiftruppe auf jeden Fall erst einmal aufgebaut wird - egal wozu man sie später tatsächlich braucht. Dieses Herangehen an wichtige Fragen europäischer und globaler Politik scheint mir symptomatisch zu sein für die Renaissance militärischen Denkens: Erst die Armee, dann sehen wir weiter!
Der folgende Bericht über den militärischen Teil des EU-Gipfeltreffens in Nizza steht natürlich voll hinter dem Militarisierungsansatz der EU. Dies geht schon aus der beschönigenden Überschrift hervor. Er vermittelt aber einen guten Einblick in die Interessengegensätze zwischen den großen Mächten und in die Art und Weise, wie sie auf dem diplomatischen Parkett ausgetragen werden. Nicht nur die bevorstehende Erweiterung der EU, auch ihre Militarisierung enthält den Keim zur Spaltung Europas. Davon will aber niemand sprechen. Der folgende Beitrag wurde geringfügig gekürzt:

EU will weltweit für Frieden sorgen

Gipfel gründet europäische Krisenreaktionstruppe / Unklarheiten im Verhältnis zu USA und Nato / Von Udo Bergdoll

... Die Krisenreaktionstruppe der Europäer soll .. vom Jahr 2003 an in der Lage sein, binnen zweier Monate 60 000 Mann zu mobilisieren und ein Jahr lang überall in der Welt zu intervenieren. Offen ist noch, wie europäische Nato-Länder angebunden werden, die nicht der EU angehören, und wie eng die Verflechtung mit den Strukturen des Nato-Bündnisses sein soll.

In einer voreilig verteilten Schluss-Erklärung stellten die Staats- und Regierungschefs fest, dass es der EU künftig möglich sein werde, internationale Krisen unter Aufsicht des Rates (also der Regierungen) zu bewältigen. Die Union werde eigenständig Beschlüsse fassen und in Fällen, in denen die Nato als Ganzes nicht beteiligt sei, Operationen zur Krisenbewältigung einleiten und durchführen können. Damit solle die EU auf der internationalen Bühne voll handlungsfähig werden. Zur Nato müssten enge und vertrauensvolle Beziehungen entwickelt werden. Die Nato bleibe die Grundlage der kollektiven Verteidigung ihrer Mitglieder.

... Als Zugeständnis an Tony Blair wurde dieser Passus am Freitag aus der Erklärung herausgenommen und in einen Annex gestellt, was aber nichts an seiner Gültigkeit ändert.

Unstrittig ist, dass die künftige Armee der EU kein stehendes Heer sein wird. Sie wird sich aus Einheiten der nationalen Streitkräfte zusammensetzen, die je nach Aufgabe neu zusammengestellt werden. Die Aufgaben reichen von der Katastrophenhilfe über Friedensbewahrung bis zur Friedenserzwingung. Über die langfristige Entwicklung dieser Armee neuen Typs haben sich die Europäer allerdings noch nicht verständigt. Die Briten lehnen es ab, überhaupt von europäischen Streitkräften zu sprechen. Es werde niemals eine europäische Armee geben, betont London. Die Briten sind auch dagegen, dass die Militärpolitik zu den Bereichen gehören wird, in denen eine über die EU-Norm hinausgehende verstärkte Zusammenarbeit von Ländern möglich ist, die das wollen und können.

Die Eingreiftruppe der EU wird auf lange Zeit nur weltweit operieren können, wenn sie auf militärische Einrichtungen der Nato zurückgreift. Die noch zu schließenden Verträge mit der Nato sollen dies sicherstellen. Frankreich stellte im Gegensatz zu Deutschland und Großbritannien die eigenständige Rolle der Eingreiftruppe demonstrativ heraus. Das forderte den Widerspruch der Briten heraus; ebenso wie eine Äußerung des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac am Rande des Gipfels, wonach über die Planung und Ausführung von Einsätzen unabhängig vom Nato-Hauptquartier entschieden werden müsse. Die Amerikaner argwöhnen, dass Paris doppelte Strukturen entwickeln wolle, um die EU-Truppe später dann von der Nato und damit von amerikanischem Einfluss abkoppeln zu können. ...

Aus: Süddeutsche Zeitung, 9. Dezember 2000

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