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Sarkozys Mittelmeer-Union: Von Grönland bis in die Sahara

Von Andrej Fedjaschin, RIA Novosti *

Die neu gegründete Mittelmeer-Union ist völlig anders geraten als von Nicolas Sarkozy geplant. Statt der vorher vorgesehenen 18 wird die Union 42 Mitgliedsstaaten zählen.

"L'Union pour la Mediterranee" war bereits das Lieblingsprojekt des französischen Staatschefs seit seiner Zeit als Präsidentschaftskandidat gewesen. Ursprünglich wollte er sieben EU-Staaten und zehn Staaten aus dem Süden des Mittelmeers - Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Marokko, Mauretanien, Syrien und Tunesien plus die Palästinensischen Autonomiegebiete - in der Union sehen.

Dies hätte eine politisch-wirtschaftliche Organisation mit einer ständigen Struktur und ständigen Leitungsgremien - Rat und Präsident - werden sollen. Die Union war berufen, ein ständiges Forum für die Regelung der regionalen Probleme, für die Zusammenarbeit in Wirtschaft und Handel, für den Antiterrorkampf, für die Lösung der Immigrationsprobleme usw. zu werden. Mit anderen Worten hätte es Brücken zwischen Europa, Afrika und Nahost schlagen sollen.

Dies wäre auch wunderbar gewesen, wenn es nicht die auffallende Ähnlichkeit der Struktur und der Funktion der Union mit der Struktur und der Funktion der EU gäbe. Es wurde klar, dass Sarkozy viele EU-Institutionen durch Strukturen der neuen Union quasi ersetzen will.

Bundeskanzlerin Angela Merkel war die erste, die betonte, dass Berlin das nicht zulassen und verhindern wird, dass EU-Gelder für die Bildung einer Organisation ausgegeben würden, deren Türen nicht nur für Deutschland, sondern auch für die meisten EU-Länder geschlossen bleiben sollen (in Sarkozys ersten Entwürfen war es auch so geplant: In der ursprünglichen Mitgliederliste waren Deutschland, Großbritannien und die nordischen EU-Länder nicht präsent gewesen). Der französische Präsident musste sein Projekt korrigieren. Im Endeffekt ist etwas völlig anderes daraus geworden.

So kam es auch dazu, dass von den 43 Staats- und Regierungschefs, die in Paris eingetroffen waren, die meisten höchstens indirekt etwas mit dem Mittelmeer zu tun haben. Nominell wird sich die Union nun vom eiskalten Grönland bis zum heißen Sahara-Sand erstrecken: Neben den 27 EU-Ländern und den zehn Südmittelmeerländern plus den Palästinensergebieten gehören auch Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Montenegro, die vorerst keine EU-Mitglieder sind, zur neuen Union.

Außerdem wird die neue Union kein ständiger Mechanismus sein, sondern in Form internationaler Konferenzen zusammentreten. Das Problem der Finanzierung und der organisatorischen Struktur soll bis zum Jahresende geregelt werden.

Wie Merkel sagte, könnte der nicht ausgeschöpfte Etat des Barcelona-Prozesses für die Union ausgegeben werden. Es handelt sich um einen europäisch-mediterranen Dialog, an dem alle Mittelmeer- und alle EU-Staaten teilnahmen. Der Prozess war 1995 eingeleitet worden und ist jetzt im Grunde so gut wie eingegangen. Nach Ansicht von Experten außerhalb der EU bestand der Grund für das Scheitern des Prozesses gerade darin, dass die gesamte sperrige Brüsseler Bürokratie darin einbezogen wurde, darunter auch Länder, für die es nicht unbedingt interessant war, allein schon wegen der geographischen Entfernung an einem Prozess teilzunehmen.

Etwas Ähnliches wiederholt sich auch jetzt. Immerhin beläuft sich die Einwohnerzahl der Mitgliedsländer der neuen Union auf rund 800 Millionen - 300 Millionen mehr als in der EU.

Die zahlreichen Kritiker der Union behaupten nicht ganz ohne Grund, dass dieses grandiose Projekt nichts anderes als eine PR-Show von Sarkozy ist. Der angeschlagene Ruf des französischen Präsidenten braucht in der Tat neuen Glanz.

Natürlich sind die Treffen des syrischen Präsidenten Bashar Assad mit führenden Politikern des Libanons sowie seine Verhandlungen mit Sarkozy, die als ein "Comeback Syriens auf die diplomatische Bühne" präsentiert wurden, nur positiv zu bewerten. Darauf lief aber eigentlich alles hinaus. Algerien war zwar in Paris vertreten, hat aber die vorsichtige Distanz zur Union beibehalten. Der libysche Revolutionsführer Muammar Ghaddafi ist überhaupt nicht erschienen.

In Ankara wird die Meinung vertreten, dass die Union nichts anderes ist, als ein Versuch, der Türkei einen Ersatz für die EU-Mitgliedschaft anzubieten: Die Türken wissen, dass Sarkozy zu den entschiedensten Gegnern einer EU-Mitgliedschaft der Türkei ist. Dies dürfte auch einer der Gründe sein, warum Deutschland und Österreich, denen es allein von der Vorstellung einer EU-Mitgliedschaft der Türkei schaudert, Sarkozys Idee nicht gleich radikal abgelehnt hatten.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 15. Juli 2008


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