Europa rüstet auf
Von Ludwig Niethammer und Theodor Beck
Die folgende Analyse haben wir - vermittelst der Internetzeitung www.ngo-online.de - der "World Socialist Web Site" vom 31. März 2001 entnommen.
Kaum ein anderes Projekt der Europäischen Union wird gegenwärtig
mit vergleichbarer Energie und Intensität vorangetrieben wie die
Schaffung einer eigenständigen europäischen Streitmacht. In
Wirtschafts-, Währungs-, oder Agrarfragen misst die schwerfällige
Brüsseler Bürokratie die Entwicklung ihrer Projekte von der
Beschlussfassung über Planung, Beratung und Verwirklichung meist
in Fünf- oder Zehnjahresschritten. Nicht so beim Aufbau einer
eigenen europäischen Militärstruktur.
Zuerst beim Golfkrieg und dann während des Nato-Kriegs gegen
Serbien wurde den europäischen Regierungen vor Augen geführt,
wie vollständig abhängig sie von der Militärmacht USA sind. Seitdem
steht der Aufbau einer von der Nato möglichst unabhängigen
Krisenreaktionstruppe im Zentrum der Brüsseler Aktivitäten.
Auf dem EU-Gipfel in Nizza letzten Dezember legten die Staats- und
Regierungschefs den genauen Rahmen einer solchen Schnellen
Eingreiftruppe fest. Bereits in zwei Jahren soll ein rein europäischer
Truppenverband im Umfang von 60.000 Bodensoldaten einsatzfähig
sein. Diese Landstreitkräfte sollen durch Luft- und Seestreitkräfte
unterstützt werden. Die Mitgliedsstaaten sollen diese Armee
innerhalb von 60 Tagen mobilisieren können, um in der Lage zu sein,
eigenständige Militäraktionen in einem bestimmten Einsatzgebiet
durchzuführen. Die Streitkräfte sollen so beschaffen sein, dass sie
mindestens einjährige Militäroperationen durchhalten können.
Dass die EU schwerbewaffnete Militäreinsätze im Auge hat, lässt
sich an dem Waffenarsenal ersehen, welches der
EU-Eingreifstruppe zur Verfügung gestellt werden soll. Geplant sind
95 Kriegsschiffe und 570 Flugzeuge aller Kategorien. Über die
Bewaffnung der Landstreitkräfte wird gegenwärtig genauso
Stillschweigen gewahrt, wie über die Gesamtkosten des
Militärvorhabens.
Während Sicherheitsexperten die Notwendigkeit europäischer
Truppen mit eigenständiger Kommandostruktur betonen, wird in den
Medien immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass zwischen
Wunsch und Wirklichkeit eine gewaltige Lücke klafft. Typisch ist ein
Kommentar der konservativen Zeitung Die Welt (17. November 2000)
in dem auf "erhebliche Mängel" und großen Rückstand der
europäischen Truppen aufmerksam gemacht wird. "Für den
Transport von Truppen und Material über weitere Strecken auf See
können die EU-Staaten nur sechs der laut Planung benötigten 61
Schiffe aufbieten. Beim Lufttransport fehlen 66 der gewünschten 188
Flugzeuge. Große Lücken klaffen auch bei elektronischer Aufklärung
und bei Mitteln, die gegnerische Luftabwehr auszuschalten. ‚Ohne
Nato geht bis auf weiteres nichts‘, erklärt dazu ein hoher
EU-Diplomat. Bei mobilen Hauptquartieren, gepanzerten Verbänden
und der Infanterie stehen die EU-Staaten dagegen gut da."
Der Einsatzradius der geplanten EU-Armee soll laut
Pressemitteilungen 4000 Kilometer rund um Brüssel betragen. Somit
wären Militäreinsätze im Nahen Osten, im Kaukasus oder in
Nordafrika möglich. Expertenschätzungen zufolge werden solche
Einsätze über 200.000 Soldaten erfordern. Zumal bei
Auslandseinsätzen die Truppenteile mehrmals ausgewechselt
werden müssten.
Die Schnelle Eingreiftruppe ist kein stehendes Heer, sondern wird
aus den einzelnen nationalen Armeen der EU-Staaten
zusammengesetzt. Die drei gewichtigsten Länder stellen dabei die
meisten Soldaten zur Verfügung. Und dabei stellt wiederum
Deutschland mit 18.000 Mann den größten Anteil, gefolgt von
Großbritannien und Frankreich mit jeweils 12.500 Mann. Außer
Dänemark beteiligen sich alle 15 EU-Mitgliedsländer mit eigenen
Truppenkontingenten. Der Vorsitzende des EU-Militärstabs wird der
deutsche General Rainer Schuwirth sein. Im Streit um diesen Posten
musste sich Frankreich mit dem zweiten Vorsitzenden begnügen.
Fünf Jahrzehnte lang diente die Westeuropäische Union (WEU) als
europäischer Pfeiler der NATO. Um erste, eigenständige
Militärstrukturen in Europa aufzubauen, haben die europäischen
Außen- und Verteidigungsminister im November letzten Jahres alle
wichtigen militärischen Funktionen der WEU aus den Händen
genommen und der EU übertragen. Das betrifft die Zuständigkeit bei
Kriseneinsätze, erstreckt sich aber auch auf Logistik und technische
Ausrüstung.
So muss die WEU an die EU nicht nur das Satellitenzentrum im
spanischen Torrejon abtreten, sondern auch das Zentrum für
militärische Studien in Paris. Die faktische Auflösung WEU ist ein
deutlicher Schritt in Richtung militärischer Eigenständigkeit der EU.
Auch für humanitäre Hilfe, Katastropheneinsätze und die
vielbeschworenen "friedenssichernden und friedenserzwingenden
Maßnahmen" ist jetzt die EU zuständig.
Eigenständige europäische Kommandostrukturen
Der britische Premierminister Tony Blair versuchte bei seinem
jüngsten Besuch in Washington, die amerikanischen Bedenken
hinsichtlich dieser eigenständigen europäischen Militärstrukturen zu
zerstreuen. Doch die Entscheidungen vom EU-Gipfel in Nizza sind
eindeutig. In einem Vertrag zur Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik (ESVP) haben die EU-Mitgliedsländer festgelegt,
dass drei neue Führungsgremien eingerichtet werden.
Als das wichtigste wird das "Politische und Sicherheitspolitische
Komitee" (PSK) bezeichnet. Ihm obliegt bei Militäraktionen der EU die
"politische Kontrolle und die strategische Leitung". Es wird damit
maßgeblich über Beginn, Durchführung und Ende einer militärischen
Aktion bestimmen. Laut offiziellem Bericht der ESVP ist das PSK auch
für die Beobachtung der internationalen Lage in den Bereichen der
"Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" und für den
politischen Dialog zuständig.
Der "Militärausschuss der Europäischen Union" (EUMC) ist das
höchste militärische Gremium und besteht aus den
Generalstabschefs der EU-Mitgliedsländer bzw. ihren Vertretern.
Dieser Ausschuss wird das PSK in militärischer Hinsicht beraten. In
Zusammenarbeit mit dem PSK kann es dem dritten Gremium der
neuen EU-Militärhierarchie, dem EU-Militärstab (EUMS) "militärische
Leitvorgaben" erteilen. Der Militärstab der europäischen Union wird
also die Vorgaben des Militärausschusses durchführen und ist
außerdem für Lagebeurteilung und strategische Planung
verantwortlich.
In einem Anhang zum Vertragswerk der Gemeinsamen Außen- und
Verteidigungspolitik (GASP) heißt es, die Nato habe im Ernstfall einer
europäischen Einsatzbereitschaft "in vollem Respekt der Autonomie
der EU-Entscheidungsstränge" zu handeln. Der gesamte
Kommandoablauf der Schnellen Eingreiftruppe während einer
etwaigen Operation müsse im übrigen "unter politischer Kontrolle
und strategischer Leitung der EU stehen".
Bei dem 75. deutsch-französischen Gipfeltreffen am 9. Juni
vergangenen Jahres in Mainz wurden rüstungspolitische
Entscheidungen getroffen, deren Tragweite sich über Jahre erstreckt
und die am Kräfteverhältnis innerhalb der NATO rühren. Den oft
beklagten Defiziten in der Satellitenaufklärung und der
Transportkapazität soll mit kostspieligen Aufrüstungsvorhaben
begegnet werden. Frankreich und Deutschland beabsichtigen hierbei
eine Zusammenarbeit ihrer Satellitensysteme.
Der Aufklärungssatellit Helios-2, den Frankreich 2003 ins All
schießen will, soll mit dem deutschen Radarsatellitenprogramm Sar
Lupe kooperieren, dessen Inbetriebnahme für das darauffolgende
Jahr geplant ist. Auch wenn sich gegenwärtig nicht abschätzen lässt,
wie teuer die Umsetzung dieser Vorhaben wird, steht fest, dass die
Kosten gigantisch ausfallen werden. Der Vorsprung in der Raumfahrt
ist aber einer der wesentlichen Gründe für die Überlegenheit des
amerikanischen Militärs.
Um die fehlenden Transportmöglichkeiten bei Auslandseinsätzen
möglichst schnell zu schaffen, wird eine europäische Vernetzung der
Rüstungsindustrie angestrebt und eine geradezu fieberhafte
Waffenproduktion angekurbelt. Auf der Flugshow im britischen
Farnborough im Juli 2000 wurde der Kauf von insgesamt 225
Airbussen des Typs A 400 M besiegelt. Zu einem Stückpreis von ca.
100 Millionen Euro bestellte Deutschland 73, Frankreich 50, Spanien
27, die Türkei 26, Großbritannien 25, Italien 16, Belgien 7 und
Luxemburg mit belgischer Unterstützung einen Airbus. Die
Auslieferung der Flugzeuge kann allerdings erst im Zeitraum
zwischen den Jahren 2008 bis 2016 erfolgen.
Der Airbus A 400 M ist ein schwerer Mehrzwecktransporter, der von
der Airbus Military Company, an der die EADS beteiligt ist, entwickelt
und gefertigt wird. An den 22,6 Milliarden Euro Entwicklungskosten
beteiligen sich mehrere europäische Länder. Auskünften der EADS
zufolge ist der A 400 M "beladbar mit allen wichtigen militärischen
Fahrzeugen und Hubschraubern". Aus der Luft ließen sich
Fallschirmjäger und Material absetzen. Außerdem verfüge der A 400
M über "Luftbetankungsfähigkeit als Standardausrüstung".
Die Regierungschefs von Deutschland, Frankreich und Spanien
hatten sich im Herbst 1999 mit Vertretern von
Daimler-Chrysler-Aerospace, Lagardčre/Matra und Casa getroffen,
um die Fusion dieser Konzerne zum größten europäischen Flugzeug-
und Raketenfabrikanten, der EADS, bekannt zu geben. Seitdem sind
von den Regierungen Europas Aufträge über viele Milliarden Euro
eingegangen, 9 Milliarden Euro allein in der Sparte "Verteidigung".
Unter "Division Aeronautics", was auch Kriegsgerät einschließt, sind
Aufträge über 12,7 Milliarden Euro verzeichnet.
Das Angebot der EADS reicht vom A 400 M bis zum Eurofighter. Sie
ist durch zahlreiche Beteiligungen mit anderen Rüstungskonzernen
verflochten und dient Europa als eine der wichtigsten
Waffenschmieden. Insbesondere Deutschland hat sich mehrfach in
die Auftragsbücher der EADS eingeschrieben. Vom Eurofighter, dem
teuersten europäischen Kampfflugzeug, sollen bis zum Jahre 2015
sage und schreibe 180 Exemplare an das deutsche
Verteidigungsministerium geliefert werden. Der Eurofighter und der
Tornado sollen mit modernster präzisions- und abstandsfähiger
Bewaffnung versehen werden.
Bis zu ihrem Regierungseintritt im Jahr 1998 hatten die deutschen
Sozialdemokraten und die Grünen das Projekt Eurofighter/Tornado
vehement abgelehnt, weil seine Entwicklung und Produktion
Hunderte Milliarden an Steuergeldern verschlinge, die dringend im
sozialen Bereich benötigt würden.
Verwandlung der Bundeswehr
Betrachtet man die gegenwärtige Verwandlung der deutschen
Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer Interventionsarmee,
dann bekommt man einen Eindruck vom Tempo und Ausmaß der
militärischen Aufrüstung in Europa. Die Bundeswehr, die Mitte der
fünfziger Jahre ausschließlich zur Landesverteidigung vor dem
Hintergrund des Kalten Krieges gegründet worden war, bekommt
nun eine völlig andere Aufgabe und damit einen anderen Charakter.
Die Umstrukturierungen, Ausgliederungen und Investitionen
verdeutlichen die Funktion, auf die die deutsche Armee vorbereitet
wird: Einsätze rund um den Erdball.
Der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) hat ein
"Bündnis zwischen Bundeswehr und Wirtschaft" initiiert. Die
Bundeswehr soll nicht nur enger mit der Industrie
zusammenarbeiten, sondern auch selbst nach
betriebswirtschaftlichen Kriterien umgestaltet werden. Eigens zu
diesem Zweck wurde die "Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung
und Betrieb" (GEBB) gegründet. Die GEBB hat die Aufgabe, die
Bundeswehr zu rationalisieren, ähnlich wie es zurzeit allenthalben in
der Wirtschaft stattfindet.
Durch den Verkauf von Gerät, Fahrzeugen, Gelände und Gebäude
soll jährlich eine Milliarde Mark eingespart werden. Fahrzeuge und
Grundstücke sollen teilweise zurückgemietet werden. Die
gegenwärtig 130.000 zivilen Angestellten der Bundeswehr sollen
nach Vorstellung von Minister Scharping auf 85.000 reduziert werden.
Ziel der Verkleinerung ist die qualitative Hochrüstung. Scharping hat
bereits angekündigt, dass jeder Verkaufserlös und alle
Einsparungsguthaben restlos für Neuinvestitionen verwendet
werden.
Eine Erhöhung des deutschen Wehretats, der sich dieses Jahr auf
46,8 Milliarden DM beläuft, wird allen gegenwärtigen Beteuerungen
zum Trotz stattfinden. Sie wird bereits jetzt durch die Hintertür
praktiziert, indem zusätzliche Mittel für die "Bundeswehr-Reform" in
anderen Ressorts, wie zum Beispiel dem Forschungsministerium,
versteckt werden. Die CDU forderte für das laufende Jahr einen
Nachtragshaushalt, mit dem die Verteidigungsausgaben drastisch
erhöht werden sollen. Bis zum Jahr 2015 sind Waffenkäufe im Wert
von etwa 225 Milliarden DM geplant.
Bei allen Neuanschaffungen handelt es sich ausnahmslos um
Offensivkriegsgerät. Ein wesentlicher Bestandteil davon ist der
TIGER, ein Kampfhubschrauber, der die Bodentruppen flexibilisieren
und die Geschwindigkeit des Kampfgeschehens bestimmen soll.
Deutschland hat 80 Exemplare des TIGER, eine
deutsch-französische Gemeinschaftsproduktion, zu einem Stückpreis
von 72,6 Millionen DM gekauft.
Als "technologischen und operativen Sprung" wertet
Heeresinspekteur Helmut Willmann die neuen Marschflugkörper.
Hier sind an erster Stelle "Taifun" und "Polyphem" zu nennen. Taifun
ist eine Kampfdrohne, die stundenlang auf programmierten
Suchflugpfaden selbständig nach Zielen sucht. Sie kann
verschiedene Objekte voneinander unterscheiden und eine hohe
Treffgenauigkeit garantieren. Polyphem dagegen wird über einen
Monitor verfolgt und manuell gesteuert, wobei der Schütze in der Lage
sein soll, den Marschflugkörper mit großer Präzision ins Ziel zu
lenken.
Angesichts dieser systematischen Aufrüstung mit modernsten
Waffen, geraten Militärs regelrecht ins Schwärmen. Der Kommandeur
der Artillerieschule, Schneider, resümiert euphorisch: "Mit der
Ausstattung der Artillerie von heute, mit den laufenden sowie den
bevorstehenden Beschaffungen modernster Führungs-, Aufklärungs-
und Wirkungssysteme sowie intelligenter Munition, erfährt die
deutsche Artillerie einen technologischen Quantensprung, der sie in
die Weltspitze führt."
Die bereits erwähnten 180 Eurofighter werden mit Marschflugkörpern
namens "Taurus" bestückt, die von der DASA-Tochter LFK und der
schwedischen Firma Bofors zusammen entwickelt werden. Von
diesen Geschossen, deren Sprengsatz für eine 4 Meter starke
Betonwand reicht, sind 1200 im Rüstungsprogramm eingeplant.
Überdies wird gegenwärtig das Flugabwehrsystem Patriot komplett
modernisiert, ebenso die seegestützte Aufklärung.
Auch die Marine wird auf ihre neue Rolle vorbereitet, indem
Kriegsschiffe gebaut werden, deren Kosten in der deutschen
Geschichte beispiellos sind. Die erste Fregatte F 124 ist fertig
gestellt, zwei weitere Fregatten F 124 sollen ab 2002 der
Bundeswehr zur Verfügung gestellt werden. Für küstennahe Einsätze
wird die Korvette K 130 dienen, von denen 15 Schiffe angeschafft
werden sollen. Sie eignen sich für die schnelle Krisenreaktion und
sind sowohl hochseefähig als auch in Flachwasser einsetzbar.
Auch bei den U-Booten wurde ein Modell favorisiert, das die Position
der deutschen Marine auf den Weltmeeren stärken soll. Das U-Boot
vom Typ 212 ist dreimal so groß und kann viermal so lange tauchen
wie sein Vorgängermodell. Des Weiteren wurden neue
Versorgungsschiffe in den Dienst genommen, um die
landungsungebundene Einsatzlänge zu verdoppeln.
Die militärische Aufrüstung Europas und die damit verbundenen
gigantischen Militärausgaben werden gewaltige zusätzliche Löcher in
die Finanzhaushalte der EU-Länder reißen. Der ohnehin
fortschreitende Sozialabbau wird zu einer weiteren sozialen
Polarisierung Europas führen. Um Widerstand dagegen zu
unterbinden, werden bereits jetzt demokratische Rechte abgebaut.
Immer deutlicher wird der Militarismus nach außen durch einen
Militarismus nach innen ergänzt.
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