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Diebstahl und Hehlerei

Wie die EU von autoritären Regimen profitiert und ihre wirtschaftlichen Interessen auf Kosten unterdrückter Nationen durchsetzt

Von Sevim Dagdelen *

Am 27. Februar dieses Jahres verlängert sich das Fischereiabkommen zwischen Marokko und der Europäischen Union automatisch, wenn es bis dahin nicht gekündigt wird. Der Vertrag ist die Grundlage dafür, daß Schiffe aus elf Mitgliedsstaaten der EU in den marokkanischen Hoheitsgewässern fischen dürfen. Dafür bekommt die Regierung in Rabat jährlich eine finanzielle Gegenleistung in Höhe von 36,1 Millionen Euro. Von dem Abkommen profitieren vor allem spanische und baltische Unternehmen, die Niederlande und Deutschland. Gemäß Artikelzwei des Vertrages werden als »marokkanische Fischereizone« jene Gewässer verstanden, die unter der Hoheit oder der Gerichtsbarkeit des nordafrikanischen Staates liegen. In einem nichtöffentlichen Rechtsgutachten des Juristischen Dienstes des Europäischen Parlaments vom Juli 2009 wurde das Abkommen teilweise als völkerrechtswidrig bezeichnet, da es auch die Fischereirechte innerhalb der 200-Meilen-Zone vor der seit 36 Jahren von Marokko militärisch besetzten Westsahara mit einschließt. Marokko wird also für gestohlenen Fisch bezahlt.

Die Westsahara wird in dem vertraulichen Dokument als ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung im Sinne von Artikel 73 der Charta der Vereinten Nationen bezeichnet. Marokko aber betrachtet die Westsahara als einen Teil seines Territoriums und hat bei bisherigen Verhandlungen unter Drohung einer Kündigung des Abkommens darauf bestanden, die Gewässer der Westsahara mit einzubeziehen. Die aggressive Haltung Marokkos kam der europäischen Wirtschaftspolitik entgegen. Die besteht vor allem darin, der Fangflotte der EU-Staaten immer neue Fischereirechte zu organisieren und die wirtschaftlichen Interessen und Mitbestimmungsrechte betroffener Nationen zu mißachten. Auch und gerade deshalb benötigt die EU-Außenpolitik autoritäre Regime in Regionen wie Nordafrika.

Der bilaterale Außenhandel zwischen der Bundesrepublik und Marokko wächst kräftig. Bis November 2010 stiegen die Importe aus Marokko um mehr als 13 Prozent und die Exporte um mehr als acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Aus diesem Grund wurde Anfang Februar zwischen dem Bundesministerium für Wirtschaft und dem marokkanischen Industrieministerium eine Absichtserklärung zur Einrichtung einer Gemischten Wirtschaftskommission in Rabat unterzeichnet. Zwischen beiden Ländern bestand Übereinstimmung, daß noch erheblicher Spielraum für den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen existiere. Die Rechte der Sah­rauis sollen dabei auch im Energiesektor übergangen werden. So wird für das Wüstenstromprojekt Desertec eine Pilotanlage in Marokko gebaut. 80 Prozent des Stroms sollen nach Europa fließen. Von den fünf solarthermischen Kraftwerken sollen nach unabhängigen Berichten zwei in der besetzten Westsahara errichtet werden. EU-Energiekommissar Günther Oettinger (CDU) betonte in diesem Zusammenhang, daß die Geschehnisse in Tunesien und Ägypten keine Risiken für Desertec darstellen: »Man könnte sagen, egal wer regiert, es wird doch keiner so blöd sein, daß er Stromproduktionen stoppt«. – Es sei denn, die Menschen betreffender Länder übernehmen selbst die Verantwortung für die Zukunft ihrer Staaten.

Durch den Abschluß völkerrechtswidriger, dafür aber lukrativer Wirtschaftsverträge sowie die Öffnung der Märkte für europäische Direktinvestitionen durch willige Despoten in Afrika werden die ökonomischen Interessen Europas abgesichert. Selbst wenn diese um den Preis einer militärischen Besatzung erkauft werden müssen. Seit 2003 hat die Bundesregierung neunzehn Maßnahmen der Ausstattungshilfe für die marokkanischen Sicherheitskräfte umgesetzt. Die letzten sechs Ausstattungshilfen seit dem Jahr 2006 hatten einen Gesamtwert von ca. 100000 Euro.

Unter der Prämisse einer wirtschaftlichen Vormachtstellung Europas läuft die Gemeinsame Agrarpolitik dabei zunehmend Gefahr, militarisiert zu werden. Nachdem bereits Somalia zu einem sogenannten gescheiterten Staat erklärt wurde und seine Hoheitsgewässer dem Raubzug europäischer Fangflotten ausgeliefert wurden, sehen sich immer mehr verarmte Fischer gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch Piraterie aufzubessern. Es ist kein Zufall, daß Frachter wie zuletzt im Januar von der Bremer Beluga-Reederei bei der europäischen »Antipiratenmission Atalanta« militärische Unterstützung anfordern. Auch deshalb muß die Verlängerung des EU-Fischereiabkommens mit Marokko verhindert werden.

* Die Autorin ist für die Linksfraktion Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestages.

Aus: junge Welt, 18. Februar 2011



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