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Programm der Illusionen

Die Linke und die Wahlen zum Europäischen Parlament 2014: Programmentwurf nährt Illusionen über mögliche Veränderung der EU

Von Andreas Wehr *

Im Deutschen Bundestag steht nur die Partei Die Linke der Europäischen Union grundsätzlich kritisch gegenüber. Sie hat den Lissabonner Vertrag abgelehnt und stimmt regelmäßig gegen die sogenannten Rettungspakete. Die Linke gilt daher den politisch Herrschenden als »europapolitisch unzuverlässig«. Politiker von SPD und Grünen werden denn auch nicht müde, hier einen radikalen Kurswechsel der Partei zu fordern. Erst danach könne über ein Rot-Rot-Grünes Bündnis nachgedacht werden. Ein solches Bündnis streben aber führende Politiker der Linkspartei schon jetzt an. Spätestens bei den nächsten Bundestagswahlen soll es soweit sein.

In einer solchen Situation kommt dem Programm der Linkspartei zu den Europawahlen im Mai 2014 eine besondere Bedeutung zu. Die Diskussion des Entwurfs ist Teil der Auseinandersetzung über den weiteren Kurs der Partei. Es geht um die Frage, ob sich Die Linke auf Bundesebene weiterhin als gesellschaftliche Opposition oder als eine potentielle Regierungspartei verstehen will. Politiker vom linken Flügel kritisieren, daß der Entwurf »ein verklärtes illusionistisches Bild der EU« entwirft.

Tatsächlich wird darin die EU als eine in ihrer Entwicklungsmöglichkeit offene Union verklärt und damit ihre grundsätzlich wirtschaftsliberale Ausrichtung verharmlost. Im Entwurf heißt es: »Für Die Linke stellt sich keine Entscheidung für oder gegen das eine oder andere – wir müssen sowohl in Europa als auch in Deutschland um gute soziale Standards ringen. Aus der Spirale der Konkurrenz um Standorte und niedrige Steuern für Unternehmen können wir nur gemeinsam aussteigen. Daß immer mehr Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge dem Markt geöffnet werden, läßt sich nur in ganz Europa bekämpfen.«

Die EU wird danach als offenes Gefäß angesehen, das sich beliebig mit unterschiedlichsten Politikinhalten füllen läßt. Dies führt zu illusionären Vorstellungen über die Möglichkeit ihrer Veränderung. Tatsächlich ist aber die wirtschaftsliberale Ordnung der EU vertraglich fest eingeschrieben, und das seit ihrer Gründung 1957. Die bestimmende Grundlage ist der Binnenmarkt, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital garantiert wird. Dies sind die klassischen liberalen Freiheitsrechte. Und dies ist die eigentliche Verfassung der Union. Darauf aufbauend hat sich über die Jahrzehnte eine aus Tausenden von Richtlinien und Verordnungen bestehende Ordnung entwickelt, die, abgesichert durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, von der Europäischen Kommission beständig weiter entwickelt wird. Die EU ist daher alles andere als ein beliebig neu beschreibbares leeres Blatt. Deshalb auch verlangt das in Erfurt verabschiedete Programm der Linkspartei den »Neustart« der EU, was heißt, daß ihre Verträge völlig neu zu schreiben sind und die Union neu aufzubauen ist.

Die Gleichsetzung von europäischer und nationaler Ebene im Entwurf ignoriert, daß die Kampfbedingungen in den Mitgliedsländern im Vergleich zur europäischen Ebene ungleich günstiger sind. So ist das Sozialstaatsprinzip nur in Nationalstaaten, etwa im deutschen Grundgesetz, fest verankert. Die Union kennt in ihren Verträgen nichts Vergleichbares. Nur auf nationaler Ebene gibt es starke Gewerkschaften und handlungsfähige linke Parteien. Nur hier existieren Medien, die eine öffentliche Auseinandersetzung über den Kurs eines Landes überhaupt erst möglich machen. All das gibt es in der EU nicht.

Wer diese Unterschiede ignoriert und die Europäische Union als beliebig veränderbar beschreibt, bereitet die Aussöhnung der Linkspartei mit der real existierenden EU und damit mit einem entscheidenden Teil der kapitalistischen Wirtschaftsordnung vor. Damit kommt man zwar SPD und Grünen einen großen Schritt entgegen, doch zugleich wird die grundsätzlich ablehnende Haltung der Linkspartei gegenüber der EU aufgegeben.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 5. November 2013


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