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Die Euro-Krise als Folge der Überakkumulation

Jürgen Leibigers Buch bietet einen theoretischen Erklärungsansatz

Von Kurt Stenger *

Nahezu zwei Jahre dauert die Krise in Euroland schon an - und ein Ende ist auch nach dem jüngsten Krisengipfel mit seinen verschärften Sparvorgaben nicht in Sicht. Das ist auch kein Wunder: Die große Politik beugt sich immer stärker den Vorgaben der deutschen Kanzlerin, die die Ursachen der Probleme darin sieht, dass einige Süd-Länder, allen voran Griechenland, jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt hätten.

Doch was ist eigentlich falsch an Angela Merkels Diagnose, die von den meisten ihrer Landsleute geteilt wird? Und wie lässt sich das Problem der Staatsschulden theoretisch erfassen? Auf diese für die Debatte über die Zukunft von Euroland zentralen Fragen versucht Jürgen Leibiger auf rund 270 Seiten Antworten zu geben. Der Dozent an der Sächsischen Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie Dresden erinnert daran, dass es Staatsschuldenkrisen schon im »Ancien Regime« gab. Die Erfindung von Staatsanleihen war ein wesentliches Instrument in der ursprünglichen Akkumulation, aber auch für die Gründung des bürgerlichen Steuerstaates, der Entstehung von Großbanken und des modernen Geldsystems. Und immer wieder gab es auch Krisen, bei denen, wie man es heute sagen würde, private Verluste sozialisiert wurden.

Leibigers Buch ist jedoch weniger eine historische Abhandlung. Geschichtliche Episoden werden ergänzt mit ausführlichen Erläuterungen, die auf der Marxschen Theorie basieren. Im Kern ist auch die aktuelle Euro-Krise demnach nichts Anderes als die Folge einer Überakkumulationskrise, erzwungen durch den Konkurrenzdruck des Marktes. »Da alle Kapitalisten diesem Zwang unterliegen und akkumulieren und produzieren müssen, solange die Preise sich aufwärts bewegen, sind Überakkumulation und Überproduktion vorprogrammiert«, schreibt der Volkswirt. Mittels »Deficit Spending« versuchen die Staaten einzugreifen. Über Staatsanleihen, so Leibiger, sichern sie die »weitere Verwertung des überakkumulierten, brachliegenden Geldkapitals mit Hilfe von Steuermitteln«. Die Ursache wird dadurch aber nicht behoben, denn das überakkumulierte Kapital wird nur wie eine Bugwelle vor sich hergeschoben, bis die Blase platzt. Durch die Politik des Neoliberalismus mit seiner Steuersenkungs- und unsozialer Einsparpolitik sowie den deregulierten Finanzmärkten und massiv gestiegenen Privatvermögen bei massiv gestiegener Staatsverschuldung nehmen Krisen derartige Dimensionen an, dass sie nicht mehr bewältigbar erscheinen. Lehrreich an dieser Stelle sind Leibigers finanzmathematische Erklärungen, ab welchem Punkt Staatsschulden zum Problem werden. Klar wird dadurch auch, warum das bisherige Krisenmanagement die Probleme eher verschärft als lösen kann.

Leibiger wendet sich indes gegen allzu kurzschlüssige Parolen, die generell gegen staatliche Kreditaufnahme oder eine nachfrageorientierte Wirtschaftssteuerung gerichtet sind. Stattdessen regt er eine Konsolidierung auf der Einnahmenseite und eine stärkere Rolle der Geldpolitik einer demokratisch legitimierten Zentralbank an. Vor allem aber, lautet sein Credo, »kommt es darauf an, den Staat aus seiner verhängnisvollen Abhängigkeit von den Finanzmärkten zu befreien«.

Jürgen Leibiger: Bankrotteure bitten zur Kasse. Mythen und Realitäten der Staatsverschuldung, PapyRossa Verlag, Köln, 2011, 274 S., 16,90 Euro.

* Aus: neues deutschland, 14. Dezember 2011


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