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Die Retter gehen aus

Beim heutigen Krisengipfel in Brüssel dominieren nationale Interessen. Kompromiß zwischen Paris und Berlin sieht IWF-Beteiligung beim EFSF vor

Von Tomasz Konicz *

Die Krisendynamik in Europa scheint inzwischen jeglicher politischen Kontrolle und Steuerungsmöglichkeit zu entgleiten. Vor dem heutigen (26. Okt.) EU-Gipfel zur Lösung der europäischen Schuldenkrise mehrten sich die Hiobsbotschaften und Krisenherde. Griechenland meldet weiteren Finanzierungsbedarf von bis zu 444 Milliarden Euro an. Der europäische Finanzsektor sieht sich mit enormen Abschreibungen aufgrund der eskalierenden Staatsschuldenkrise konfrontiert. Laut vorläufigen Schätzungen dürften Kapital­erhöhungen von rund 100 Milliarden Euro anstehen. Zudem ist noch keineswegs geklärt, wie der EU-Krisenfonds EFSF erweitert werden soll, um die Schockwellen einzugrenzen, die bei einem Bankrott Athens auch Spanien oder Italien mit in den Abgrund reißen dürften. Nicht einmal das angepeilte Volumen soll beim Gipfel in Brüssel bekanntgegeben werden, meldete die Nachrichtenagentur AFP am Dienstag. Schließlich deuten die jüngsten Konjunkturindikatoren darauf hin, daß die Euro-Zone sich bereits gegen Jahresende in der Rezession befinden wird.

Der durch immer neue Sparmaßnahmen verstärkte wirtschaftliche Zusammenbruch in Griechenland läßt den Finanzbedarf in Athen auf 252 Milliarden Euro bis 2020 anschwellen, wie die »Troika« in einem Bericht unlängst feststellte. Bei dieser Einschätzung geht das aus IWF, Weltbank und EU bestehende Gremium absurderweise aber davon aus, daß dieselben Kahlschlagsprogramme, die Griechenland in den Abgrund stießen, bald eine wundersame Wirtschaftserholung auslösen werden. Falls sich die Realität diesem Wunschdenken auch weiterhin verweigern und der Griechenland aufoktroyierte Sparterror die Zerrüttung der griechischen Volkswirtschaft perpetuieren sollte, wird es richtig teuer: Im Extremfall sind dann 444 Milliarden Euro fällig, womit die tatsächlich abrufbaren Mittel des EFSF von 440 Milliarden schon mal mehr als erschöpft wären.

An den EFSF werden sich bald auch noch »notleidende« Banken wenden, um für die Abschreibungen ihrer Staatsanleihen Kompensation zu erhalten, die bald fällig werden. Im Vorfeld des Krisengipfels sind Details zur geplanten Erhöhung der Kernkapitalquote europäischer Finanzhäuser auf neun Prozent durchgesickert. Die Rekapitalisierung des Bankensektors soll auf den Finanzmärkten bewerkstelligt werden; angesichts der Schuldenkrise ist das ziemlich illusionär. Danach sollen die jeweiligen Staaten einspringen und bei deren Überlastung den Weg für die Mittel des EFSF frei machen. Die Banken werden voraussichtlich eine Menge abzuschreiben haben, da sich die wichtigsten Euro-Staaten im Vorfeld des Gipfels auf einen »Schuldenschnitt« in Griechenland von 50 bis 60 Prozent einigen sollten. Je höher der »Schuldenschnitt«, desto größer der Bedarf an Geldinfusionen seitens der betroffenen Finanzinstitute.

Die Kernfrage auf dem heutigen Gipfeltreffen bleibt, wie der EFSF erweitert werden soll, um den zusätzlichen Finanzbedarf Griechenlands zu decken, den europäischen Finanzsektor zu stabilisieren und ein Übergreifen der Krise auf andere südeuropäi­sche Schuldenstaaten zu verhindern. Hieran entzündete sich auch der heftige Streit zwischen Paris und Berlin: Die von Deutschland vorgeschlagene Kreditversicherung und die von Frankreich favorisierte Banklizenzvergabe an den EFSF ließen die lange schwelenden Spannungen eskalieren und führten zur Blockade des letzten Spitzentreffens am vergangenen Wochenende. Nun wurde ein Kompromißvorschlag ins Spiel gebracht, der eine außereuropäische Erweiterung des EFSF vorsieht: Der IWF und Schwellenländer sollen demnach eine Zweckgesellschaft gründen, an der sich der EFSF beteiligt und die europäische Schuldentitel aufkaufen könnte.

Dieser neueste Vorschlag ist ein implizites Eingeständnis, daß der Euro-Zone so langsam die »Retter« ausgehen. Immer mehr Staaten werden von der Schuldenkrise erfaßt. Die Dynamik frißt sich von der Peripherie ins Zentrum des Kapitalismus voran. Inzwischen verfügen nur noch sechs der 17 Staaten der Euro-Zone über eine Top-Bonitätsnote, wobei für das reibungslose Funktionieren des EFSF die AAA-Rankings von Deutschland und Frankreich entscheidend sind. Derzeit scheint die Schuldenkrise aber auch auf Frankreich überzugreifen. Seine Bonitätsnote wurde von Ratingagenturen in Zweifel gezogen. Die Gedankenspiele, den IWF auf das sinkende europäische Schiff zu holen, sind ein Eingeständnis, der Lage nicht mehr aus eigenen Kräften Herr werden zu können.

Die zunehmenden nationalen Spannungen in der Euro-Zone – derzeit insbesondere zwischen Deutschland, Frankreich und Italien – resultieren gerade aus der Tatsache, daß nun europäische »Schwergewichte« wie Italien und perspektivisch auch Frankreich vom Krisenstrudel erfaßt werden. Die nationalen Interessen treten immer stärker in Konflikt miteinander, da vor allem die europäischen Führungsmächte Paris und Berlin bemüht sind, die Krisenkosten auf die anderen Länder weitestmöglich abzuwälzen. Hierdurch tritt aber auch der Charakter der EU als einer unbeständigen Allianz von Nationalstaaten unter deutsch-französischer Hegemonie zutage. Indessen war es gerade die steigende europäische Verschuldung seit der Euro-Einführung, die allen beteiligten Ländern die Illusion verschafften, an einem einträglichen Unterfangen teilzunehmen. Die »europäische Währungsgemeinschaft« lebte somit auf Pump – und mit dem Platzen der europäischen Schuldenblasen scheint zumindest die Euro-Zone (wenn nicht gar die gesamte EU) in einer historischen Sackgasse angelangt.

* Aus: junge Welt, 26. Oktober 2011


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