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Keine "normale" Krise

Große Depression statt großer Rezession: Wirtschaftliche Situation in EU-Europa ähnelt der in den 1930er Jahren. Der Propagandaapparat leugnet das

Von Rainer Rupp *

Es gibt keine Systemkrise – so lautet das Mantra des Propagandaapparats der privat- und staatskapitalistischen Strukturen, insbesondere in Deutschland seit den Jahren 2007/2008. Der bemüht sich, den Menschen weiszumachen, alles, was an wirtschaftlichen (und sozialen) Verwerfungen seit Krisenausbruch passiert, sei ein tiefergehender Abschwung (Rezession). Der gehöre »ganz normal« und quasi gesetzmäßig zum kapitalistischen Konjunkturzyklus. Daher müsse er auch mit dem »bewährten« Instrumentarium an monetären und fiskalpolitischen Maßnahmen zu meistern sein. So gesehen hätten wir es auch lediglich mit den Folgewirkungen der angeblich bereits 2009/2010 überwundenen »Großen Rezession« zu tun.

Einen Vergleich der aktuellen ökonomischen Situation mit der »Großen Depression« der 1930er Jahre haben die Konzernmedien konsequent ausgeblendet. Der Begriff ist im Zusammenhang mit der auch gegenwärtig anhaltenden Krise offenbar politisch nicht erwünscht. Dabei erinnern viele Merkmale heute an die 1930er Jahre. Der Grund für diese gewollte Einäugigkeit ist, daß in der Großen Depression die wirtschaftspolitischen »Instrumente« der kapitalistischen Staaten total versagt hatten und erst ein Paradigmenwechsel Besserung brachte. Für die herrschende Klasse sind derzeit tiefgreifende Änderungen, wie beispielsweise die Verstaatlichung der Großbanken, tabu.

Doch die Parallelen sind bemerkenswert. So konnte selbst die Absenkung der Zinsen gegen Null in den 1930er Jahren weder den privaten Konsum noch die Investitionen anstoßen. Und gemäß der dominanten liberalen Wirtschaftslehre hatten verordnete scharfe Kürzungen staatlicher Ausgaben die sozialökonomischen Probleme in den USA und Europa damals nur noch verschärft, insbesondere Arbeitslosigkeit und Armut. Lediglich in der von einem anderen Wirtschaftssystem geleiteten Sowjetunion ging es seinerzeit mit großen Schritten vorwärts. Im kapitalistischen Westen stagnierten die Wirtschaften – bis auch dort das liberale Dogma fiel und der Staat anfing, direkt in die Wirtschaftsplanung, Produktion und die Verteilung der Ressourcen einzugreifen. Diese Eingriffe, flankiert von Arbeit beschaffenden und sozialstaatlichen Maßnahmen, brachte die Volkswirtschaften wieder etwas in Gang. Bezeichnenderweise war es dann die Kriegswirtschaft, die in Form einer gigantischen Steigerung der staatlichen Nachfrage den großen Aufschwung der westlichen, vor allem der nordamerikanischen Wirtschaften brachte.

Auch derzeit hat wieder eine Große Depression die südlichen Krisenländer Europas im Griff. Und die Anzeichen mehren sich, daß diese sich stetig, aber unaufhaltsam auf Kerneuropa ausweitet. In den Niederlanden und Belgien häufen sich die ökonomischen Probleme. Selbst in dem vor einem Jahr vermeintlich noch solide dastehenden Frankreich ist jetzt innerhalb kürzester Zeit die Arbeitslosenquote auf den historischen Höchststand von 10,6 Prozent gestiegen, mit anhaltender Tendenz. Vergleichbare Zustände wie in den 1930ern herrschen bereits in Spanien und Griechenland; die offizielle Erwerbslosenquote liegt dort bei 27 Prozent, die der Jugendarbeitslosigkeit tendiert sogar gegen 60 Prozent (59,1 bzw. 57,2). Im EU-Durchschnitt liegt die offizielle Quote von zwölf Prozent ebenfalls weit unter der der Jugendarbeitslosigkeit von über 24 Prozent. In Italien sind inzwischen knapp 39 Prozent der Jungen ohne Job und in Portugal 38,4 Prozent.

Im Schnitt hat also jeder vierte EU-Europäer unter 25 Jahren keine Arbeit, keine Perspektive und womöglich schon jetzt keine Hoffnung mehr, in Spanien und Griechenland betrifft das sechs von zehn jungen Leuten. Die Zukunft ganzer Länder wird von den kapitalistischen Eliten, den Regierungen und EU-Institutionen, leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Stur halten sie an ihrem neoliberalen Dogma der Nichteinmischung des Staates in die Wirtschaft fest, das allerdings bei der »Rettung« von Privatbanken mit unvorstellbar großen Summen von Steuergeldern nicht gilt.

Nicht nur die Arbeitslosigkeit hat inzwischen Dimensionen der großen Depression angenommen, auch die grassierende Armut. Besonders alarmierend: Griechische Kinder hungern, in den Schulen betteln sie Klassenkameraden um etwas Eßbares an. Darüber berichtete die New York Times Mitte April ausführlich, aber dieses Thema wurde von den deutschen Mainstreammedien geflissentlich »übersehen«.

Keiner sollte zudem glauben, daß wir in Deutschland auf einer geschützten Insel inmitten des Chaos sitzen, uns das nicht passieren kann. Gerade hierzulande sind dieselben zerstörerischen Kräfte am Werke wie in Griechenland, Spanien und im Rest der EU, denen das Wohl der Bevölkerung am Allerwertesten vorbeigeht.

* Aus: junge Welt, Samstag, 4. Mai 2013


Was die EZB noch tun wird

Zu Lust und Risiken des Kapitalverkehrs

Von Lucas Zeise **


Das ist der niedrigste Zins, den eine Notenbank in diesen Breiten den Banken für Kredit je in Rechnung gestellt hat. Am Donnerstag kündigte die Europäische Zentralbank (EZB) die Senkung des Leitzinses auf das Rekordtief von einem halben Prozent an. Es ist das Eingeständnis, daß Notstand herrscht. Alles, was die Notenbank bisher unternommen hat, um die Kreditvergabe, die Investitionen und die Endnachfrage anzukurbeln, hat wenig oder nichts gefruchtet. Unverändert treibt EU-Europa tiefer in die Rezession. Es ist die zweite Etappe der 2007 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise, die durch die sinnlos brutalen Sparauflagen für mittlerweile die Mehrheit der Euro-Länder noch verstärkt wird.

Kanzlerin Angela Merkel trug vor ein paar Tagen im Wahlkampfmodus vor dem Sparkassentag Sinniges und Unsinniges zum Thema Zinsen bei. Sie beneide EZB-Präsident Mario Draghi nicht um seine schwierige Aufgabe. Erstens seien die Zinsen für die deutsche Volkswirtschaft angesichts ihrer Stärke eher schon zu niedrig, zweitens aber müsse die EZB für die armen Südländer mehr tun, als nur die Zinsen zu senken. Von wegen Aufschwung in Deutschland! Die Investitionen gehen zurück. Der Verbrauch stagniert, und sogar der Export zeigt Schwächen. Lediglich die Unternehmensgewinne bleiben auf Rekordniveau. Daß der Süden Europas ökonomisch abstürzt, hat mehr mit den Diktaten der von Merkel und Schäuble verlangten Austeritätspolitik als mit den Zinsen der Notenbank zu tun. Das Mitleid für Draghi ist blanker Hohn.

Ebenso wohlfeil sind zahllose Kommentare zum EZB-Schritt, die betonen, daß diese Übung nichts an der Misere ändern wird, weil die niedrigeren Zinsen ebenso wenig in Spanien, Portugal, Zypern, Italien und Irland ankommen werden wie bislang die nur etwas höheren. Natürlich stimmt das. Aber woran liegt es, daß Unternehmer und Verbraucher in Spanien dreimal so hohe Zinsen zahlen müssen wie Unternehmer und Verbraucher in Deutschland? Die Frage berührt den Kern der Euro-Krise. Die Länder der Währungsunion treten gemäß den Euro-Verträgen als Wettbewerber um die Gunst des Kapitals auf. Die Schwachen müssen, wie es am Finanzmarkt unter Banken und Kaufleuten üblich ist, hohe Zinsen zahlen, die Starken erhalten Kredit jederzeit und zu günstigen Konditionen. So unterschiedlich wie mit den Staaten geht der Finanzmarkt auch mit deren Bewohnern um. Das zerstört auf Dauer die Euro-Zone. Einige Notenbanker sinnen tatsächlich auf Abhilfe.

Die Zentralbank könnte den Finanzmarkt bei der Kreditschöpfung ein klein wenig umgehen, könnte selbst zinsgünstige Darlehen an Kleinunternehmer in den Krisenländern anbieten. Das wäre vermutlich zu sozialistisch. Deshalb würde man, ganz so wie es jetzt staatliche Förderbanken wie die KfW tun, den privaten Geldhäusern solche zinsgünstigen Kredite billig refinanzieren. Noch müssen neoliberale Dogmatiker und Praktiker über diesen Vorschlag streiten. Doch erzwingt die aktuelle Misere, das wüste Walten des freien Finanzmarktes ein ganz klein wenig einzuschränken.

** Unser Autor ist Finanzjournalist und Publizist. Er lebt in Frankfurt am Main.

Aus: junge Welt, Samstag, 4. Mai 2013



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