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Krise spaltet Europa

Keine "Wirtschaftsregierung", keine Finanztransaktionssteuer: Brüsseler Gipfeltreffen offenbart erneut scharfe Interessenkonflikte innerhalb der Staatengemeinschaft

Von Tomasz Konicz *

Am Donnerstag war es wieder soweit. 27 europäische Staats- und Regierungschefs versammelten sich in Brüssel zu einem wahren EU-Mammutgipfel. Diesmal sollten im Vorfeld des Treffens der G-20-Gruppe im kanadischen Toronto die Richtlinien künftiger europäischer Wirtschaftspolitik reformuliert werden. Es ginge um die Neujustierung der »wirtschaftspolitischen Weichen für das kommende Jahrzehnt«, behauptete Spiegel online. Zur Diskussion standen weitreichende Vorhaben wie eine Verschärfung des Euro-Stabilitätspaktes, der Aufbau von einer gemeinsamen »Wirtschaftsregierung«, die Einführung einer Finanztransaktions- sowie Bankensteuer und die Festlegung sozioökonomischer Ziele für die nächsten zehn Jahre.

Selbst angesichts der bescheidenen Maßstäbe fielen die Ergebnisse mehr als mager aus. Die zunehmenden Spannungen und Differenzen innerhalb der EU ließen nur einen minimalen Konsens bei der eventuellen Einführung einer Bankensteuer zu. Durch diese Abgabe soll die Finanzbranche an den Kosten der Krisenbewältigung beteiligt werden. Doch Großbritannien – das Wettbewerbsnachteile für den Finanzstandort London befürchtet – konnte durchsetzen, daß keine einheitliche europaweite Steuer eingeführt wird. Statt dessen sollen verbindliche Eckdaten von der Europäischen Kommission ausgearbeitet werden, die dann in nationales Steuerrecht überführt werden. Unklar ist auch, was mit dem Geld passieren soll. Während die EU-Kommission einen Bankensicherungsfonds bevorzugt, möchten Frankreich und Österreich diese Einkünfte direkt ihren Haushalten zuführen. In weite Ferne rückte aufgrund britischen Widerstands die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die auf Aktienkäufe oder bei Währungsspekulationen fällig werden sollte.

Ansonsten dominierten die zentrifugalen Tendenzen diesen Gipfel. Dem von Paris ins Spiel gebrachten Konzept einer europäischen Wirtschaftsregierung, die auch tatsächliche Machtbefugnisse erhalten sollte, wurde von Berlin bereits bei einem Sondierungsgespräch zwischen Nikolas Sarkozy und Angela Merkel am vergangenen Montag eine Absage erteilt. Es dürfe »keine Spaltung des Binnenmarktes« geben, gab die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) die Argumentation der Bundesregierung wieder. Deutschland, dessen Exportindustrie in besonderem Maße vom EU-Binnenmarkt profitiert, bemühte sich überdies, jegliche Initiativen zur Etablierung eines Finanzausgleichs (Transferunion) im Keim zu ersticken.

Ähnlich erging es aber auch den von Deutschland forcierten Bemühungen, den Euro-Stabilitätspakt zu verschärfen. Der erlaubt bisher theoretisch eine Neuverschuldung von höchstens drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und eine Gesamtverschuldung von höchstens 60 Prozent des BIP. Berlin schwebte vor, künftig Haushaltssündern das Stimmrecht innerhalb der EU-Gremien entziehen zu können. Sie wolle »Verträge mit Zähnen«, hatte Kanzlerin Merkel bei der Pressekonferenz mit Sarkozy am Montag erklärt. Nach dem Gipfel ist die zähnefletschende deutsche Tigerin als Bettvorleger gelandet. Der Stabilitätspakt solle »gestärkt« werden, indem eine intensivere »Überwachung der Haushaltsdisziplin« der Mitgliedsstaaten in Erwägung gezogen würde, hieß es in der Abschlußerklärung. Neue Sanktionen gegen »Defizitsünder« wurden nicht beschlossen.

Von einer einheitlichen Politik der EU kann keine Rede mehr sein. Längst tobt auch in ihren Institutionen ein an Schärfe gewinnender Machtkampf zwischen Frankreich und Deutschland. Dabei hat sich Berlin aufgrund seiner Blockadehaltung bei der Griechenland-Krise und des jüngst aufgelegten umfassenden »Sparpakets« größtenteils isoliert. Die Europäische Zentralbank (EZB) und deren Chef Jean-Claude Trichet, geraten dennoch verstärkt unter Beschuß. Berlin kritisiert deren expansive Geldpolitik und den umfassenden Aufkauf von Staatsanleihen vehement.

Deutschlands Widerstand dagegen nahm im Vorfeld des Gipfels den Charakter offener Sabotage an. Aus dem Umfeld von Regierung und Bundesbank wurden Gerüchte gestreut, denen zufolge Spanien aufgrund einer akuten Finanzierungskrise doch Mittel in Höhe von 250 Milliarden Euro aus dem EU-Rettungsfonds beantragen wolle. Daraufhin verteuerten sich Kreditaufnahmen für das Land weiter, und der Euro setzte erneut zu einer Talfahrt an. Erst nachdem Madrid am Donnerstag erfolgreich eine Anleihe plazieren konnte, beruhigten sich die Finanzmärkte vorübergehend.

Diese Querschüsse aus Berlin sorgten für Empörung. Spaniens konservative Zeitung ABC bezeichnete Angela Merkel in Anspielung auf die starke Präsenz deutscher Finanzinstitute auf der Iberischen Halbinsel als »Kassiererin einer Bank«, die sich zu stark in Spanien exponiert habe. In Brüssel wiederum hieß es, mit diesen Gerüchten sei ein »unverantwortliches Spiel mit dem Feuer« betrieben worden, und sie stammten aus dem Umfeld der Bundesbank. Deren Chef Axel Weber wolle sich als Nachfolger von Trichet bei der EZB in Stellung bringen, schrieb das Handelsblatt. Der einflußreiche französische Kommentator Alain Duhamel beklagte, daß Merkel »den Interessen Deutschlands – mal egoistisch, mal ungeschickt – Priorität« gebe. »Es scheint, als ob Europa unter deutsches Diktat gerät«, warnte der Sarkozy-Berater Jacques Attali. »Die deutsche Hegemonie bewirkt nichts anderes, als die Kluft zwischen Nord und Süd auszubauen«, kommentierte der Ökonom Luigi Zingales gegenüber italienischen Medien. Und Polens Regierungschef Donald Tusk warnte vor der »Gefahr eines Auseinanderbrechens der EU«, falls Berlin weiterhin gemeinsam mit großen Staaten die Europäische Union umzubauen versuche.

* Aus: junge Welt, 19. Juni 2010


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