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Misstrauen gegen die EU

Von Gerhard Klas *

Bei den ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament 1979 lag die Beteiligung noch bei 63 Prozent. Bei der Abstimmung vor zwei Wochen ist sie bei durchschnittlichen 43 Prozent angekommen. Ein deutliches Misstrauensvotum. Es reicht eben nicht, geringfügig die Handytarife für das internationale Roaming zu senken, um den Bürgern, so EU-Kommissionspräsident Barroso, den »Mehrwert Europas« deutlich zu machen. Zu groß ist die Abneigung der EU-Bürger gegenüber einem staatsähnlichen Gebilde, auf das sie auch mit der Abgabe ihrer Stimme nur wenig Einfluss nehmen können.

Die politischen Entscheidungen aus Brüssel haben jedoch konkrete Auswirkungen auf das Leben der Bürger. Die EU-Bürokratie ist eng mit der Wirtschaft verbandelt; die Verträge - von Maastricht bis Lissabon - heizen die Konkurrenz um die billigsten Arbeitsplätze und niedrigsten Sozialstandards in der EU an. Seit Jahrzehnten ist die Lohnquote - das ist der Anteil der Löhne am Volkseinkommen - in der EU kontinuierlich gesunken. Mehr als 70 Millionen Menschen leben unterhalb der nationalen Armutsgrenzen.

Die EU-weit abgegebenen Stimmen spiegeln diese objektive Entwicklung nur bedingt wider. Die großen Volksparteien - ob konservativ oder sozialdemokratisch - stehen für eine Fortsetzung der skizzierten Politik, ebenso die Liberalen. Zwei dieser drei Fraktionen - bis auf die konservative - haben Sitze im Europaparlament verloren.

Gewonnen haben hingegen die rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien, die mit Nationalismus und Rassismus vermeintliche Antworten auf die soziale Schieflage geben wollen, die sich mit der globalen Wirtschaftskrise weiter zuspitzen wird. Mehr Sitze gewonnen hat auch die Fraktion der Grünen im Europaparlament. Das kann sicher als Ausdruck für ein allgemein gesteigertes Umweltbewusstsein gewertet werden. Allerdings vertritt diese Fraktion in europapolitischen Fragen sehr unterschiedliche Positionen: So ist der Lissabon-Vertrag bei den niederländischen und Teilen der französischen Grünen sehr umstritten, während die meisten deutschen Mandatsträger der Grünen zu den heftigsten Verfechtern dieses Vertrages zählen. Bleiben die Linksparteien, die im Gegensatz zu den rechten Parteien nicht als Europagegner auftreten, sondern für ein anderes, sozial gerechteres Europa eintreten: Dort, wo sie wie in Italien als Steigbügelhalter der politischen Mitte sogar den Afghanistan-Einsatz mit unterstützten, sind sie in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. In Frankreich hingegen haben die Linksparteien zusammen 12 Prozent der Stimmen errungen, ähnliches gilt für Portugal. Als Fraktion haben die Linken im Europaparlament allerdings verloren. Insgesamt hat sich die Zusammensetzung der EU-Volksvertretung also nach rechts verschoben.

Die größte Partei aber ist die der Nichtwähler. Die niedrige Wahlbeteiligung steht in einem deutlichen Kontrast zur Beteiligung an den Referenden über den EU-Verfassungsentwurf in Frankreich und den Niederlanden. Im Frühjahr 2005 beteiligten sich dort mehr als 50 beziehungsweise 60 Prozent der Stimmungsberechtigten. Ebenso beim jüngsten Referendum über den Vertrag von Lissabon in Irland. Auch dort gingen mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten an die Urne. Mehr plebiszitäre Elemente in der Europapolitik wären sicher ein Mittel, um das Bewusstsein für europapolitische Fragen in der Bevölkerung zu schärfen. Allerdings nur, wenn die Ergebnisse anschließend auch politisch umgesetzt und nicht einfach nur übergangen würden.

Der Publizist und Journalist lebt in Köln und beschäftigt sich unter anderem mit Fragen der Demokratieentwicklung in Europa.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Juni 2009


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