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Kerneuropa-Phantasien

Griechenland und Portugal raus aus dem Euro, für den Rest Agenda 2010. Exportwirtschaft entwirft Szenarien für künftige EU und warnt vor "Achse London–Paris–Moskau"

Von Johannes Schulten *

Griechenland und Portugal sollen den Euro-Raum verlassen, Italien bekommt noch eine Chance zu bleiben – »falls das italienische Volk bereit ist, die Spielregeln der sozialen Marktwirtschaft zu akzeptieren und sich von Besitzstandsenken zu lösen«. Für den Rest gibt es Agenda 2010. Vertreter deutscher Kapitalverbände waren noch nie für ihre Zurückhaltung bekannt. Doch wenn Anton F. Börner, Präsident des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA) und somit Sprecher der deutschen Exportindustrie, unverhohlen zur Sprengung der EU aufruft, löst das beim Beobachter schon eine gewisse Verwunderung aus. Schließlich ist es seine Branche, die in den letzten Jahrzehnten am stärksten von Europa und dem Euro profitiert hat und für 2011 mit neuen Rekorden rechnet: In diesem Jahr werde die deutsche Wirtschaft erstmals mehr als eine Billion Euro mit Exporten umsetzen, kündigte Börner bei der Vorstellung der Außenhandelsbilanz 2011 am Dienstag in Berlin an. Dieses Ziel war beim letzten Rekordjahr 2008 noch knapp verfehlt worden. Um zwölf Prozent auf 1075 Milliarden Euro werden die deutschen Ausfuhren 2011 laut BGA ansteigen. Die Importe wuchsen demnach noch dynamischer als die Exporte und werden 919 Milliarden Euro einbringen.

Trotz »stürmischer Zeiten auf den Finanzmärkten« setzte Deutschland auch 2011 seinen »Sonderweg« überdimensionaler Exportüberschüsse konsequent fort. Diese werden sich laut BGA bis Jahresende noch einmal um drei Milliarden auf 156 Milliarden Euro steigern.

Fortgesetzt wurde auch ein anderer Trend. Die größten Zuwächse erzielten die Unternehmen außerhalb der EU: So werden die Ausfuhren nach Rußland in diesem Jahr voraussichtlich um 35 Prozent, nach China um knapp 25 Prozent zulegen. Sogar die Exporte ins krisengeschüttelte Japan verzeichneten einen Plus von voraussichtlich zwölf Prozent, ebenso wie die in die USA. Gleichwohl bleibt die EU mit Abstand der wichtigste Handelspartner der BRD. 60 Prozent aller Ausfuhren gingen im ersten Halbjahr 2011 in 26 EU-Länder. Das ist ein leichter Rückgang von fünf Prozent gegenüber 2007. Hauptverantwortlich dafür dürften die Einbrüche in Griechenland und Portugal sein; die Ausfuhren dorthin verringerten sich um knapp acht bzw. vier Prozent. Tatsache sei aber auch, so Börner, »daß die Exporte nach Nord- und Mitteleuropa stabil wachsen. Nach Ungarn und Rumänien konnten 2011 sogar 20 Prozent mehr Waren verkauft werden als im Jahr zuvor.«

Für 2012 zeigte sich der BGA-Chef »vorsichtig optimistische«. Man rechne bei den Ausfuhren mit einem Plus von mindestens sechs Prozent. Voraussetzung dafür sei aber eine Lösung der europäischen Schuldenkrise. »Wenn uns jedoch die Staatsfinanzen in den europäischen Ländern entgleiten sollten, wären sämtliche Erwartungen Makulatur.« Damit dieses nicht geschieht, bedarf es nach Ansicht Börners einer »Agenda 2010« für ganz Europa. Niemandem sei allein mit Subventionen aus Nordeuropa geholfen. »Wenn ein Volk immer nur am Tropf vom reichen Onkel aus dem Norden« hängen würde, sei das für alle Beteiligten demotivierend, so die bestechende Logik.

Allerdings würden in Griechenland und Portugal nach Meinung von Börner nicht einmal die schärfsten Kürzungspakete mehr helfen, um in der Euro-Zone zu bleiben: »Ich empfehle Griechenland und im weitesten Sinne auch Portugal, freiwillig aus der Euro-Zone auszutreten.«

Aber auch in Richtung Italien mangelte es dem BGA nicht an markigen Forderungen. »Insbesondere, was Italien angeht, sage ich klar und deutlich: Hart bleiben, Frau Merkel«, hieß es an die Adresse der Bundeskanzlerin. Den neuen Ministerpräsidenten, Mario Monti, bezeichnete der BGA-Vorsitzende zwar als »ehrenwerten Mann«, der durch Tätigkeit als EU-Kommissar »die Gesetze der weltweiten Marktwirtschaft internalisiert hat« – anders aber das »italienische Volk«.

»Alle Schichten und Klassen« müßten bereit sein, sich dem Wettbewerb zu stellen und mit den »starren, kartellierten und korporatistisch organisierten Strukturen des Landes« zu brechen. »Falls die italienische Gesellschaft nicht willens ist, das zu tun– und das werden wir in den nächsten zwölf Monaten sehen – empfehle ich auch Italien, aus der Euro-Zone herauszugehen«, so die klare Botschaft.

Als Horrorszenarium präsentierte Börner den Ausstieg Frankreichs aus dem Euro-Raum. Paris, dessen Topbewertung »AAA« Gerüchten zufolge in den nächsten Monaten von der Ratingagentur Standard & Poor’s herabgestuft werden könnte, ist der wichtigste Handelspartner Deutschlands. In der ersten Jahreshälfte habe das Exportvolumen ins Nachbarland bei 51 Milliarden Euro gelegen und damit 9,5 Prozent des gesamten deutschen Außenhandelsvolumens ausgemacht. »Wenn Paris aus dem Euro aussteigt, sind jedoch vor allem die politischen Folgekosten unkalkulierbar«, warnte Börner. Um dieses Angstszenario zu untermalen, bemühte er gar Kaiserreich-Phantasien des aggressiven Franzosen. Paris würde den Protektionismus vorantreiben und eine »Achse mit London gegen Deutschland schmieden«; damit hätte man bald auch Warschau und Prag auf seine Seite gezogen, die Deutschland-AG wäre isoliert.

* Aus: junge Welt, 30. November 2011


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