Europa hängt eine Generation ab
In den Krisenländern steigt die Jugenderwerbslosigkeit weiter – immer mehr Junge verlassen ihre Heimat
Von Ralf Streck *
In südeuropäischen Krisenländern ist etwa die Hälfte der jungen Menschen arbeitslos. Es droht eine verlorene Generation heranzuwachsen.
Die Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa hat ein junges Gesicht. Die Zahl der unter 25-Jährigen ohne Job ist seit 2008 in vielen Ländern explodiert. Das macht deutlich, dass dieses Problem von den Verantwortlichen schlicht ignoriert wurde. Ausgerechnet in Ländern, die Rettungsmilliarden erhielten, ist die Lage dramatisch, allen voran in Griechenland. Die letzten offiziellen Zahlen, die der europäischen Statistikbehörde Eurostat vorliegen, sind vom Februar. Damals lag die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland bei 62,5 Prozent.
Die Lage in Spanien, das bisher Milliarden für die Bankenrettung erhielt, ist ähnlich. Die Quote stieg auf 56,4 Prozent, auch in Portugal und Italien ist die Lage mit über 40 Prozent kritisch. Nur Irland, das auch unter den Rettungsschirm ging, stellt eine Ausnahme dar. Zwar liegt die Jugendarbeitslosigkeit mit 26,6 Prozent noch über dem EU-Durchschnitt, doch in Irland ging sie im Gegensatz zu den übrigen Krisenländern zurück. Vor einem Jahr waren es noch 31,3 Prozent. Das hat aber auch stark damit zu tun, dass viele Menschen seit Beginn der Krise die Insel verlassen haben – darunter etwa 200 000 junge Menschen. Das ist angesichts einer Gesamtbevölkerung von gut 4,5 Millionen eine erhebliche Zahl.
Ähnliches scheinen Politiker aber derzeit auch für andere Länder anzustreben. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen unterzeichnete kürzlich eine Absichtserklärung in Spanien. Demnach sollen jährlich 5000 junge Spanier nach Deutschland geholt werden, um hierzulande freie Ausbildungsplätze zu besetzen. In Spanien ist die Auswanderung junger Menschen im Jahr 2012 richtig in Schwung gekommen. Die Zahl junger Zuwanderer nach Deutschland erhöhte sich im vergangenen Jahr um knapp 30 000 und damit um fast 50 Prozent gegenüber 2011. Ähnliche Quoten wurden aus Griechenland, Italien, Portugal und aus dem nächsten Rettungskandidaten Slowenien registriert.
Ein Effekt wie in Irland lässt sich in Spanien mit seinen 47 Millionen Einwohnern und einer Million junger Menschen ohne Job kaum erreichen und noch weniger im noch größeren Italien. Für die Krisenländer ist die Abwanderung ohnehin ein Minusgeschäft: Sie tragen die Kosten für Erziehung und Ausbildung; den Profit streichen andere ein. Die Krisenländer verlieren damit ihre dynamischsten, innovativsten und produktivsten Kräfte. So mahnte der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, dass die jungen Leute in ihrem jeweiligen Land gebraucht würden, »wenn es wirtschaftlich wieder auf die Füße kommen soll«.
Nun wird das Problem als »tickende Zeitbombe« bezeichnet. Mit Geld soll das geflickt werden, was zuvor über massive Sparprogramme zerstört wurde. Vor allem der französische Präsident François Hollande machte Druck, um Deutschland einen Aktionsplan abzuringen, denn auch in Frankreich steigt die Jugendarbeitslosigkeit. Sechs Milliarden Euro der Europäischen Investitionsbank (EIB) sollen nun bis 2020 dazu führen, dass kleine und mittlere Firmen einfacher Zugang zu Krediten bekommen, wenn sie Arbeitsplätze für junge Menschen schaffen.
Das EIB-Geld soll als Garantie dienen und auf die zehnfache Gesamtsumme gehebelt werden. Ob das gelingt, darf bezweifelt werden. Gegenüber der Bankenrettung in Europa – allein in Spanien flossen 2012 dafür 40 Milliarden aus Europa – ist es zudem nur eine geringe Summe. Angesichts sechs Millionen junger Erwerbsloser meint sogar der deutsche EIB-Präsident Werner Hoyer, es sei nicht mehr als eine »Träne im Ozean«.
Interessen von Ländern wie Deutschland werden in den Plänen sehr deutlich, wenn von einer Förderung der dualen Ausbildung und einer Erleichterung der Mobilität nicht nur im Inland, sondern auch in ganz Europa gesprochen wird. Es soll also auch viel Geld fließen, um Immigration in diejenigen Länder zu fördern, die ohnehin von der Zuwanderung der Fachkräfte profitieren. Von der Leyen spricht unumwunden vom »Glücksfall«, weil Deutschland »jünger, kreativer und internationaler« werde. Ihr Ministerium beklagt längst, dass vielen Unternehmen die Fachkräfte fehlten. Das habe schwerwiegende Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland, der ohne sie nur »schwer im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig« bleiben könne.
* Aus: neues deutschland, Montag, 10. Juni 2013
"Im Grunde ist man wertlos
Berufsanfänger haben es in Schweden schwer
Von André Anwar, Stockholm **
Auch im prosperierenden Schweden ist die Jugendarbeitslosigkeit drastisch gestiegen. Insbesondere bei den immer stärker vertretenen Zeitarbeitsfirmen haben Berufsanfänger keine Chance.
Lisa (23) kommt aus einer Stockholmer Arbeiterfamilie. Die Mutter ist Vorschulerzieherin, der Vater Hausmeister. Lisa konnte im ursozialdemokratisch geprägten Schweden Abitur machen und studierte Verhaltenswissenschaften. Sie war die erste in ihrer Familie, die einen Bachelor in der Tasche hat. Und durchweg gute Noten.
Doch dann begannen die Probleme. Lisa fand keine Arbeit und musste aus ihrer WG in Uppsala zurück zu den Eltern ziehen. Gelegentlich konnte sie über ihren Vater für die Wohnungsgesellschaft arbeiten. Zwei Jahre lang verschickte sie jeden Tag individuell geschriebene Bewerbungen – erfolglos.
»In den 60ern gab es viel Arbeit für alle. Heute ist es egal, ob du eine gute Berufs- oder Hochschulausbildung hast. Du kriegst keine Arbeit mehr oder wirst nur ausgenutzt von Zeitarbeitsfirmen. Junge Menschen ohne Eltern mit Kontakten haben es schwer«, sagt Vater Gunnar.
Die Arbeitslosigkeit bei den 15- bis 24-Jährigen ist in den vergangenen fünf Jahren von 20 auf 27,2 Prozent gestiegen. Das ist für das wirtschaftlich starke Schweden bemerkenswert. Gerade der große öffentliche Sektor war lange ein wichtiger Arbeitgeber für junge Menschen ohne Berufserfahrung. Inzwischen ist er aber geschrumpft, viel wurde ausgelagert. Sogar die Arbeitsämter bedienen sich der Zeitarbeitsfirmen, wenn es um Jobs für junge Leute geht.
Lisa geriet oft an die gleiche Zeitarbeitsfirma. »Man wurde wie der letzte Dreck behandelt, und eine berufliche Zukunft bieten die einem auch nicht«, sagt sie. In Schweden haben sich Leiharbeitsfirmen auf dem gesamten Arbeitsmarkt ausgebreitet. Ausgerechnet die Sozialdemokraten schafften mit ihnen Rechte ab, die Arbeiter in Schweden jahrzehntelang genossen hatten. »Im Grunde ist man wertlos und völlig austauschbar«, sagt Lisa. Es gebe keinen Kündigungsschutz, keine soziale Verantwortung des Arbeitgebers, keine Weiterbildungsmöglichkeiten und keine Aufstiegschancen.
Lisa hatte irgendwann Glück: In der staatlichen Wohnungsgesellschaft wurde eine Vertretungsstelle frei. Durch ihren Vater, und weil Lisa bereits für die Mieterzeitung der Hausverwaltung ehrenamtlich gearbeitet hatte, bekam sie den Job. Nun hofft sie, dass sie mit mehr Berufserfahrung danach woanders einen festen Arbeitsplatz findet.
** Aus: neues deutschland, Montag, 10. Juni 2013
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