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Imperiales Europa

Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt streben die europäische Weltherrschaft an. Ab heute touren sie mit ihrem "Manifest" durch die EU. Am 3. Oktober sind sie in Berlin

Von Thomas Wagner *

Der einstige 68er-Rebell, Frankfurter Sponti und Veteran der grünen Bewegung, Daniel Cohn-Bendit (geb. 1945), hat eine bemerkenswerte Wandlung vollzogen. Erst verordnete er seinen Genossen eine »Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus«, dann machte er aus den ehemals pazifistischen Grünen gemeinsam mit Joschka Fischer und anderen eine bellizistische Partei. Nun plädiert er zusammen mit dem ehemaligen belgischen Premierminister und Europapolitiker Guy Verhofstadt (geb. 1953) ganz offen für den europäischen Griff nach der Weltherrschaft. Ihr gemeinsames Pamphlet »Für Europa! Ein Manifest« artikuliert ganz unverblümt den Wunsch, die EU möge in der »Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle« spielen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen die europäischen Staaten ihre Souveränität zügig an eine europäische Föderation abgeben. »Wir haben eine klare Alternative: Entweder wählen wir entschlossen ein föderales Europa, die Vereinigten Staaten von Europa, oder wir fallen alle gemeinsam zurück in unsere nationalen Verliese«, heißt es in dem Text, den die Autoren ab heute in ganz Europa und am »Tag der deutschen Einheit« auch in Berlin vorstellen.

Etikettenschwindel

Doch so wichtig die darin geforderte »Überwindung des heute vorherrschenden Egoismus der Mitgliedsstaaten« auch sein mag, die von den beiden Europapolitikern ausgerufene »postnationale Revolution« ist ein Etikettenschwindel. Denn die Nationalstaaten sollen nur verschwinden, um einer noch mächtigeren Herrschaftsform den Weg zu bereiten: einem europäischen Imperium, das dann den USA, China oder Indien auf gleicher Augenhöhe begegnen soll. Erklärtes Ziel ist es, sich im »Interesse aller Bürger und Völker Europas« im globalen Konkurrenzkampf mit anderen imperialen Mächten an die Spitze zu setzen. Ein starkes und vereinigtes Europa wäre »der mächtigste und wohlhabendste Kontinent der Welt; reicher als Amerika, mächtiger als alle neuen Imperien zusammen«. Ohne Soldaten, die » überall in der Welt zum Einsatz kommen könnten«, ist ein solches »›Imperium‹ im guten Sinne des Wortes« selbstverständlich nicht zu haben: »Nur eine europäische Armee, die mobil und technologisch auf dem neuesten Stand ist, kann in Zukunft unsere Werte und unsere Unabhängigkeit verteidigen« sowie die Menschenrechte und die Freiheit »verbreiten«. Mit der »responsibility to protect«, der sogenannten Schutzverantwortung, sei »der Anfang einer universell gültigen, kosmopolitischen Rechtsordnung« eingeleitet worden. Das Scheitern des europäischen Projekts wäre daher ein »enormer Rückschlag«, »eine veritable Katastrophe« für »die Entwicklung unseres Planeten, denn es würde dem Multilateralismus einen fatalen Schlag versetzen.« Denn nur ein vereinigtes Europa könne »am Entwurf einer neuen, weltweiten Wirtschafts- und Finanzregulierung federführend beteiligt sein« und den »Kampf gegen die Klimaveränderung, die Entwicklung der Nachhaltigkeit« sowie den »Kampf gegen die Armut« voranbringen. »Mehr noch: Überall in der Welt würden nationale Rivalitäten und Spannungen zwischen verschiedenen Ländern wieder ansteigen. Sogar Handelskonflikte im großen Stil und neue internationale Kriege sind in diesem Fall nicht auszuschließen«, behaupten die Autoren, ohne zu begründen, warum die Welt ausgerechnet am Wesen einer militärisch hochgerüsteten Großmacht Europa genesen sollte. In Wirklichkeit geht es auch nicht um Friedensstiftung und Ausgleich, sondern darum, jene Werte zu verbreiten, die ihren Ursprung im imperialistisch verengten Blick der Autoren angeblich allein in Europa haben: die Aufklärung, den Rechtsstaat, die soziale Sicherheit, die Demokratie und schließlich »die freie Wirtschaft«. Gäbe man diesbezüglich das Ruder weltweit aus der Hand, verschwände »die nordatlantische Allianz« zugunsten »einer Welt, die sich immer stärker um den Stillen Ozean schart. Kurzum: Ein wirtschaftlicher Gezeitenwechsel drängt sich auf. Sonst droht der Einfluß unserer zweitausendjährigen Kultur einfach weggefegt zu werden.« Das eigentliche Ziel ist aber nicht Verteidigung hehrer Werte oder die Rettung des Abendlands, sondern die Durchsetzung der globalen Interessen des europäischen Kapitals.

Grüner Imperialismus

Daß es sich beim Kapitalismus um ein Herrschaftssystem handelt, welches es wegzufegen sich lohnen würde, um der Demokratie den nötigen Entfaltungsraum zu verschaffen, kommt dem grünen Politikstrategen Cohn-Bendit heute nicht mehr in den Sinn. Nun verficht er gemeinsam mit seinem Koautoren ein elitäres Politikmodell, das die unter der Fahne des Liberalismus verübten Verbrechen europäischer und US-amerikanischer Regierungen (Kolonialismus, imperialistische Angriffskriege, Genozide) unter den Teppich kehrt und selbstredend weder die Eigentumsverhältnisse in Frage noch die Überwindung von Herrschaft durch die Selbstorganisation der Massen in Aussicht stellt. Statt dessen verfahren die Autoren erklärtermaßen nach der Devise: »Demokratie heißt, der öffentlichen Meinung voraus zu sein.« Im Klartex heißt das, die Politiker sollen sich von den Wünschen und Interessen ihres Wahlvolks nicht weiter irritieren lassen und nach eigenem Gutdünken die Führung übernehmen. Wer unter Demokratie mehr versteht als das, gerät in die Gefahr, in den Geltungsbereich der von Cohn-Bendit und Verhofstadt vertretenen Totalitarismusdoktrin zu geraten, die weit über die übliche Gleichsetzung von »Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus« als »Feinde der Freiheit« hinausgeht. Die Autoren schrecken nämlich nicht davor zurück, auch vermeintliche »Populisten von links« als Wiedergänger der »dämonischen Dreiheit« zu denunzieren, falls diese Einwände gegen das Europaprojekt der Eliten zu erheben gedenken. Seiner eigenen grünen Klientel verkauft Cohn-Bendit das Streben nach europäischer Weltherrschaft als antinationalistisches Modernisierungsprojekt, das durch die Zusammenlegung der militärischen Kapazitäten und die Verkleinerung der Truppenstärke ein erhebliches Sparpotenzial birgt und unter dem Etikett des »green deal« einer Modernisierung des Kapitalismus nach ökologischen Vorgaben den Weg bereitet: »die Industrie, das Baugewerbe, die Renovierung öffentlicher und privater Gebäude, der private und öffentliche Verkehr, die erneuerbaren Energien, die Landwirtschaft, die Biodiversität – bis hin zum Abfall. All diese Sektoren könnten sofort profitieren von der Schaffung neuer, nicht auslagerbarer Arbeitsplätze, von Innovation und von einer neu erworbenen Unabhängigkeit von Rohstoffen. Ein green deal ist der einzige Ausweg aus der Krise, wenn wir nicht in eine Rezession mit dramatischen Folgen für unseren Wohlstand und unsere Position in der Welt abrutschen wollen.«

Die nächsten Schritte

Cohn-Bendit und Verhofstadt haben die Realisierung des europäischen Bundesstaats, an den die Bürger dann auch direkt einen Teil ihrer Steuern zahlen, ein Drehbuch mit ganz konkreten Schritten vorgelegt, das sich am Vorbild der Konferenz von Philadelphia 1787 in den USA orientiert. »Wir schlagen vor, daß sich das europäische Parlament nach den Wahlen 2014 im Einverständnis mit dem Ministerrat, der anderen mitlegislativen Kammer selbst zur verfassungsgebenden Versammlung erklärt und eine europäische Verfassung schreibt, die nicht einfach nur die bestehenden Verträge resümiert, wie das 2004 der Fall war. Dieser Text muß die Prinzipien einer europäischen Föderation resümieren, und er muß kurz sein. Er muß durch ein Referendum in allen Ländern mit doppelter Mehrheit (die Mehrheit der Staaten und der Bürger) beschlossen werden. Staaten, die »nein« gewählt haben, müssen sich im Anschluß daran jedenfalls per Referendum entscheiden, ob sie in dem neuen, föderalen Europa bleiben oder es verlassen wollen.« Anvisiert wird die Umstrukturierung der Europäischen Kommission »zu einer echten Regierung« mit europäischen Ministern, »kontrolliert von einem europäischen Parlament mit gestärkten Befugnissen, einschließlich des Rechtes, selbst als Gesetzgeber die Initiative zu ergreifen« und mit einem Europäischen Senat, der aus Abgeordneten der Mitgliedsstaaten zusammengesetzt ist. An der Spitze der Regierung, die aus der heutigen Europäischen Kommission hervorgeht, soll ein Präsident stehen, dessen Macht und Unabhängigkeit auf seine Direktwahl durch das europäische Volk zurückgeht. »So würde er tatsächlich zum Präsidenten der Union und hätte die notwendige Legitimation, um mit den Regierungschefs auf Augenhöhe zu sprechen.«

Cohn-Bendit, Daniel/Verhofstadt, Guy: Für Europa! - Ein Manifest. Carl Hanser Verlag, München 2012, 64 Seiten, 8 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 01. Oktober 2012


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