Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Auf Kurs gebracht

Gewerkschaftstag der IG Metall: "Karlsruher Erklärung" zur Krise in Europa verabschiedet. Solidarität mit Beschäftigten der Schuldnerstaaten bekräftigt

Von Daniel Behruzi *

Er habe noch nie »eine solche Orientierungslosigkeit erlebt wie beim Thema Euro-Krise«, so Uwe Meinhardt bei dem am Wochenede zu Ende gehenden Gewerkschaftstag in Karlsruhe. Der Zweite Bevollmächtigte der Stuttgarter IG Metall meinte damit nicht nur Bevölkerung und Politik, sondern auch Gewerkschaftsmitglieder und Funktionäre. Das reiche »von dem ökonomisch verkürzten ›Unsere Exportwirtschaft braucht den Euro‹ über das etwas trotzige ›Die Amis sollen ganz still sein, die haben’s gerade nötig‹ bis hin zu ›Raus mit dem faulen Griechenpack, und mit unserer schönen D-Mark war es früher eh viel besser‹«, sagte Meinhardt und warnte: »Diese Orientierungslosigkeit bildet den Nährboden für einen neuen, zunächst einmal ökonomisch verbrämten Nationalismus bei uns, hinter dem aber bereits jetzt das Gespenst der Ausgrenzung und Verachtung von sozial Schwächeren hervorgrinst.« Daher müsse die IG Metall den Menschen eine deutliche Orientierung geben. Die 481 Delegierten folgten Meinhardts Appell und verabschiedeten einstimmig einen Initiativantrag, der sich für einen »Kurswechsel in Europa« starkmacht.

Verursacher werden geschont

Europa sei »Geisel von Banken und anderen Finanzmarktakteuren«, heißt es in dem als »Karlsruher Erklärung« verabschiedeten Text. Die Politik reagiere hilflos, zögerlich und verschreckt. Als Ursachen der Krise benennt er neben dem Wirtschaftseinbruch von 2008/2009 die Deregulierung der Finanzmärkte, die Umverteilung der Einkommen »von den Leistungsträgern der Gesellschaft hin zu den Vermögenden und Reichen« sowie die Tatsache, daß mit dem Euro zwar ein einheitlicher Währungsraum, aber keine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftsregierung geschaffen wurde. Deutliche Kritik äußert die IG Metall an der aktuellen Sparpolitik, die »die Probleme nicht lösen, sondern weiter verschärfen wird«. Die abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen – insbesondere junge Menschen – seien die Leidtragenden, während »die Verursacher und Nutznießer der Krise geschont« würden.

Meinhardt verwies in seiner Rede darauf, daß junge Menschen in Spanien »bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 48 Prozent mit absoluter Sicherheit zur Kenntnis nehmen müssen, daß jeder zweite von ihnen – so gut die Ausbildung auch sein mag – nicht den Hauch einer Chance haben wird, im Heimatland einen sicheren Job mit halbwegs vernünftiger Bezahlung zu kriegen«. Dies werde nicht zur Entstehung einer Generation von Revolutionären führen, glaubt der Stuttgarter Funktionär, der vom Gewerkschaftstag in den 36köpfigen IG-Metall-Vorstand gewählt wurde. Allerdings würden »Hunderttausende an allen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft verzweifeln – auch an Gewerkschaften«. Daher hätten die Menschen ein Recht auf gewerkschaftliche Solidarität.

Vermögen besteuern

In der »Karlsruher Erklärung« wird allerdings betont, daß verbale Unterstützung allein nicht ausreicht: »Die abhängig Beschäftigten erwarten von der stärksten Einzelgewerkschaft nicht allein Solidaritätserklärungen.« Die wirkungsvollste praktische Unterstützung der südeuropäischen Kollegen liege darin, hierzulande prekäre und schlecht bezahlte Beschäftigung zurückzudrängen. Daher werde die IG Metall die unbefristete Übernahme von Auszubildenden sowie »die Verhinderung, Begrenzung und soziale Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen« in kommenden Tarifauseinandersetzungen zum Thema machen. Von der Politik fordert die Gewerkschaft einen »sofortigen Kurswechsel hin zu einem demokratischen, ökologischen und sozialen Europa«.

Konkret spricht sich die IG Metall für eine demokratisch legitimierte europäische Wirtschafts- und Finanzregierung aus, »die Korridore der Einnahmen- und Ausgabenpolitik sowie Vorgaben für die Verschuldung der Euro-Staaten vereinbaren und durchsetzen kann«. Gleichfalls sollen gerechte Besteuerungskorridore für alle EU-Staaten festgelegt werden, »insbesondere in der Unternehmens- und Einkommensbesteuerung und auch in der Besteuerung hoher Vermögen und Erbschaften«. Die Eindämmung des Niedriglohnsektors soll das soziale Europa festigen, ein europäischer Solidarpakt in Bildung, Forschung und Entwicklung dessen wirtschaftliche Dynamik fördern. Die Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen will die IG Metall »als Gegengewicht gegen die Shareholder-Interessen« ausweiten. Zudem fordert die Gewerkschaft eine Finanztransaktionssteuer sowie die vollständige Haftung der Finanzmarktakteure für ihre Geschäfte mittels eines »Spekulationssicherungsfonds«.

Der Euro, für dessen Erhalt sich IG Metall und DGB zuletzt per Anzeigenkampagne starkgemacht haben, wird in dem Text nicht explizit erwähnt. Dafür enthält er aber zumindest etwas Praktisches: Europäischer Gewerkschafts- und Metallgewerkschaftsbund werden aufgefordert, »eine Aktionsplattform der europäischen Gewerkschaften zu erarbeiten, um mit einer möglichst einheitlichen und machtvollen Stimme die Interessen der Beschäftigten in die politische Entscheidungsprozesse Europas einzubringen«.

* Aus: junge Welt, 15. Oktober 2011

Kurswechsel für Europa - KARLSRUHER ERKLÄRUNG

Europa – einst als großes Friedens- und Wohlstandsprojekt von mehreren Generationen gestartet – ist heute die Geisel von Banken und anderen Finanzmarktakteuren.

Die Politik der EU-Kommission und der Regierungen der Mitgliedsstaaten reagiert auf diese Marktmächte oft hilflos, zögerlich und verschreckt. Gerade dadurch erhalten die Finanzmärkte ihre Macht. Nicht die vielbeschworene „unsichtbare Hand“ der Märkte ist das Problem, sondern eine Politik, die sich diesen Akteuren unterwirft.

Die Krise in Europa hat viele Ursachen. Sie ist einerseits Folge der großen Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009. Und anderseits sind die Ursachen in der unzureichenden Politik vieler Mitgliedsstaaten der EU zu finden. Sicher ist: Die jahrzehntelange Deregulierung der Finanzmärkte und die falsche Orientierung am Shareholder- Value, die Umverteilung von Einkommen von den Leistungsträgern der Gesellschaft hin zu den Vermögen der Reichen, die Schaffung des einheitlichen Euro-Währungsraums ohne eine gemeinsame demokratisch verankerte Finanz- und Wirtschaftsregierung haben die heutigen Verschuldungsprobleme und die Destabilisierung in Europa erst hervorgerufen.

In den letzten zwanzig Jahren wurde zudem die soziale Absicherung von Arbeit in allen europäischen Ländern untergraben. Die rasante Zunahme unsicherer und schlecht bezahlter Jobs und die in vielen Ländern anhaltende Massenarbeitslosigkeit unterspülen außerdem die Finanzierungsfundamente der Sozialstaaten.

Sicher ist, dass eine drastische Sparpolitik die Probleme nicht lösen, sondern weiter verschärfen wird. Die jetzt propagierte Sparpolitik lädt alle Krisenlasten bei den abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen, insbesondere den jungen Menschen, bei Rentnern und Rentnerinnen ab. Verursacher und Nutznießer der Krise werden geschont.

Hinzu kommt der Zick-Zack-Kurs der Regierenden. Dies diskreditiert die Idee Europas bei vielen Menschen und säht den Boden für Nationalismus. In vielen europäischen Ländern protestieren in den letzen Wochen und Monaten vor allem auch junge Menschen gegen die Untergrabung ihrer Bildungs- und damit Zukunftschancen. Viele von ihnen sind arbeitslos, arbeiten in prekären Verhältnissen oder müssen mehrere Jobs haben, um genügend Geld fürs Leben zu verdienen. Es ist ein eklatanter Widerspruch unserer Zeit, dass die am besten ausgebildete junge Generation Europas entweder keine Arbeit findet oder sich in schlecht bezahlten und unsicheren Jobs verdingen muss.

Auch in Deutschland wächst der Bereich von Leiharbeit, Werkverträgen, unbezahlten Praktika, befristeter Arbeit und Mini-Jobs. Auch bei uns trifft dies vor allem die junge Generation. Die abhängig Beschäftigten in Europa erwarten von der stärksten Einzelgewerkschaft nicht alleine Solidaritätserklärungen. Die wirkungsvollste Solidarität der IG Metall und ihrer Mitglieder ist, dass wir in Deutschland in unseren Wirkungsbereichen gegen prekäre und schlecht bezahlte Jobs angehen: in Betrieben und Verwaltungen, in den Branchen und in der Gesellschaft. Daher wird die IG Metall tarifpolitisch die Zukunftschancen der jungen Menschen mit der Forderung nach unbefristeter Übernahme nach der Ausbildung aufgreifen. Und wir wollen die Verhinderung, Begrenzung und soziale Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen erreichen.

Die IG Metall verlangt statt zögerlichem Taktieren, einen entschiedenen und sofortigen Kurswechsel in der Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der EU-Kommission und der deutschen Bundesregierung hin zu einem demokratischen, ökologischen und sozialen Europa. Hierzu gehören:
  • die Schaffung einer demokratisch legitimierten europäischen Wirtschafts- und Finanzregierung, die Korridore der Einnahmen- und Ausgabenpolitik sowie Vorgaben für die Verschuldung der Euro- Staaten vereinbaren und durchsetzen kann;
  • die Festigung eines sozialen Europas durch einheitliche Mindeststandards für sichere und faire Arbeit: Hierzu gehört die Eindämmung des Niedriglohnsektors und der grenzenlosen Flexibilisierung des Arbeitsmarkts;
  • mehr Zukunftsperspektiven der Jugend Europas durch Bildung und bessere Übergänge in den Arbeitsmarkt. Hierzu gehört eine stärkere Mitverantwortung der Arbeitgeber für die Ausbildung der Jugend;
  • die Ausweitung von betrieblicher und Unternehmensmitbestimmung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Europa, um ein starkes Gegengewicht gegen die Shareholder-Interessen zu schaffen;
  • die Festlegung gerechter Besteuerungskorridore für alle EU-Mitgliedsländer, insbesondere in der Unternehmens- und Einkommensbesteuerung und auch in der Besteuerung hoher Vermögen und Erbschaften;
  • ein europäischer Solidarpakt in Bildung, Forschung, Entwicklung und Infrastruktur, um so die wirtschaftliche Dynamik und Konvergenz zu fördern;
  • die europäische Aufsichtsbehörde über alle Akteure und Geschäfte an den Finanzmärkten und die vollständige Haftung der Finanzmarktakteure für ihre Geschäfte (Spekulationssicherungsfonds) sowie die Einführung einer Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte (Finanztransaktionssteuer) zur Finanzierung des europäischen Solidarpaktes.
Europa wird nur dann demokratisch und sozial, wenn die Bürgerinnen und Bürger Europas es gestalten können und ihre Vorstellungen und Interessen zum Ausgangs- und Bezugspunkt der europäischen Politik werden. Deshalb ist in Europa eine grundlegende Reform der Institutionen und eine weitgehende Demokratisierung erforderlich. Wir wollen ein Europa der Bürgerinnen und Bürger und nicht ein Europa der Banken und Konzerne.

Die IG Metall erklärt sich mit den Menschen und Gewerkschaften in Europa solidarisch, die sich friedlich und gewaltlos gegen diese unsoziale und ökonomisch falsche Politik zur Wehr setzen.

Die IG Metall fordert EMB und EGB auf, eine Plattform und Aktionsplanung der europäischen Gewerkschaften zu erarbeiten, um mit einer möglichst einheitlichen und machtvollen Stimme die Interessen der Beschäftigten in die politische Entscheidungsprozesse Europas einzubringen.

Quelle: Website der IG Metall; 13. Oktober 2011; diese Erklärung wurde als Entschließungsantrag E1 vom Gewerkschaftskongress angenommen; http://www.igmetall.de; http://www.jungegeneration.de




Zurück zur EU-Europa-Seite

Zur Gewerkschafts-Seite

Zurück zur Homepage