Osterweiterung:
Hegemoniale Ambitionen der Europäischen Union
Von Hannes Hofbauer *
»Die Einigung Europas, die sich in der
Geschichte bereits seit längerem abzeichnet,
ist eine zwangsläufige Entwicklung.
[...] Europa ist zu klein geworden
für sich befehdende und sich
gegenseitig absperrende Souveränitäten.
[...] Die Lösung der europäischen
Frage kann nur auf föderativer Basis
herbeigeführt werden, indem die europäischen
Staaten sich aus freiem, der
Einsicht der Notwendigkeit entsprungenen
Entschluß zu einer Gemeinschaft
souveräner Staaten zusammenschließen.
[...] Der europäische Staatenbund
muß die Gemeinschaft möglichst aller
europäischen Staaten sein.«[1]
Was so klingt, als ob es aus der Feder
eines Brüsseler Bürokraten Anfang der
1990er Jahre geschrieben wäre, der im
Angesicht des Zusammenbruchs von
RGW und Sowjetunion und im Auftrag
der starken EG-Mitgliedsländer die
Integration vorbereitet, ist in Wahrheit
über 60 Jahre alt. Das Zitat stammt aus
dem Jahre 1943 und ist einem Entwurf
zu einer Denkschrift des Auswärtigen
Amtes über die Schaffung eines »Europäischen
Staatenbundes« entnommen. Mitten im Bombenkrieg der Nazis
verfasst, zeugt diese Denkschrift vom
europäischen Charakter der deutschen
Expansionspolitik.
Eine eigene, vom Leiter der Abteilung
»Außenhandel« im »Außenpolitischen
Amt der NSDAP«, dem
Industriellen Werner Daitz, ins
Leben gerufene »Zentralstelle für
europäische Großraumwirtschaft«
befasste sich parallel zum Angriffskrieg
der Wehrmacht mit den
wirtschaftlichen Möglichkeiten,
die sich aus den erwarteten militärischen
Siegen ergeben würden.
Wie man sich die Ergebnisse dieses
Drangs nach Osten vorstellte,
brachte das Vorstandsmitglied der
Deutschen Bank, Hermann Joseph
Abs, am 25. Oktober 1940 bei
einem Vortrag des »Deutschen Instituts
für Bankwissenschaft und
Bankwesen« folgendermaßen zum
Ausdruck: »Heute bietet der europäische
Raum unserer politischen
Einfl ußsphäre reiche und lohnende
Möglichkeiten, um den Rahmen
unserer Leistungsfähigkeit zu
füllen. Die Aufgaben, die hier der
Lösung harren, sind so groß, daß
neben uns auch unsere hochentwickelten
Nachbarländer ein weites
Feld für ihre Kapitalausfuhr
fi nden werden. Man denke nur an
eine den Gesamtbedürfnissen des
Großraums Rechnung tragende
Ausgestaltung des Verkehrswesens.
«[2] Abs’ Deutsche Bank, eine
der großen Gewinnerinnen des
deutschen Vormarsches, exerzierte
den Gleichschritt zwischen führender deutscher Nation
und Europavision musterhaft vor. Nach der Kapitulation
des Deutschen Reiches durfte Abs übrigens
weiterarbeiten, er organisierte die Kreditanstalt für
Wiederaufbau und war bis 1976 Aufsichtsratsvorsitzender
der Deutschen Bank, ab 1976 deren Ehrenvorsitzender.
Die beiden Zitate mögen als Hinweise auf die historische
Dimension des Erweiterungsgedankens genügen. Provokant formuliert, könnte man festhalten,
dass das europäische Friedensprojekt nach 1945 schon
im Krieg der Wehrmacht formuliert worden ist. Erst
zwei Generationen später, mit dem Zusammenbruch
der Sowjetunion, konnte es den Kreis der ehemaligen
Marshallplan-Empfängerländer überwinden und nach
Osten ausgreifen.
1. Vom Tag der Arbeit zum Tag der Erweiterung
Am 1. Mai 2004 feierten die europäischen Eliten
den Tag der EU-Osterweiterung. Aus dem früheren
Kampftag der Arbeiterklasse ist damit ein Jubeltag
des – bei näherer Betrachtung: deutschen – Kapitals
geworden. Damit ist politisch die seit den späten
1980er Jahren andauernde Wende in Osteuropa besiegelt,
kulturell der Keim für einen Supranationalismus
gelegt und wirtschaftlich eine weitere Etappe der Expansionspolitik
erreicht.
Die Umstände des Beitritts von zehn neuen Ländern
zur Europäischen Union zeigen deutlich, wie
hegemonial Brüssel in Zentral- und Osteuropa agiert.
Nicht nur, dass es in den 31 Kapiteln des Acquis communautaire
keinerlei Verhandlungsspielraum für die
Aufnahmekandidaten gegeben hat, weil es eben nur
darum gegangen ist, den Rechtsbestand der EU den
unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen
Systemen der Aufnahmekandidaten aufzustülpen,
auch der Zustand der Kandidatenländer selbst macht
den Zugriffscharakter der durch Brüssel vertretenen
großen westlichen Unternehmen auf östliche Märkte
und Menschen (Arbeitsmärkte) deutlich.
Sechs der acht neuen, bis zur Wende von kommunistischen
Parteien regierten EU-Mitglieder sind territoriale
Bruchstücke größerer multinationaler Staaten.
Nur Ungarn und Polen treten als Länder bei,
die zumindest seit 1945 eine territoriale Tradition
aufweisen. In allen anderen Beitrittsländern (Tschechien,
Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen)
fehlt selbst den Eliten jene bürgerlich-nationale
Identität, die in den Ländern Westeuropas selbstverständlich
ist. Niemand, der heute »sein Land« in die
EU geführt hat, ist im Sinne dieses »seines Landes«
erzogen worden. Ein nationales Bürgertum, wie es
für den Kapitalismus in europäischen Breiten konstitutiv
war, existiert nicht. Einerseits deshalb, weil es
40 Jahre nicht oder nur sehr schwer möglich war, privat
Kapital zu akkumulieren, und andererseits, weil
kein Bezug einer tragenden Klasse zu dieser Form
von Staat besteht, der nun der Europäischen Union
beigetreten ist. Mit der Ausnahme von Slowenien, das
es im Zuge einer speziellen Form der Privatisierung
(Workers- und Manager-Buy-Out) geschafft hat, eine
Mittelklasse zu konstituieren,[3] gleichen die Eliten
der anderen osteuropäischen Staaten eher peripheren
Statthaltern als lokalen Bürgern. Sie sind damit prädestiniert
für eine kreolenartige Administration, die
an koloniale Zeiten erinnert.
Auch im größten und wichtigsten neuen EU-Land,
Polen, ist die politische Schwäche der neuen Eliten
greifbar. In den ersten vier Wendejahren, als es darum
ging, neue wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Ausrichtungen zu fi nden, wechselten einander
fünf Regierungen (Mazowiecki, Bielecki, Olszewski,
Pawlak, Suchocka) ab, denen es schon technisch unmöglich
war, das Land zu führen. Dies taten in Wahrheit
die beiden internationalen Finanzorganisationen
Weltbank und Währungsfonds, die die 42 Mrd. USDollar
Auslandsschulden als Faustpfand für stetiges
Intervenieren begriffen. Nach zehn Jahren Transformation
sind aus den 42 Mrd. Auslandsschulden 72
Mrd. geworden. Und wenn der polnische Ministerpräsident
Leszek Miller am Tag nach dem EU-Beitritt
zurücktreten muss, kommt das einem politischen Offenbarungseid
gleich. Miller gestand damit sehr direkt
ein, dass er in Brüssel nicht die Interessen polnischer
Industrie, Landwirtschaft und Dienstleister vertreten
konnte, sondern dem Expansionsdrang verwertungshungriger
Westkonzerne nachgegeben hat.
Ökonomisch am sichtbarsten wird die Osterweiterung
der EU in einer vollständigen Transformation
der Eigentumsverhältnisse, die sämtliche Sektoren
und Branchen der neuen osteuropäischen Beitrittskandidaten
durchzieht. Ein gigantischer volkswirtschaftlicher
Ausverkauf an deutsche, italienische, österreichische,
französische, holländische, belgische etc.
Konzerne hat stattgefunden. Allein im Bankensektor,
der über die Kreditpolitik neben betriebswirtschaftlichen
Entscheidungsvollmachten auch makroökonomischen
Einfl uss besitzt und somit als eigentlicher
Schlüsselbereich jeder Wirtschaft zu werten ist, sind
heute in Tschechien, Ungarn, der Slowakei und Polen
70-95% der Banken (gerechnet nach ihrer Bilanzsumme)
in den Händen westeuropäischer Unternehmen.[4]
Diese sanierten mit den Übernahmen im Osten ihre
eigene – schlechte – ökonomische Performance. Einzig
Slowenien stellt auch hier eine gewisse Ausnahme
dar. Die totale Umorientierung des Außenhandels
in Richtung Europäischer Union hat auch eine Veränderung
der exportorientierten Branchenstruktur
ergeben. Der Ökonom Josef Pöschl vom »Wiener
Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche«
(WIIW) meinte unlängst zur einseitigen Außenhandelsabhängigkeit
von meist nur einer Branche,
der Motor der Transformation
sei der Verbrennungsmotor.
In Zahlen gegossen heißt dies, dass
– laut Statistik des WIIW [5]
– im Jahr 2003 60% aller
ungarischen Exporte vom
Fahrzeugbau und dessen
Zuliefererindustrien abhängig
sind, desgleichen
45% aller tschechischen
und 40% aller slowakischen,
letzteres noch vor
der Inbetriebnahme der
großen Automobilwerke
von Renault und Hyundai. Volkswagen und Suzuki
beherrschen das exportorientierte industrielle Terrain
Ungarns. Die mit einer solchen einseitigen Konzentration
auf eine Branche und ein, zwei Firmen verbundene
Verwundbarkeit kennzeichnet periphere, abhängige
Ökonomien. Als solche sind die osteuropäischen
Volkswirtschaften zu betrachten. Sie dienen als billige
Produktionsstätten für ausgereifte Industrien, die auf
dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein müssen, was einen
von sozialen Überlegungen unbeeinfl ussten, unregulierten
Arbeitsmarkt zur Voraussetzung hat.
2. Krisenlösung durch Erweiterung
Ebenso wenig wie die Übernahme der fünf neuen
Bundesländer eine karitative Veranstaltung bundesdeutscher
Institutionen war, ist die EU-Osterweiterung
ein Hilfsprojekt Brüssels für darbende Brüder
und Schwestern im Osten. Sie ist vielmehr ein politisches
Mittel, ökonomische Verwertung rechtlich abzusichern.
Die Übernahme des EU-Rechtsbestandes
in den neuen Mitgliedsländern stellt für die Profi teure
der Wende so etwas wie einen langfristigen Investitionsschutz
dar. Dahinter steht ein dem kapitalistischen
System inhärentes Szenario, nach dem in strukturellen
Krisenzeiten die Flucht nach vorne angetreten wird.
Nach der Phase der Rationalisierungen in den
1980er Jahren waren die 1990er Jahre vom Eroberungsgeist
geprägt. Expansion hieß das Zauberwort. Mit Markterweiterung hofften die großen multinationalen
Unternehmungen der Absatzkrise, die im Kern
eine Überproduktionskrise ist, begegnen zu können.
Im Schatten dieses weltweiten Kampfes um Marktanteile
brachte Brüssel seine – vergleichsweise – kleine
Osterweiterung ins Rollen. Die treibenden Kräfte hinter
dieser Expansion sind nicht die politischen Parteien,
sondern die Global Players unter den europäischen
Konzernen. Im Angesicht des Konkurrenzdrucks aus
den USA, der wiederum von ostasiatischer Produktivität
getrieben wird, entschloss sich Brüssel, nicht
den von Frankreich vorgeschlagenen Weg der Vertiefung,
sondern den deutschen Marsch der Erweiterung
zu gehen. Dass auch diese von Rationalisierungen im
Zentrum begleitet wird, stellt zumindest sozial gesehen
einen schlechten Kompromiss dar.
3. Das Kapital fließt von Ost nach West
Entgegen der von Politik und Medien regelmäßig zu
hörenden Ansage, wonach die Osterweiterung die Alt-
EU viel Geld kosten würde, fließt Kapital konstant von
Ost nach West. Das macht auch den Sinn des ganzen
Projektes aus. Betriebswirtschaftlich sowieso: Denn
der im Kapitel 3 des Acquis communautaire übernommene »freie Kapitalverkehr« garantiert ausländischen
Investoren vollständigen Gewinntransfer in
die Konzernzentralen. Auch makroökonomisch fließt
das Kapital wie auf einer schiefen Ebene Richtung
Westen. Allein die Bedienung der Auslandsschulden
der neuen Beitrittsländer in der Größenordnung von
233 Mrd. Euro [6] füttert westliche Banken in einem
Ausmaß, das nicht einmal von den seit 1989 akkumulierten
Direktinvestitionen im Osten übertroffen wird.
Diese ohnehin oft nur für schnelle Gewinne getätigten
Investitionen ausländischer Geldgeber bewegten
sich Ende 2004 bei knapp über 166 Mrd. US-Dollar.[7]
Wie sehr Erweiterung zur kapitalistischen Krisenlösungsstrategie
geworden ist, zeigt auch die Tatsache,
dass sie nicht abgeschlossen ist. Im Gegenteil:
Bis 2007 bzw. 2008 sollen Bulgarien, das seine »Verhandlungen« mit Brüssel bereits abgeschlossen hat,
und Rumänien beitreten, eventuell auch Kroatien.
Und in die Debatte um eine Aufnahme der Türkei haben
sich bereits sämtliche Eliten der Alt- und Neu-EU
involvieren lassen.
Permanente Erweiterung ist fürwahr ein geniales
Konzept, um den Konkurrenzdruck in sämtlichen
wirtschaftlichen und sozialen Bereichen aufrechtzuerhalten.
Die im Kalten Krieg europaweit aufgebauten
sozialpartnerschaftlichen Gesellschaftsstrukturen,
ob sie nun in Form des rheinländischen Kapitalismus,
der skandinavischen Sozialdemokratie, der historischen
Kompromisse in Italien oder Frankreich, des
Kadarismus in Ungarn oder der Politik der Kommune
in Polen betrieben worden sind, können damit in kurzer
Zeit zerschlagen werden. Die soziale Spirale nach
unten sowie fortgesetztes Steuerdumping werden
von neoliberalen Administrationen in Ost und West
verwaltet. Lohndifferenzen, wie sie sich zwischen
Deutschland und Ungarn (5:1) oder Deutschland und
der Ukraine (30:1) auftun, können mit der permanenten
Erweiterung immer wieder aufs neue schlagend
geltend gemacht werden. Und der Steuerwettbewerb,
von der Slowakei am 1. Januar 2004 mit der Einführung
einer progressionslosen 19%igen Flat-Tax auf
alle Steuerarten (außer Grund- sowie Erbschaftssteuer,
die ganz aus dem staatlichen Repertoire gestrichen
worden sind) ausgerufen, entlastet die Großen und
schröpft die Kleinen.
Als Gewinner dieser Entwicklung können sich
Koupon-Schneider und Börsianer freuen, Verlierer
sind Lohnabhängige allgemein, große Familien, alte
Menschen und Regionen, die an den Rand gedrängt
werden, weil sie im Wettlauf um die lukrativsten
Standorte aus welchen Gründen auch immer nicht
mehr mithalten können. Lohnabhängige in den neuen
Beitrittsländern (auch hier wieder mit der relativen
Ausnahme von Slowenien) sind die eigentlichen Verlierer
von Transformation und peripherer Integration.
In der Phase der Hyperinfl ation Anfang der 1990er
Jahre, in der beispielsweise in Polen eine dreistellige
Infl ationsrate zu verzeichnen war, mussten jene, die
nichts als ein Sparbuch und ihre Arbeitskraft zur Verfügung
hatten, Reallohnverluste von 25% hinnehmen.
Dies stellte eine Enteignung der Besitzlosen dar, auf
die die neuen Eliten wie der damalige Arbeitsminister
Jacek Kuron stolz waren. »Unsere Stärke bestand
darin«, bezog sich der Ex-Linke auf die Funktion der
als Gewerkschaft gegründeten »Solidarnosc«, »dass
uns gerade jene unterstützten, die die ersten Verlierer
der Marktwirtschaft waren.«[8] Das viel zitierte
»Tal der Tränen«, das die einzelnen Volkswirtschaften
– in Wahrheit: die ArbeiterInnen und Angestellten
– durchschreiten mussten, ist freilich für allzu viele
von ihnen zu einem Daueraufenthaltsplatz geworden.
Nachdem zwischen 1990 und 2000 allein in Tschechien,
der Slowakei, Polen, Ungarn und Slowenien 10,5
Millionen Arbeitsplätze abgebaut worden waren, beträgt
die Arbeitslosigkeit im Jahr 2005 in Polen 19%
und in der Slowakei 18%. Der neue Beitrittskandidat
Kroatien weist übrigens offiziell eine Arbeitslosigkeit
von 21,3% aus.
4. Der neoliberale Druck kommt aus dem Osten
Die Osterweiterung der Europäischen Union verläuft
als peripher-abhängige Entwicklung von Kern-Europa.
Peripher deshalb, weil bislang keine nachholende
Modernisierung unter der kapitalistisch-kolonialen
Phase gelungen ist. Sogar das BIP-Wachstum,
eine im Übrigen jede soziale Differenz missachtende
statistische Größe, bestätigt das Scheitern des wirtschaftlichen
Aufholens. Das »Wiener Institut für Internationale
Wirtschaftsvergleiche« hat im Jahr 2003
errechnet, dass auch zwölf Jahre nach der Wende das
jährliche BIP-Wachstum in Kern-Europa, wozu bis
1995 die zwölf und dann die 15 alten EU-Mitglieder
gezählt werden (Österreich, Finnland und Schweden
traten erst 1995 bei), höher ist als in den acht osteuropäischen
Beitrittsländern. Während in den EU-15/12
das Bruttoinlandsprodukt zwischen 1990 und 1992
pro Jahr um 1,9% gewachsen ist, waren es in den
CEE-8 (den ex-kommunistischen Beitrittsländern)
nur 1,7%. Die Schere zwischen West- und Ost-Europa
hat sich also der angeblichen Integration des Ostens
zum Trotz aufgetan. Und das, obwohl Osteuropa
unmittelbar nach 1989/90 absolute wirtschaftliche
Krisenjahre durchlebte. Dazu kommt noch eine strukturelle
Arbeitslosigkeit, die im Osten (ähnlich wie im
Verhältnis zwischen neuen und alten Bundesländern
in der BRD) durchschnittlich doppelt so hoch ist wie
im Westen.
Abhängig verläuft die Entwicklung
in den neuen Beitrittsländern, weil
vom Außenhandel bis hin zu den einzelnen
Branchen, die nach der Deindustrialisierung
dem Bedarf westlicher
Investoren entsprechend nur sehr
selektiv wieder aufgebaut worden sind
und eine vollständige Abhängigkeit
des Ostens von westlichen Entscheidungen
und Konjunkturen besteht.
Auch die Folgen der Erweiterung
für die Kernzonen im Westen sind
bereits klar absehbar. Der neoliberale
Druck kommt spätestens seit dem
1. Mai 2004 aus dem Osten. Dort arbeiten
meist an US-Eliteuniversitäten
ausgebildete Ökonomen daran, dass
– wie der tschechoslowakische Ministerpräsident
Vaclav Klaus das einmal
ausgedrückt hat – kein Attribut vor
dem Wort Marktwirtschaft Platz fi ndet.
Durch die von Brüssel gewünschte,
ausschließlich wirtschaftliche
Konvergenz des EU-Regelwerkes hat
ein sozialer Wettlauf nach unten begonnen,
bei dem die osteuropäischen
Standorte ihre Kostenvorteile nutzen
und sie gleich zum Prinzip jedes wirtschaftlichen
Handelns erheben. Und
diese sind: billige und willige Arbeitskräfte,
wenig bis keine, zumindest
nicht überprüfte Regulierungen
im Arbeitsrecht, die Privatisierung
oder Zerschlagung aller öffentlichen
Bereiche wie Gesundheit, Rentenvorsorge
etc. Insofern sind von deutschen
Konzernen auch in der Kern-EU erpresste
Arbeitszeitverlängerungen,
vermehrte Selbstbehalte im Gesundheitswesen,
das Aushöhlen des Generationenvertrages
und die angestrebte
Privatisierung der Pensionsvorsorge,
die Hartz-Gesetze usw. direkte Auswirkungen
der EU-Osterweiterung.
Anmerkungen-
Entwurf für eine Denkschrift des Auswärtigen Amtes
zur Schaffung eines »Europäischen Staatenbundes«
(9.9.1943), aus: Zentrales Staatsarchiv Potsdam. Filmsammlung,
Nr. 5582, Bl. 514553ff. Zit. in: Opitz, Reinhard
(Hrsg.): Europastrategien des deutschen Kapitals
1900-1945, Bonn 1994, S. 957f.
- Hermann Josef Abs in einem Vortrag »Aktive Kapitalpolitik
« auf einer Veranstaltung des Deutschen Instituts
für Bankwissenschaft und Bankwesen (25.10.1940). Zit.
in: Ebd., S. 798.
- Vgl. Hofbauer, Hannes: Osterweiterung. Vom Drang
nach Osten zur peripheren EU-Integration, Wien 2003,
S. 212f.
- Raiffeisen Zentralbank (Hrsg.): CEE banking Sector
Report, Wien, Oktober 2004, S. 9.
- Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche
(Hrsg.): Countries in Transition 2001, Wien 2001,
S. 384f.
- Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche
(Hrsg.): Research Report 314 (Peter Havlik u.a., Acceleration
GDP growth, Improved Prospects for European
Integration), Wien, März 2005, S. 22.
- Ebd., S. 25.
- Zit. in: Bohle, Dorothee: Europas neue Peripherie.
Transformation Polens und transnationale Integration.
Münster 2002, S. 118.
* Dieser Beitrag erschien in Tobias Pflüger/Jürgen Wagner
(Hrsg.), Welt-Macht EUropa, Auf dem Weg in weltweite
Kriege, VSA-Verlag Hamburg 2006 (S. 175-182).
Hannes Hofbauer ist Historiker, Journalist und lebt in
Wien. Er veröffentlichte u.a. das Buch »Osterweiterung:
Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration«,
Wien 2003.
Der vorliegende Text erschien außerdem in der Reihe "Studien zur Militarisierung EUropas", 13/2006, hrsg. von der IMI e.V.;
im Internet: www.imi-online.de (pdf.Datei).
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