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Ach, Habermas ...

"Ach, Europa", stöhnt der Philosoph vom Starnberger See und skizziert Weltprobleme

Von Hermann Klenner *

Das waren noch Zeiten, als Hans Magnus Enzensberger seinen Reiseroman aus sieben Ländern optimistisch mit einem: ACH EUROPA! betiteln konnte. Zwanzig Jahre ist das her. Nun also ein seufzender Ton: ACH, EUROPA. Enttäuschungen, wie das Wort schon besagt, sind das Ergebnis von Täuschungen, von eigenen wohlgemerkt. Davon kann bei der Frankfurter Schule die Rede nicht sein. Die hat sich selbstredend noch nie getäuscht.

Der in die Jahre gekommene - Respekt, Respekt - Gralshüter dieser Frankfurter Schule hat sich keineswegs leergeschrieben, und leergedacht natürlich auch nicht. Hier handelt es sich um die Zusammenstellung von zehn bereits andernorts publizierten Texten der letzten Jahre, teils persönlichen, teils politischen Anlässen geschuldet. Insofern deckt der Titel des Ganzen das Ganze nicht; doch möge hier auf die Würdigung von Habermasens Sicht auf Abendroth, Rorty, Derrida und Dworkin samt Nebensichten auf Foucault, Heidegger, Kierkegaard, Luhmann, Marcuse, Rawls und Wittgenstein lediglich aufmerksam gemacht werden, zumal die dem jeweiligen Anlass geschuldeten »philosophisch-politischen Profile« mit einer schmalen Quellenbasis auskommen mussten. Dafür aber nicht nur aus Gelesenem, sondern zumeist auch aus Erlebtem geschöpft. Eine halblinke Sicht auf die Dinge, immerhin.

Die in dem Bändchen enthaltenen welt- und europapolitischen Überzeugungen eines weniger philosophisch denn politisch-juristisch Argumentierenden verdienen die Neugierde, zu der nachfolgend aufgestachelt werden soll. Nachdenken ist angesagt, nicht Nach-Denken. Auch wenn Habermas gehemmt ist, aus seinem von ihm hart erarbeiteten Schatten zu treten und das Einerseits und Andererseits eines von inneren Widersprüchen geplagten Intellektuellen vom Schlage eines Tui, wie Brecht gesagt haben würde, zu überwinden, so sind ihm doch Einsichten gelungen, deren Umsetzung in Deutschland allerdings eine andere Bundestagszusammensetzung voraussetzen würde: Seit Verkündung der Bush-Doktrin habe der erklärte Unilateralismus der USA die Glaubwürdigkeit der normativen Grundlagen westlicher Politik zerstört, und seit sich die Bundesregierung zum Komplizen von völkerrechtswidrigen CIA-Praktiken machen ließ, habe sie Zweifel an der Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Zielsetzung geweckt, zum Vorrang des internationalen Rechts vor den nationalen Interessen beizutragen.

Lassen wir es dahingestellt sein, ob »Glaubwürdigkeit« überhaupt eine signifikante Eigenschaft regierender Politiker ist. Die Erfahrungen mit ihren Praktiken lehren allerdings, dass sie nach der Wahl ihre lockenden Versprechungen aus der Zeit davor als »wahlkampfbedingte Aussagen« zu relativieren pflegen, für deren Enttarnung als Lügen bekanntlich leider kein Bundesverfassungsgericht zuständig ist. Und in der Außenpolitik lassen sich die Regierungen, wenn es hart auf hart kommt, eher von der Staatsräson als vom Völkerrecht leiten. Jedenfalls ist es wohltuend zu erleben, wie Habermas sein Recht als Intellektueller gut begründet und flexibel formuliert wahrnimmt, sich über den Zustand der Weltgesellschaft im Großen und im Kleinen aufzuregen. Vor allem über: die Kriegspolitik der USA und ihrer Vasallen; über den zur puren Vorwandideologie für Aggressionen verkommenen Demokratie- und Menschenrechtsexport; über eine sozialdarwinistische Enthemmung von Gewaltpotenzialen; über die Lebenslügen einer neoliberalen Orthodoxie; über die Zerstörung der politischen Öffentlichkeit durch die Medienmacht privater Konzerne; über die hysterische Verteidigung der westlichen Religion und Werte, statt allen Bekenntnissen die Verträglichkeit ihres Glaubens mit der Vernunft zuzumuten; über die Unfähigkeit der Europäer, nach außen geschlossen aufzutreten, nachdem die Regierung in Washington ihre moralische Autorität verspielt habe; und schließlich über die sich als Elite- statt Demokratieprojekt organisierende, sogar auf bereits von der Bevölkerung akzeptierten Gemeinschaftssymbole wie Fahne und Hymne verzichtende Europäische Union.

Um bei einem gemeinsamen Vorgehen mit den USA ihren eigenen Vorstellungen vom Völkerrecht treu bleiben zu können, müsse sich die EU (samt Deutschland) aus der Abhängigkeit von ihrem überlegenen Partner lösen, weshalb sie einen eigenen Außenminister, einen direkt gewählten Präsidenten und eigene Streitkräfte brauche. Warum aber, so fragt man sich, propagiert denn jemand, der wegen der Komplexität der Weltgesellschaft nicht nur jeder unipolaren Weltordnung, sondern auch der gezielten Marginalisierung der UN eine Abfuhr erteilt, eine bipolare Gemeinsamkeit des »Westens«? Von China aus gesehen ist dieser Westen der Osten.

Man müsse von Europa einen unbefangen-selbstbewussten Blick auf die USA verlangen, der zugleich selbstkritisch genug ist, um auch den leisesten Regungen von Antiamerikanismus zu widerstehen. Warum eigentlich nicht einen ähnlichen Blick auf Russland, Indien und China werfen, mit einer vergleichbaren Vorsorge vor Antiregungen? Ist es denn vermessen, von jeder Weltmacht zu verlangen, sich gleichermaßen in die Völkerrechtsordnung der Gegenwart einzubinden? Und ist es zu unverschämt, jemandem, der die Unrechtsphänomene in der Welt von heute so scharfzüngig attackiert, vorzuwerfen, dass er die Frage nach deren Ursachen unterbelichtet, zuweilen sogar ausblendet? Könnte deren Einblendung nicht der SPD, der Habermas im Willy-Brandt-Haus auch ein bisschen den Marsch geblasen (und André Brie anempfohlen) hat, auf die Sprünge helfen? Warum laufen denn die Märkte den politischen Gestaltungsmöglichkeiten der meisten Staaten und der UN davon? Oder setzt nicht eine über die nationalen Grenzen hinausgreifende politische Vergemeinschaftung eine ökonomische Vergesellschaftung voraus? Die unglaubwürdigen Politiker, um diese noch einmal ins Spiel zu bringen, haben doch nicht erbbedingt, sondern interessenbedingt gelogen.

Jürgen Habermas: Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 192 S., br., 9 EUR; (ISBN 978-3-518-12551-9)

* Aus: Neues Deutschland, 3. Juli 2008


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