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Flüchtlinge vogelfrei

EU will griechische Grenze mit Frontex gegen Schutzsuchende abriegeln. Keine Asylverfahren in Deutschland. Klage vor dem Bundesverfassungsgericht

Von Ulla Jelpke *

Die Europäische Union und die Bundesrepublik Deutschland halten mit aller Macht an ihrer inhumanen Abschottungspolitik gegenüber Menschen in Not fest und verteidigten weiterhin das Konzept der »Festung Europa«. Viele Flüchtlinge versuchen, über Griechenland in die EU zu kommen. Bekanntlich weist das Land eine lange EU-Außengrenze auf, darunter auch viele Inseln in der Ägäis, die nur wenige Kilometer vom türkischen Festland entfernt liegen. Dort bot sich lange Zeit für Flüchtlinge eine Chance, über das Mittelmeer das Gebiet der EU zu erreichen. Hinzu kamen Überfahrten aus Nordafrika. Schärfere Kontrollen auf dem Wasser haben dazu geführt, daß die Flüchtlinge jetzt eher auf dem Landwege entlang der Grenze Griechenlands in die EU kommen. Die EU-Grenzagentur Frontex gibt an, im ersten Halbjahr 2010 habe man 45000 »Grenzverletzungen« erfaßt. Neunzig Prozent aller »illegalen Grenzübertritte« in der EU würden sich in Griechenland ereignen.

Frontex hat daraus die Schlußfolgerung gezogen, ab dem 2. November 2010 zusätzlich 175 Grenzpolizisten in Griechenland zu stationieren. Das bedeutet, an dem Versuch festzuhalten, die Grenzen möglichst hermetisch abzuriegeln, anstatt faire Asylverfahren anzubieten. Diese EU-Politik ist schon im Verhältnis von Marokko zu Spanien oder Libyen zu Malta und Italien gescheitert, denn die Folge war allenfalls, daß die Schutzsuchenden gezwungen waren, andere Routen in Richtung Europa zu wählen. Das war für sie oftmals mit mehr Gefahren verbunden und mit eine Ursache dafür, daß auf dem Atlantik und im Mittelmeer eine große Zahl von Flüchtlingen ertrunken oder verdurstet ist.

In ihrer Antwort auf schriftliche Fragen der Fraktion Die Linke hat die Bundesregierung bestätigt, daß ab 2. November 2010 schnelle Eingreiftruppen in der Evros-Region im griechisch-türkischen Grenzgebiet eingesetzt werden. Seit Donnerstag beteiligt sich die Bundesrepublik, wie es in der Antwort heißt, »mit zunächst 24 Angehörigen der Bundespolizei, sieben Streifenfahrzeugen und vier Fahrzeugen zur Wärmebildüberwachung«. Die personelle Beteiligung Deutschlands soll variieren, zeitweise sollen bis zu vierzig Personen eingesetzt werden.

Die Frage der Linken, ob sich die deutschen Beamten auch an Einsätzen beteiligen werden, die allein der Flüchtlingsabwehr und unmittelbaren Zurückweisung an der Grenze dienen und gerade faire Asylverfahren verhindern, umgeht die Bundesregierung, indem sie in ihrer Antwort auf EU-Verordnungen verweist sowie auf die Zuständigkeit der griechischen Behörden.

Es ist jedoch offenkundig, daß es in Griechenland seit langem keine dem internationalen Standard entsprechenden Asylverfahren gibt. Dafür fehlen schon die personellen und räumlichen Kapazitäten. Deshalb fordern Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl ebenso wie die Bundestagsfraktionen der Linken und der Grünen einen Stopp der zwangsweisen Verbringung von Flüchtlingen aus Deutschland nach Griechenland. Die Bundesregierung sieht jedoch nur in Einzelfällen davon ab, weigert sich aber, ein generelles Moratorium bei der Anwendung von »Dublin II« anzuordnen.

Diese Verordnung besagt, daß derjenige EU-Staat, in den ein Flüchtling zuerst eingereist ist, für die Durchführung der Asylverfahren zuständig ist. Auf diese Weise entledigen sich die in der Mitte der EU gelegenen Staaten wie Deutschland weitestgehend ihrer asylrechtlichen Verpflichtungen und schieben die Verantwortung auf die Randstaaten ab. Dieses bequeme »Outsourcing« ist ein Kernelement des sogenannten Asylkompromisses von CDU/CSU, SPD und FDP aus den frühen neunziger Jahren und bedeutete eine faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl.

In einer Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am Donnerstag der vergangenen Woche äußerten die Karlsruher Richter jedoch deutliche Zweifel an der gegenwärtigen Praxis. Ein Iraker, der über Griechenland nach Deutschland eingereist war und wieder dorthin zurückgeführt werden sollte, hatte geklagt. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle nannte die Lage der Ausländer in Griechenland »prekär«. Die Karlsruher Verfassungsrichter erwägen deshalb, daß Betroffene vor ihrer Abschiebung nach Griechenland im Eilverfahren ein deutsches Gericht anrufen können. Das Urteil wird voraussichtlich erst in drei Monaten fallen.

* Aus: junge Welt, 9. November 2010


»Die Menschen in diesem Lager werden wie Vieh behandelt«

Kein Hofgang, Schlaf im Sitzen, Schikanen: Griechenland hält wenig von Menschenrechten für Flüchtlinge. Ein Gespräch mit Marianna Tzeferakou **

Marianna Tzeferakou ist Rechtsanwältin und Mitglied einer griechischen Flüchtlingsschutzorganisation.

Ende Oktober forderte Athen von der EU Unterstützung bei der Überwachung der Landgrenze zur Türkei. Sie waren im August im Flüchtingslager von Soufli am griechisch-türkischen Grenzfluß Evros. Wie ist die Situation dort?

Die Haftbedingungen sind allein aufgrund der Zahl der dort Eingesperrten schrecklich. Die Auffangzellen in Soufli sind für 35 Menschen ausgelegt. Dort werden aber mehr als 100 Menschen festgehalten, die im Sitzen schlafen müssen, weil sie nicht einmal Platz haben, um sich hinzulegen. Frauen und Männer werden am selben Ort festgehalten, es gibt keinen Hofgang, der Zugang zum Telefon ist sehr eingeschränkt. Bei unserem Besuch bat uns ein Afrikaner, mit den Polizisten zu sprechen, damit er telefonieren könne, um seiner Familie ein Lebenszeichen zukommen zu lassen. Als wir das den Polizisten sagten, erklärten diese, wenn sie den einen jetzt telefonieren ließen, würden alle telefonieren wollen. Die Menschen in diesem Lager werden wie Vieh behandelt, Menschenrechte gelten nichts.

Allen dort Inhaftierten werden sämtliche Rechte verweigert. Sie dürfen keine Asylanträge stellen, es gibt keine Dolmetscher, sie können keinen Einspruch gegen einen Abschiebungsbescheid erheben, sie haben keine Ahnung, warum sie festgehalten werden. Sie wissen nicht einmal, daß ihnen die Abschiebung droht. Mit Sicherheit sind also Menschen aufgrund des Rückführungsübereinkommens in die Türkei zurückgeschickt worden, denen Griechenland hätte Schutz gewähren müssen.

Früher hat die Türkei überhaupt keine Flüchtlinge wieder aufgenommen. Hat sich das jetzt geändert?

Das Rückführungsabkommen wird mittlerweile umgesetzt – zumindest was Menschen aus dem Irak, dem Iran und Syrien betrifft. Die Türkei stimmt ihrer Wiedereinreise zu, um sie dann in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Das bedeutet: Für Menschen aus diesen Staaten gibt es in Griechenland keinerlei Chance, einen Asylantrag zu stellen.

Seit Anfang November sind schnelle Eingreifteams der europäischen Grenzagentur Frontex am Evros stationiert. Gab es schon vorher eine solche Zusammenarbeit?

Als wir da waren, war Frontex schon überall präsent. Sie vermittelt und hilft bei den Abschiebungen und Rückführungen. In einigen Fällen übernehmen Frontexkräfte auch die Definition der Nationalität von Flüchtlingen. Wir haben den Fall eines Migranten erlebt, der von der Frontex als 18jähriger Türke registriert worden war. Mit Hilfe unserer Dolmetscher aber konnten wir herausfinden, daß es sich um einen 16jährigen Afghanen handelt. Rechtlich hat die Verantwortung dafür zwar Griechenland, aber die Frontex weiß sehr gut, was geschieht. Trotzdem wird nichts für die Flüchtlinge getan, alle Anstrengungen sind darauf gerichtet, sie wieder loszuwerden. Das ist ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie europäische Politik dort umgesetzt wird.

Auch Fälle von Mißhandlungen wurden von uns dokumentiert. Konkret konnten wir nachweisen, daß Flüchtlinge wegen eines Hungerstreiks gegen die unmenschlichen Haftbedingungen krankenhausreif geschlagen wurden. Das Problem ist, daß solche Ereignisse keine Einzelfälle sind. Es gibt keine Garantie dafür, so etwas zu verhindern. Und die dort stationierten Kräfte der Frontex – wir haben Beamte aus Malta und Rumänien gesehen – erleben täglich mit, was geschieht. Juristisch mögen sie sich darauf zurückziehen können, daß der griechische Staat die Verantwortung trägt, politisch aber tragen auch sie eine Verantwortung.

Ist die Situation erst durch das Ansteigen der Flüchtlingszahlen so dramatisch geworden?

Die Situation am Evros und generell in Griechenland ist seit Jahren schlimm. Es ist nicht so, daß man aufgrund der gestiegenen Flüchtlingszahl jetzt plötzlich die Kontrolle verloren hätte – die Situation ist seit Jahren unverändert. Griechenland wurde schon in einem Fall aus dem Jahre 2007 wegen der Bedingungen im Lager Soufli vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.

Interview: Heike Schrader

** Aus: junge Welt, 9. November 2010


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