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Neue Ära für Euroland

Der ESM - Feuerwehr, Bad Bank und Thema für die Europa-Artikel im Grundgesetz

Von Hermannus Pfeiffer *

Für die deutschen Parlamentarier wird die Sommerpause heute erst spät beginnen. Sie haben von der Bundesregierung den Auftrag, erst noch dem EU-Fiskalpakt und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus mindestens mit Zweidrittelmehrheit zuzustimmen. Ab 17 Uhr soll Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Regierungserklärung abgeben, dann folgen Aussprache und Abstimmung. Der Bundesrat kommt frühestens ab 21 Uhr zusammen, um sein Scherflein beizutragen.

Für viele Politiker kann der neue Rettungsschirm gar nicht groß genug ausfallen. Die OECD wünschte eine Billion Euro. Angesichts solch schwindelerregender Summen kommt der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) mit einem genehmigten Eigenkapital von 700 Milliarden Euro recht bescheiden daher. Doch er läutet eine neue Ära ein: Bisher reagierten die Verantwortlichen in Europa immer erst, wenn die Staatsunterfinanzierung oder Bankenkrise in einem Land zu eskalieren drohte - mit dem neuen Schutzwall soll die Notfall-Politik der Trippelschritte nun ein Ende finden. Im Unterschied zum Vorläufer EFSF, der wohl bis 2014 parallel weiterläuft, soll der ESM dauerhaft aufgespannt bleiben.

Die schwarz-gelbe Regierung strebt eine Zweidrittelmehrheit im Parlament an, um mögliche verfassungsrechtliche Einwände von Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident zu entschärfen. Die »Europa-Artikel« des Grundgesetzes (Art. 23 und 79) sehen für wichtige Veränderungen der EU eine solche Mehrheit vor. Präsident Joachim Gauck will jedoch mit seiner Unterschrift warten. Dadurch könnte ein Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht, den die Linkspartei angekündigt hat, ESM und Fiskalpakt bis zur endgültigen rechtlichen Klärung stoppen.

Der Stabilitätsmechanismus ist ein privatrechtlicher Vertrag zwischen Regierungen. Auf Grundlage des 62-seitigen Vertrages wird eine internationale Finanzorganisation in Luxemburg errichtet. Diese soll von Juli an einsatzfähig sein. Der ESM kann Euroländern, »die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen«, eine sogenannte Stabilitätshilfe gewähren - also Geld leihen, das sie am Markt nicht bekommen. Die Finanzhilfe kann mit »angemessenen Auflagen« für die Nehmerländer versehen werden. Kritiker befürchten dadurch einen verschärften Sozialabbau. Indirekt könnte der ESM auch zur Bankenrettung eingesetzt werden.

Um die nötigen Finanzmittel zu »mobilisieren«, leiht sich der ESM seinerseits Geld zu günstigen Konditionen auf den Finanzmärkten. Nach und nach wird er 620 Milliarden Euro in Form von Anleihen auf den Finanzmärkten aufnehmen. Für diese haften die ESM-Mitglieder entsprechend ihrer Beteiligung an der Europäischen Zentralbank. Für die Bundesrepublik bedeutet dies, dass sie für eine Summe von 168,3 Milliarden geradesteht. Die restlichen 80 Milliarden sollen durch Bareinlagen der ESM-Staaten erfolgen. Deutschland müsste 21,7 Milliarden einzahlen. Die Gesamtsumme, für die Deutschlands Bürger haften, entspricht etwa den jährlichen Steuereinnahmen des Bundes.

Der Fonds soll als Feuerwehr ständig einsatzbereit sein. EU-Kommission, Regierungen und Parlamente in den 17 Euroländern müssen nicht für jede Rettungsaktion aufwändig neue Beschlüsse fassen.

Ökonomisch sehen die Befürworter den Vorteil bei den Zinsen. Staaten nehmen fortlaufend neue Kredite auf, vor allem, um alte Schulden zu tilgen. Je risikoreicher Staaten durch Banken, Fonds und Ratingagenturen eingeschätzt werden, desto teurer wird es für sie. Der ESM könnte schwächelnde Euroländer gegen diese Macht der Finanzakteure abschirmen: Er soll dank bester Kreditwürdigkeit - schließlich steht fast die ganze EU hinter ihm - für akzeptable Zinssätze sorgen.

Das Ausleihvolumen des ESM soll anfänglich bei 500 Milliarden Euro liegen. Da diese Summe »übersichert« wird, sind 700 Milliarden Euro haftendes Kapital erforderlich. Dies ist aber nicht die absolute Obergrenze. Bei Bedarf kann das Volumen durch einstimmigen Beschluss des Gouverneursrates des ESM, der aus den Finanzministern der Eurostaaten besteht, jederzeit ausgeweitet werden. Kritiker in allen politische Lagern warnen denn auch vor dem Entstehen einer »supranationalen Bad Bank« oder fürchten gar »die Übernahme Europas durch die weltweite Finanzoligarchie«.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 29. Juni 2012

Der Fiskalpakt

Bundestag und Bundesrat stimmen (29. Juni) heute neben dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) auch über den EU-Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin ab. Diesen Vertrag haben 25 von 27 Regierungen der EU-Staaten im März unterzeichnet. Großbritannien und Tschechien ziehen nicht mit. Das Abkommen muss von den Parlamenten ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt werden. Der Fiskalpakt verpflichtet die Unterzeichner, ausgeglichene Haushalte anzustreben. Ferner sollen die Staaten nationale Schuldenbremsen einführen und rechtlich verankern - kontrolliert wird dies vom Europäischen Gerichtshof. Sofern ihn bis dahin zwölf Euroländer ratifiziert haben, tritt der Pakt spätestens Anfang 2013 in Kraft und wird binnen fünf Jahren in europäisches Recht überführt. ESM-Hilfen erhalten nur Euroländer, die auch den neuen Pakt unterzeichnet haben.

In kontroversen Verhandlungen verständigte sich die schwarz-gelbe Koalition mit SPD und Grünen auf Bedingungen für die Zustimmung zum Fiskalpakt. Dies ist in einem »Pakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung« festgehalten. Die Bundesländer haben für sich und die Kommunen mit dem Bund finanzielle Entlastungen wegen der Sparvorgaben vereinbart. dpa/nd




Europäisierung von unten

Von Kurt Stenger **

Fiskalpakt, permanenter Rettungsschirm, Bankenunion, Haushaltskoordinierung, gemeinsame Schuldenhaftung - für die EU-Bürger ist schon lange nicht mehr zu überblicken, wie der Euroraum im Einzelnen umgekrempelt werden soll. Auch was die unterschiedlichen Vorhaben für sie eigentlich bedeuten, liegt im Dunkeln. Doch statt ausführlich zu informieren und eine Debatte über die weitreichenden Vorhaben zu ermöglichen, macht die politische Klasse in Europa das Gegenteil: Die Staats- und Regierungschefs beschließen hinter verschlossenen Türen in nächtlichen Sitzungen etwas, was die Parlamente unter Zeitdruck abnicken müssen. In diesen Tagen ist es wieder so: Bundestag und Bundesrat stimmen im Hauruck-Verfahren über ein kompliziertes Paket ab, das die meisten Abgeordneten nicht wirklich kennen, während auf einem EU-Gipfel schon die nächsten Projekte ausgemauschelt werden.

Dass dies auf breites Unbehagen stößt, liegt nicht nur an den unterschiedlichen (finanz-)politischen Traditionen im Euroraum, die nicht recht unter einen Hut passen wollen. Es ruft auch alle möglichen Kritiker auf den Plan, die völlig konträre Ziele verfolgen: solche, die sich um die Demokratie sorgen und die Banken entmachten wollen, aber auch solche, die weniger Euro(pa) und eine autoritäre Renationalisierung anstreben. In Deutschland bindet die Kanzlerin relativ erfolgreich die konservativen Kräfte ein, indem sie zwischen europäischer Krisenreaktion und nationalistischen Stimmungen hin und her surft. Staatsschulden sind böse, die Südeuropäer faul, die Stabilität des Geldes ist das höchste Gut der Finanzpolitik - Publikationen von »FAZ« bis »Bild« geben den Ton an. Deutschland soll maximal vom Euro profitieren, auch wenn die anderen untergehen, lautet die Botschaft. Statt Solidarität mit schwachen Euroländern zu üben, verschärft die Kanzlerin die Kluft innerhalb der Währungsunion. Genau hier setzt das Spekulieren gegen den Euro an. Daher wird sich die Krise weiter zuspitzen. Und sobald Athen den Euro verlassen muss und der erste Griechenland-Kredit platzt, für den der hiesige Steuerzahler haften soll, wird Angela Merkels Strategie gescheitert sein. Ein Rechtsruck (nicht nur) in Deutschland wäre die Folge.

Die fortschrittliche Alternative zu technokratischer Europäisierung und nationalistischer Reaktion kann nur eine demokratische Europäisierung sein - durch massive Aufwertung des Europaparlaments gegenüber EU-Kommission und Ministerrat, durch europäische Bürgerinitiativen und EU-weite Volksabstimmungen. Eine erfolgreiche Strategie Europas gegen die Krise benötigt nicht allein finanztechnische und wirtschaftspolitische Maßnahmen, die auf eine Vergemeinschaftung hinauslaufen, sondern vor allem auch eine Beteiligung der Bürger. Auf dieser Grundlage ließen sich demokratische Entscheidungen fällen, die nicht alle paar Wochen in Frage gestellt würden. Nur wenn Europa trotz aller regionaler Unterschiede an einem Strang zieht, kann auch die Entmachtung der Finanzmärkte gelingen. Ansonsten, das ist immer offensichtlicher, wird uns die Krise noch sehr sehr lange begleiten.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 29. Juni 2012 (Kommentar)


Der Musterschüler fällt beim Europa-Test durch

Von Sven Giegold ***

Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt keine Gelegenheit aus, um öffentlich mitzuteilen, dass die EU-Mitgliedsstaaten so werden müssen wie Deutschland. Nur so wären wirtschaftliche Stabilität und Wachstum zu erreichen. Zentrale Leistungen des wirtschaftspolitischen Musterschülers sind aus ihrer Sicht Sparsamkeit, Reformeifer und Exportstärke. Bei einem genaueren Blick auf die Taten der Bundesregierung kann man einen ganz anderen Eindruck bekommen. Die konkreten Maßnahmen, auf die sich dieses Selbstvertrauen stützt, halten nicht, was sie versprechen. Bei den für Europas reale wirtschaftliche Entwicklung zentralen Themen Schuldenabbau, volkswirtschaftliche Ungleichgewichte und Umsetzung des auf EU-Ebene vereinbarten Reformprogramms hat der Musterschüler viel Nachholbedarf.

Der Eifer der Bundesregierung bei Sparanstrengungen ist begrenzt, wenn es um die genaue europaweite Erfassung von Staatsschulden geht. Die Europäische Statistikbehörde Eurostat, die eine wesentliche Rolle bei dieser Aufgabe spielt, soll durch ein neues Gesetz gestärkt werden. Vor allem müssen die Statistiken die möglichen finanziellen Verpflichtungen aus Pensionen, Public-Private-Partnerships und Garantien an Banken korrekt verarbeiten. Nur durch adäquate Erfassung dieser Posten zeigen sie ein realistisches Bild der staatlichen Schuldenlast.

Gegen diese ehrliche Schuldenstatistik hat sich die Bundesregierung mit Portugal, Frankreich und Italien zu einer fragwürdigen Koalition von Blockierern verbündet. Damit zieht sie vage Zahlen genauen Statistiken vor. Sie verhindert dadurch einen effektiven Schuldenabbau, der nur mit präzisen Daten gelingen kann. Die propagierte haushälterische Disziplin vergisst der Musterschüler ganz schnell, wenn es die eigenen Probleme betrifft.

Auch wenn es um das Reformprogramm des »Europäischen Semesters« geht, lässt Kanzlerin Merkel keine Gelegenheit aus, um den deutschen Reformeifer zu preisen. Die EU-Kommission kann in ihrer Bewertung bei zentralen Punkten aber reichlich wenig davon erkennen. Die Kommission fordert von der Bundesregierung zurecht ein resolutes Vorgehen beim Abbau von steuerlichen Hindernissen - wie dem Ehegattensplitting - und kritisiert die hohe Abgabenbelastung für Niedrigverdiener. Auch beim Abbau der Chancenungerechtigkeit im deutschen Bildungssystem hinkt die Bundesregierung den Zielvorgaben hinterher.

Die von Berlin viel gelobten Exportüberschüsse Deutschlands sind sicherlich auch auf erfolgreiche Innovationsprozesse in den Unternehmen zurückzuführen. Gleichzeitig wurden allerdings systematisch durch Mittel der Gesetzgebung Lohnstückkosten und Abgaben gedrückt. Außerdem sind Verschuldung und Leistungsbilanzdefizite einiger Länder, insbesondere in einer Währungsunion, die ökonomisch logische Folge der Exportüberschüsse anderer Mitglieder. Gerade deshalb ist es wichtig, dass auch ein Überschussland wie Deutschland einen Beitrag zum Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Eurozone leistet.

Damit fällt die Bundesregierung beim dargestellten Europa-Test über die Einhaltung von europäischen Regeln durch. Mit diesem Zeugnis im Ranzen muss die Bundeskanzlerin die ihr verbleibende Zeit nutzen, um ihre Hausaufgaben zu machen. In der momentanen Krisensituation sind nachhaltige Entscheidungen anstatt Maßregelungen gefragt.

*** Der Abgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament ist finanz- und wirtschaftspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA.

Aus: neues deutschland, Freitag, 29. Juni 2012 (Rubrik: "Brüsseler Spitzen")



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