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Gipfel mit offenem Ende

Europäischer Rat will über Wachstumsförderung und den Umbau der EU beraten

Von Kay Wagner, Brüssel *

Bereits zum dritten Mal in diesem Jahr treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer. Immer ging es um die Rettung des Euros. Bei diesem EU-Gipfel stehen kurzfristige Maßnahmen wie die Auflage eines Wachstumspakets im Vordergrund. Eine Einigung auf einen Plan zum Umbau der EU ist offen.

Ob die Fußballeuropameisterschaft Pate steht? Pünktlich zur entscheidenden Phase des kontinentalen Turniers in Polen und der Ukraine verhalten sich die EU-Staats- und Regierungschef sowie die internationale Presse vor dem heutigen Start des EU-Gipfels so, als ob es um ein wichtiges Fußballspiel ginge. Schon seit Tagen ist das Treffen ein öffentliches Thema. Die Stars erklären und kündigen an, Beobachter spekulieren und ordnen ein, Emotionen kochen hoch. Doch wie letztlich alles laufen wird, kann erst das Ereignis selbst erzählen. Überraschungen inklusive.

Kühle Köpfe tun in solchen Zeiten gut. Auf EU-Ebene übernimmt diese Rolle Herman Van Rompuy. Zwar hatte auch der EU-Ratspräsident noch ein wenig die Stimmung angeheizt und am Dienstag mit seinen Vorschlägen für eine Vertiefung der Union für heftige Reaktionen gesorgt. Gestern nun verschickte er das offizielle Einladungsschreiben an die Gipfelteilnehmer. Das darin niedergeschriebene Programm ist allerdings wieder so nüchtern formuliert, wie es sich für einen potenziell neutralen Gastgeber gehört.

Mit dem Thema »Mehrjähriger Finanzrahmen« (MFR) soll das Treffen beginnen. Hier geht es darum auszuloten, wie viel Geld die EU-Mitgliedsstaaten den Institutionen der EU zwischen 2014 und 2020 für ihre Aufgaben zur Verfügung stellen. Kommission und Parlament fordern mehr, ein Kern von bedeutenden Mitgliedsländern, darunter auch Deutschland, weisen diese Forderungen strikt zurück.

Nach einem ersten Austausch auch mit Martin Schulz, dem Präsidenten des EU-Parlaments, soll das Diskussionsfeld ausgeweitet werden auf den viel gepriesenen Wachstumspakt. Er soll noch heute Abend verabschiedet werden - ein Vorhaben, das die Staats- und Regierungschefs schon seit über einem Jahr verfolgen. Doch jetzt, so heißt es im Vorfeld, wird man die Maßnahmen für mehr Wirtschaftsleistung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen als genau den Wachstumspakt hinstellen, den der neue französische Staatspräsident François Hollande in seinem Wahlkampf versprochen hatte. Hollande könnte so sein Gesicht wahren, die EU das machen, was sie sowieso wollte, und das Geld wird aus den vorhandenen EU-Töpfen genommen. Dass es 130 Milliarden Euro sein sollen, darauf hatten sich Hollande, Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie die Ministerpräsidenten Spaniens und Italiens, Mariano Rajoy und Mario Monti, bereits bei einem Treffen am vergangenen Freitag geeinigt.

All das soll vor dem Abendessen abgehakt werden, bei dem es dann ans Eingemachte geht. Zusammen mit dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) wird Van Rompuy sein Programm für eine vertiefte Wirtschafts- und Währungsunion zur Debatte stellen. Auf dem Mai-Gipfel war Van Rompuy mit diesem Bericht beauftragt worden. Es sind erste Ideen für ein »Mehr Europa« für all jene Mitgliedsstaaten, die mitmachen wollen, die Van Rompuy zusammen mit Kommissionschef José Manuel Barroso, dem Präsidenten der EZB, Mario Draghi, und Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker formuliert hat.

Wie die Gipfelteilnehmer mit dem Papier umgehen werden, ist offen. Vor der Veröffentlichung hieß es, der Gipfel wolle sich darauf einigen, bis Ende des Jahres einen Zeitplan für die Umsetzung der Maßnahmen festzulegen. Nach der Veröffentlichung scheint es größeren Diskussionsbedarf zu geben. Es wird nicht leicht werden, die deutsche Bundesregierung, aber auch andere nordeuropäischen Euroländer wie Finnland und die Niederlande von einer Solidargemeinschaft mit angeschlagenen, aber nicht zu rigorosem Sparen bereiten südeuropäischen Staaten zu überzeugen.

Um diese aktuellen Krisenstaaten wird sich der Europäische Rat sicher auch kümmern, aber im Programm von Van Rompuy tauchen sie nicht auf. Für Freitagmorgen hat er angekündigt, über seine Vorhaben in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit zu informieren. Nach dem offiziellen Ende des EU-Gipfels werden sich die Staats- und Regierungschefs der Euroländer zu einem weiteren Gipfel in Brüssel zusammensetzen, während die Kollegen ohne Euro schon nach Hause dürfen.

Der italienische Ministerpräsident Mario Monti soll gestern schon angekündigt haben, zur Not bis Sonntag in Brüssel bleiben zu wollen. Spätestens dann wird ein Vergleich mit dem Fußball nicht mehr klappen. Denn einen neuen Europameister wird die Welt dann kennen. Den Weg der EU aus der Krise mit Sicherheit noch nicht.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 28. Juni 2012


Neue Ordnung

Schäubles europäische Visionen

Von Werner Pirker **


Finanzminister Wolfgang Schäxuble will entschieden »mehr Europa«. Das heißt: Nationale Kompetenzen sollen zunehmend an Brüssel übertragen werden, ein europäischer Finanzminister soll bestellt, ein in direkter Wahl ermittelter Ratspräsident installiert werden. Ganz nebenbei ist auch eine Stärkung des EU-Parlaments vorgesehen. Da ein solch weitreichender nationaler Souveränitätsverzicht durch das Grundgesetz nicht gedeckt ist, will Schäuble den Verfassungsbruch per Referendum von der deutschen Bevölkerung absegnen lassen.

Mittels eines demokratischen Aktes soll die Demokratie in Deutschland und darüber hinaus in ganz Europa begraben werden. Zwar sind Volksabstimmungen ein Element plebiszitärer, direkter Demokratie und als solches eine Art Gegenprogramm zur Fadesse und Abgehobenheit der repräsentativen Demokratie. Doch sind sie auch eine sehr verkürzte Form der direkten Demokratie und als solche von den mächtigen Interessengruppen unter Nutzung ihrer medialen Vormachtstellung leicht manipulierbar. Ein Referendum über die Übertragung nationaler Befugnisse an die Brüsseler Zentrale sähe beim gegenwärtigen Bewußtseinsstand höchstwahrscheinlich diejenigen als Sieger, die es angestrengt haben.

Krisenzeiten wie diese wecken nicht unbedingt demokratische Bedürfnisse, sondern eher die Sehnsucht nach autoritären Lösungen. Die Vorstellung eines von den Völkern der EU-Staaten direkt gewählten Ratspräsidenten enthält die Erwartung auf eine bonapartistische Heilsfigur. Das demokratieresistente Brüsseler Regime und sein oberster Repräsentant erführe seine quasi-demokratische Legitimation. Entsprechend »delegitimiert« sähen sich die legitimen demokratischen Institutionen, auf nationalstaatlicher, aber auch – falls das überhaupt noch möglich wäre – auf europäischer Ebene.

Der forciert »proeuropäische« Kurs der Kanzlerin und ihres Finanzministers hat seinen Grund nicht in der Absage an die Sonderinteressen des deutschen Kapitals, sondern in der Absicht, alle Hindernisse für dessen neoliberalen Durchmarsch zu beseitigen. Mehr Europa aus dem Mund des deutschen Duos infernale ist eine Kampfansage an die subalternen Klassen des Kontinents, an die peripheren EU-Länder, aber auch an jene Staaten, die die deutsche Hegemonie in Europa herausfordern könnten. Deshalb will Berlin auf schnellstem Wege eine neue europäische Ordnung nach deutschen Vorgaben herstellen.

Voraussetzung dafür ist die Zurückdrängung der Demokratie – auch in Deutschland. Über den Fiskalpakt werden die Parlamente – auch der Deutsche Bundestag – ihrer wichtigsten Funktion, der Budgethoheit, beraubt. Je öfter das Bundesverfassungsgericht gegen die regierungsoffiziellen Verfassungsfeinde einschreiten muß, desto dringender wird deren Wunsch, die Verfassung »europäisch« auszuhebeln. Denn das deutsche Grundgesetz ist nun einmal nicht wirklich neoliberalismustauglich.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 28. Juni 2012

Chronologie der Euro-Krise

Erneut soll ab heute ein EU-Gipfel Auswege aus der Euro-Krise aufzeigen. Diese hält Europa schon seit Jahren in Atem. Eine Chronologie. ***

Februar 2009: Die Risikoaufschläge österreichischer Staatsanleihen gehen in die Höhe. An den Finanzmärkten wird spekuliert, ob der Staat finanziell in der Lage wäre, falls nötig die heimischen Banken zu stützen. Diese sind stark in Osteuropa engagiert, das besonders hart von der Weltwirtschaftskrise getroffen ist.

Oktober 2009: Die neue sozialistische Regierung in Griechenland entdeckt geschönte Haushaltsbilanzen. Das Defizit ist rund doppelt so hoch wie bisher angegeben. Dies kommt zur Unzeit: Schon in den Monaten davor war es für südeuropäische Länder teurer geworden, Kredite aufzunehmen – als Folge von Spekulationen. Die Einführung von Eurobonds wird ins Gespräch gebracht.

Dezember 2009: Fitch stuft als erste Ratingagentur die Kreditwürdigkeit Griechenlands herab. Die Risikoaufschläge steigen weiter.

25. März 2010: Die Euroländer sagen Athen vorsorglich ein Hilfspaket unter Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu.

2. Mai 2010: Griechenland droht akut die Insolvenz. Die Eurogruppe beschließt bilaterale Notkredite von 110 Milliarden Euro und verlangt einen harten Sparkurs. Um ein Übergreifen auf andere Länder zu vermeiden, wird der erste »Rettungsschirm« EFSF gespannt. Dieser Fonds hat ein Garantievolumen von bis zu 440 Milliarden Euro. Die EU-Kommission steuert zusätzlich 60 Milliarden Euro bei, der IWF nochmals 250 Milliarden Euro.

10. Mai 2010: Die Europäische Zen-tralbank (EZB) beschließt, am Sekundärmarkt Staatsanleihen kriselnder Staaten aufzukaufen. Sie will verhindern, dass diese Länder ihre Schulden nicht mehr bedienen können, weil die Anleihezinsen immer weiter steigen.

21. November 2010: Als erstes EU-Land schlüpft Irland unter den EFSF. Europäer und IWF schnüren ein Hilfspaket von 85 Milliarden Euro.

16. Dezember 2010: Ein EU-Gipfel beschließt den permanenten Rettungsschirm ESM für die Zeit ab 2013, dessen Start später auf Juli 2012 vorgezogen wird. Er soll mit 500 Milliarden Euro an verfügbaren Notkrediten ausgestattet werden. Um den Schutzwall zu erhöhen, wird das maximale Hilfsvolumen im März 2012 auf rund 800 Milliarden Euro ausgeweitet.

25. März 2011: Ein EU-Gipfel verabschiedet ein Paket zur Überwindung der Schuldenkrise. Dazu gehören neben dem permanenten Rettungsschirm eine Verschärfung des Stabilitätspakts und ein neuer »Euro-Pakt-Plus«, mit dem sich die Regierungschefs zu »Strukturreformen« etwa bei Löhnen und Renten verpflichten. Die EFSF-Garantien werden ausgeweitet, damit der Fonds bis zu 440 Milliarden Euro an Krediten auszahlen kann.

8. April 2011: Die EU setzt für Portugal ein Rettungspaket von 80 Milliarden Euro in Gang.

29. Juni 2011: Das Parlament in Athen nimmt ein radikales Sparpaket der Regierung an – Voraussetzung für eine Teilzahlung aus dem Hilfspaket.

21. Juli 2011: Die Euroländer einigen sich bei einem Krisengipfel auf ein zweites Hilfspaket für Athen von 109 Milliarden. Private Gläubiger sollen freiwillig auf 21 Prozent ihrer Ansprüche verzichten.

8. August 2011: Die EZB kauft erstmals auch italienische und spanische Staatsanleihen am Sekundärmarkt.

27. Oktober 2011: Euroländer und Banken einigen sich auf eine Entschuldung für Athen und das zweite Rettungspaket von 130 Milliarden Euro. Gegen die harten Sparauflagen gibt es massive Proteste.

November 2011: EZB-Chef Mario Draghi startet ein neues umfangreiches Programm zum Aufkauf von Staatsanleihen, um ein Übergreifen der Krise auf Spanien und Italien zu verhindern. Politische Turbulenzen in Athen und Rom: Die Regierungen treten zurück. Neuer griechischer Premier einer großen Koalition wird der ehemalige Notenbanker Loukas Papadimos. italienischer Ministerpräsident wird Ex-EU-Kommissar Mario Monti.

9. Dezember 2011: Alle EU-Mitglieder mit Ausnahme Großbritanniens einigen sich auf einen Fiskalpakt, der strenge Obergrenzen für die Staatsschulden einschließlich automatischer Sanktionen für Länder vorsieht, die die Regeln brechen.

21. Dezember 2011: In einer ungewöhnlichen Aktion verleiht die EZB die gewaltige Summe von 489 Milliarden Euro an insgesamt 523 Banken zum Niedrigzins und mit drei Jahren Laufzeit. Die Aktion wird im Februar 2012 wiederholt, diesmal werden die Banken mit 530 Milliarden Euro entflutet. Die Krise entschärft sich spürbar – die Zinsen der Krisenstaaten gehen deutlich in den Keller.

12. Februar 2012: Das Parlament in Athen billigt die von den internationalen Geldgebern geforderte Verschärfung des Sparprogramms.

21. Februar 2012: Die Länder der Eurozone geben grünes Licht für das 130-Milliarden-Hilfspaket. Voraussetzung für die Freigabe ist aber ein Erfolg des Schuldenschnittes.

2. März 2012: Der Europäische Fiskalpakt wird von den Regierungen aller EU-Staaten außer dem Vereinigten Königreich und Tschechien unterzeichnet.

9. März 2012: Mit der größten Staatsumschuldung aller Zeiten verschafft sich Griechenland Luft im Kampf gegen die Pleite. Athen meldet eine breite Beteiligung am Schuldenschnitt, der das Land um mehr als 100 Milliarden Euro entlasten wird. Die Euro-Finanzminister geben umgehend die erste Tranche des neuen Hilfspakets frei.

30. März 2012: Die Euro-Finanzminister beschließen, den Euro-Schutzwall auf rund 800 Milliarden Euro auszuweiten.

25. Mai 2012: Das spanische Sparkassenkonglomerat Bankia benötigt 19 Milliarden Euro an Staatshilfe.

Juni 2012: Mit Spanien und Zypern stellen zwei weitere Eurostaaten Anträge auf Finanzhilfen aus dem EU-Rettungsfonds. Hier gibt es eine Besonderheit – das Geld soll für strauchelnde Banken aufgenommen werden.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 28. Juni 2012




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