Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Für eine menschlichere Wirtschaft

Der Europaabgeordnete Sven Giegold über Möglichkeiten, Genossenschaften zu stärken *


Am 22. Juli 2003 verabschiedete der EU-Ministerrat das Statut über die Europäische Genossenschaft. Doch von der Möglichkeit, eine Societas Cooperativa Europaea (SCE) zu gründen, machten bislang nur wenige Unternehmer Gebrauch. Darüber, warum das Genossenschaftswesen gestärkt werden muss, sprach Katja Herzberg für "neues deutschland" (nd) in Straßburg mit Sven Giegold. Er ist Mitglied der Fraktion der Grünen/Europäische Freie Allianz im Europaparlament und Mitbegründer von Attac in Deutschland.

nd: Das Parlament der Europäischen Union hat zu Wochenbeginn einen Bericht über die Lage der Europäischen Genossenschaft abgestimmt. Warum war die Entschließung nötig?

Giegold: Die Kommission muss eigentlich aufgrund von juristischen Änderungen bei der Arbeitnehmermitbestimmung das Statut der Europäischen Genossenschaft überarbeiten. Wir als Grüne haben den Bericht aber vor allem dafür nutzen wollen, um eine viel breitere Förderpolitik der EU für den Sektor der solidarischen Ökonomie einzufordern.

Sie sind formal nur stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Soziales und Beschäftigung, der den Bericht federführend behandelt hat. Warum haben ausgerechnet Sie den Bericht in die Hand genommen?

Ich bin nur wegen dieses Themas in den Ausschuss gegangen. Denn ich bin von der Idee der Genossenschaften zutiefst überzeugt. Ich weiß, das auch in diesem Bereich nicht alles Gold ist, was glänzt. Aber ich finde, die Sozial- und Solidarwirtschaft bieten eine Hoffnung für eine Wirtschaft, die menschlicher und ökologischer ist. Dafür sollten wir die Rahmenbedingungen setzen.

Die Rahmenbedingungen für die Europäische Genossenschaft haben sich nicht gerade als günstig erwiesen. Seit der Verabschiedung des Statuts 2003 wurden nur 24 Societas Cooperativa Europaea (SCE) mit weniger als 100 Mitarbeitern gegründet. Warum ist der Zuspruch so gering?

Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, für alle Notwendigkeiten des Gesellschaftsrechts europäische, grenzüberschreitende Rechtsformen zu schaffen. Für den Bereich der Sozial- und Solidarwirtschaft sollen die Europäische Stiftung, der Europäische Verein, die Europäische Genossenschaft und der Europäische Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit eingeführt werden. Davon wurde bisher nur die Europäische Genossenschaft realisiert. Das war erst einmal ein großer Schritt der Anerkennung. Doch das, was dabei herausgekommen ist, ist so kompliziert, dass kein Mensch es benutzt. Vor allem gehen die Regularien an der eigentlichen Intention vorbei, nämlich, dass man grenzüberschreitende Genossenschaftsprojekte aufbaut. Die gibt es bereits - ein Beispiel ist die spanische Mondragón - nur laufen sie nicht in dieser Rechtsform.

Was ist so kompliziert?

Insgesamt sind die Anforderungen an diese Genossenschaften sehr hoch gesetzt worden. Das wird etwa an den Registrierungspflichten deutlich. Das Grundproblem ist aber, dass die Europäische Genossenschaft auch per Richtlinie eingeführt wurde. Diese muss im nationalen Recht verankert werden. Das widerspricht aber der Idee einer grenzüberschreitenden Rechtsform, weil dennoch alles überall anders reguliert ist, statt zu einer größeren Einheitlichkeit zu kommen. Das heißt, es wurde eine Rechtsform geschaffen, die in 27 Ländern implementiert werden musste. Im Ergebnis gibt es nun weniger solche Genossenschaften als Rechtsetzungsprozesse. Das ist bürokratischer Irrsinn.

Worin bestehen die Chancen der Europäischen Genossenschaft?

Wenn Genossenschaften heute grenzüberschreitend handeln, sind sie fast gezwungen, eine Rechtsform mit einer kapitalistischen Grundkonstruktion zu nehmen. Mit der europäischen Genossenschaft könnte man hingegen eine Rechtsform wählen, die von ihrer inneren Logik und Symbolik her klar zeigt, dass es nicht nur um die Erhöhung der Gewinne für die Eigentümer geht.

Würde eine Stärkung der SCE auch den europäischen Gedanken fördern?

Ja und dies würde noch viel mehr gelten, wenn es gelänge eine europäische Form bei den Vereinen zu etablieren. Wenn jemand etwa in Deutschland eine Bürgerinitiative gründen und dabei Spenden sammeln will, ist das ganz einfach. Er oder sie gründet einen Verein. Auf europäischer Ebene hat man hingegen ein Problem. Um steuerabzugsfähig zu werden, muss an jedem Ort ein Verein gegründet werden. Für eine europäische Bürgergesellschaft ist das nicht gerade handlungsförderlich.

Was sieht der nun verabschiedete Bericht zur Förderung der Genossenschaften, sowohl auf europäischer Ebene als auch in den Nationalstaaten, vor?

In Europa gibt es bereits rund 160 000 Genossenschaften mit 5,4 Millionen Jobs. Das heißt, jeder siebzigste arbeitet bei einer Genossenschaft. Um diesen Sektor zu vergrößern, ist ein umfassendes Programm zur Stärkung der Sozial- und Solidarwirtschaft nötig. Dazu schlagen wir ein Bildungsprogramm und die statistische Erfassung vor. Denn, was nicht erfasst wird, wird auch nicht wahrgenommen und nicht unterstützt. Dazu gehören auch die verschiedenen Förderprogramme in den Mitgliedsländern, die in nationaler Verantwortung liegen. Und wir brauchen auch in dem Bereich der Solidarwirtschaft den sogenannten Prozess der offenen Methode der Koordinierung. Dabei vergleicht man systematisch, welche Förderinstrumente und welche rechtlichen Rahmenbedingungen förderlich und hemmend wirken. Mit dem Bericht fordert das Parlament nun von der EU-Kommission, einen solchen Prozess zu starten. Durch die Evaluierung mit jährlichen Berichten und Treffen, die die Kommission koordiniert, soll es zu einem Lernen zwischen den Ländern kommen.

Wie werden Sie nun konkret vorgehen?

Ich werde zusammen mit den Schattenberichterstattern ein Gespräch mit der Kommission führen, wie die einzelnen Vorschläge umgesetzt werden können. Die Beteiligten dürfen sich jetzt nicht auf dem Beschluss des Parlaments ausruhen und sich einfach dem nächsten Thema zuwenden. Die Solidar- und Sozialwirtschaft leidet als Ganzes sowieso unter mangelnder Aufmerksamkeit. Dabei hat der Sektor rein zahlenmäßig eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. In Deutschland macht er etwa sieben Prozent der Gesamtbeschäftigung aus. Das ist ähnlich viel wie die Automobilwirtschaft.

Sie durften Ihren Bericht in der Plenarsitzung erst nach 22 Uhr vorstellen. Was sagt das über die Wertschätzung des Themas aus?

Die Ansetzung auf der Tagesordnung ist damit begründet, dass der Bericht unkontrovers ist und Genossenschaften insgesamt weniger spektakulär sind. Es gibt weniger rote Bänder, die man regelmäßig durchschneiden kann, keine großen Aktionärsversammlungen. Ihre Bedeutung zeigt sich erst, wenn man etwa die sozialen Dienste betrachtet, die tagtäglich Menschen versorgen und für Beschäftigung sorgen. Allein bei der Diakonie arbeiten rund 500 000 Menschen beruflich und noch einmal so viele ehrenamtlich.

* Aus: neues deutschland, 16. März 2012


Hier geht es zum Bericht:
BERICHT über das Statut der Europäischen Genossenschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer (2011/2116(INI))
Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten. Berichterstatter: Sven Giegold




Zurück zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage