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"Bedrohungsrisiko" Flüchtlinge

Migranten werden künftig nicht nur an der EU-Außengrenze verfolgt

Von Thomas Blum *

Der Schengen-Vertrag, mit dem in EU-Europa die Grenzkontrollen abgeschafft wurden, konnte schon in der Vergangenheit bei »Bedarf« zeitweilig ausgesetzt werden. Nun wird ein neues »Risiko« definiert, bei dem Kontrollen wieder zulässig sind: innereuropäische »Flüchtlingsströme«.

Das Lob der Demokratie, die immergleichen gestelzten Phrasen und die salbungsvollen Worte, mit denen der Kampf für die Menschenrechte begleitet wird, all das ist man von europäischen Politikern seit langem gewohnt. Seit die autokratischen Systeme in der arabischen Welt und Nordafrika erschüttert werden, vergeht kein Tag, an dem nicht wortreich die Courage der Oppositionellen beschworen wird. Zu den Taten, die darauf folgen sollten, sollte auch die unbürokratische Aufnahme von Flüchtlingen aus diesen Bürgerkriegsregionen gehören.

Doch das gegenwärtige EU-Konzept, das gewaltsame Fernhalten von Flüchtlingen unter Inkaufnahme ihres Todes, wird stattdessen perpetuiert. Mehr noch: Ein Gesetzesentwurf, den die Europäische Kommission heute (16. Sept.) vorstellen will, sieht unter anderem vor, dass künftig Migranten nicht nur an den Außengrenzen Europas abgewiesen werden können. »Zur Abwehr von starken Migrantenströmen«, »bei einem Massenansturm von Flüchtlingen« bzw. wenn ein »Flüchtlingsstrom drohe«, wie es heißt, will man nun auch wieder Grenzkontrollen innerhalb des sogenannten Schengen-Raums ermöglichen.

EU-Mitgliedsländer sollen in den genannten Fällen fünf Tage lang ihre Grenzen kontrollieren dürfen, ohne sich mit anderen Staaten abstimmen zu müssen. Bisher waren solche temporären Grenzkontrollen nur in Ausnahmefällen möglich, etwa bei drohender Terrorgefahr oder um gewalttätige Fußballhooligans aufzuhalten. Die EU-Regierungschefs hatten sich bereits im Juni auf die zeitweilige Einschränkung der Reisefreiheit innerhalb der Europäischen Union verständigt. Für die Schließung von Grenzen soll künftig eine Mehrheitsentscheidung der EU-Länder nötig sein. Dagegen wehren sich wiederum die Innenminister Deutschlands, Frankreichs und Spaniens, die eigenmächtig über mehrtägige Kontrollen ihrer Grenzen entscheiden wollen. Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (LINKE) kommentierte dies mit den Worten: »Anstatt um die Souveränität über die Verhängung von Grenzkontrollen zu streiten, sollte die Bewegungsfreiheit im Mittelpunkt stehen.«

Die fragwürdige Politik der Abschottung vor dem Elend der Welt wird jedoch intensiviert: Unerwünschten Flüchtlingen soll, falls es nicht gelungen ist, sie von der EU fernzuhalten, die Möglichkeit entzogen werden, aus Aufnahmeländern wie Griechenland oder Italien in andere EU-Länder weiterzureisen. Die Verantwortung für diese Menschen soll derart auch künftig ausgerechnet jenen an den Außengrenzen Europas gelegenen Staaten auferlegt werden, die am wenigsten Mittel und Kapazitäten haben, um sich angemessen um die Migranten zu kümmern.

Auch für die paramilitärisch operierende »Grenzschutzagentur« FRONTEX besteht die Hauptaufgabe darin, Flüchtlingsboote abzufangen und Migranten an der Einreise nach Europa zu hindern. Oft wird gar nicht geprüft, ob sich auf den Booten Schutzbedürftige befinden, die ein Anrecht auf Asyl haben. Diese Agentur soll nun noch mehr Geld erhalten und besser ausgerüstet werden. Eine Folge ist, dass sie mehr und mehr zu einer eigenständig operierenden Organisation zu werden droht: Künftig müssen ihr europäische Länder Einsatzkräfte zur Verfügung stellen, wenn dies von der Agentur verlangt wird. Geradezu grotesk ist, dass der »Menschenrechtsbeauftragte«, der für die Flüchtlinge eintreten soll, nicht unabhängig handeln kann, sondern der FRONTEX-Führung unterstellt ist.

Wer ernsthaft glaubt, so »Migration steuern« zu können, wie es beschönigend heißt, der glaubt auch, das Elend auf der Welt verschwände, wenn er einen Stahlzaun um seinen Vorgarten zieht.

* Aus: Neues Deutschland, 16. September 2011


Eine Kehrtwende ist nötig

Von Cornelia Ernst **

Das Europaparlament hat am Dienstag (13. Sept.) die Reform der »Grenzschutzagentur« FRONTEX, dem Symbol überhaupt für die Abschottungspolitik der Europäischen Union, beschlossen. Die notwendige Zustimmung der Minister aus den einzelnen Mitgliedsstaaten im Rat ist eine reine Formsache, der Gesetzentwurf wurde schon im Vorfeld zwischen Parlament und Rat ausgehandelt. Mit der Reform sollte vor allem FRONTEX in seinen sogenannten operativen Kapazitäten gestärkt werden, also mit mehr Ausrüstung, Personal und Zuständigkeiten ausgestattet werden.

Statt wie bisher Fahrzeuge und Ausrüstung von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zur sogenannten Abwehr von Flüchtlingen zur Verfügung gestellt zu bekommen, wird FRONTEX in Zukunft seine eigenen Jeeps, Boote und Hubschrauber kaufen oder leasen können, allein oder gemeinsam mit einem der EU-Staaten. Wie vor allem letzteres in der Praxis funktionieren wird, ist ziemlich unklar, und ich bin skeptisch, ob es funktionieren kann.

Damit bald mehr Mitgliedsstaaten an mehr Einsätzen teilnehmen, wird FRONTEX die vollen Kosten der Einsätze übernehmen, was natürlich den EU-Haushalt zusätzlich belasten wird. Mit einem Budget von heute knapp 90 Millionen Euro wird FRONTEX das kaum leisten können und die ersten Forderungen nach einer Erhöhung sind im Zuge der aktuellen Budget-Verhandlungen schon laut geworden. FRONTEX wird den Staaten auch Einsätze vorschlagen können, gestützt auf eine »Risikoanalyse«, die bewertet, mit wie vielen Flüchtlingen wo zu rechnen ist. Alleine der Begriff ist schon zynisch.

Nun sind in dem Gesetzentwurf auch Verbesserungen enthalten, die durchaus zu begrüßen sind. Endlich ist eindeutig klar, dass die Grundrechte der Europäischen Union, die Genfer Flüchtlingskonvention und das internationale Seerecht auch bei FRONTEX-Einsätzen gelten. Der Datenschutz wird verbessert – Daten von Flüchtlingen gehen nicht mehr grundsätzlich an Europol. Ein Verhaltenskodex für die Beamten wird erstellt, in Zusammenarbeit mit einem Konsultationsforum für Menschenrechtsfragen. Ein großer Wurf? Wohl kaum.

Denn was nützen die wohlklingenden Formulierungen, wenn ihre Einhaltung nicht kontrolliert werden kann? Die Einsatzpläne von FRONTEX werden auch zukünftig unter Verschluss bleiben und von keinem Parlament in Europa geprüft werden.

Der leitende Direktor von FRONTEX wird vom Verwaltungsrat berufen, in dem die Mitgliedsstaaten und die EU-Kommission vertreten sind – dem Europäischen Parlament muss er sich vor seiner Berufung nicht einmal vorstellen. Die Arbeit des Konsultationsforums wird nicht bindend sein und der neue Menschenrechtsbeauftragte ist zwar formal unabhängig, wird aber intern rekrutiert und seine Unabhängigkeit ist durch nichts abgesichert, er wird ein ganz normaler Angestellter sein, der kein Interesse hat, den Unmut seiner Kollegen auf sich zu ziehen.

Auch an der Abschiebepraxis wird sich nichts ändern, es wird eher mehr Abschiebungen unter Frontex-Kommando geben, nur in einem menschenrechtskonformen Gewand. Aber es ist eine völlige Illusion zu glauben, dass FRONTEX nun zum neuen Hüter der Menschenrechte mutiert. FRONTEX ist und bleibt das Zentrum einer verfehlten Politik, deren Ziel die Bekämpfung von Migration ist. Statt diese Politik zu verfestigen und mit einem freundlicheren Anschein zu versehen, braucht es eine Kehrtwende hin zu einer humanen und solidarischen Flüchtlingspolitik. Die ersten Schritte dazu sind die Abschaffung von Dublin II und eine Neuausrichtung der Nachbarschaftspolitik gegenüber den nordafrikanischen Staaten.

** Die Europaabgeordnete der LINKEN ist unter anderem Mitglied im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres.

Aus: Neues Deutschland, 16. September 2011 ("Brüsseler Spitzen")



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