Unheilvolle Kooperation
Hintergrund. Das Konzept der "Festung Europa" widerspricht humanitären Standards. Flüchtlingspolitik am Beispiel Libyens und Maltas
Von Ulla Jelpke *
Unter der Leitung von Oberst Muammar Al-Ghaddafi führten 1969
panarabische und sozialrevolutionäre Offiziere einen Umsturz im
nordafrikanischen Königreich und ehemaligen italienischen
Kolonialgebiet Libyen herbei. 1977 wurde das Land zur sozialistischen
Volksrepublik auf Grundlage des Korans proklamiert. Offiziell ist
Libyen basisdemokratisch organisiert (auf lokaler und nationaler Ebene
existiert ein System von »Volksräten«), doch liegt die faktische Macht
bei »Revolutionsführer« Ghaddafi und dessen Sicherheitsdiensten. Erdöl-
und Erdgasvorkommen sind die Quellen des Wohlstandes. Obwohl Libyen
fünfmal so groß ist wie die Bundesrepublik, leben dort nur 6,3 Millionen
Menschen, davon 1,8 Millionen in der Hauptstadt Tripolis. Lange wurde
die »Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija« vom Westen
wegen ihrer Unterstützung von Guerilla- und Befreiungsbewegungen als
»Schurkenstaat« bekämpft. 1986 bombardierten US-Kampfflugzeuge Tripolis
und Bengasi. Nachdem Ghaddafi 1999 die Beteiligung libyscher Agenten am
Anschlag auf eine US-amerikanische Boeing 747 über dem schottischen
Lockerbie eingestand und 2003 den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen
erklärte, wurde ein Embargo des UN-Sicherheitsrates aufgehoben. Im
Gegenzug leitete Ghaddafi eine Teilprivatisierung der Wirtschaft ein und
öffnete das Land für ausländisches Kapital.
Bei der Durchsetzung ihres Konzepts einer »Festung Europa« spielt das in
den Kreis der »zivilisierten Nationen« zurückgekehrte autoritäre
libysche Regime für die EU eine Schlüsselrolle. Zentral für die
europäische Abschottungspolitik ist vor allem die Entwicklung enger
Beziehungen zwischen Libyen und seiner ehemaligen Kolonialmacht Italien.
Libyen stand bis 2009 in der Kritik der EU, weil es als Transitland der
»illegalen« Migration nach Europa galt. Kriege, Bürgerkriege und extreme
Armut sind der Antrieb für Tausende verzweifelter Menschen aus Somalia,
Eritrea, dem Sudan und anderen afrikanischen Ländern, das Risiko einer
Überfahrt von Libyen über das Mittelmeer auf unzureichenden kleinen
Booten auf sich zu nehmen. In der EU wird ignoriert, daß diese
Flüchtlingsbewegungen die Reaktion darauf sind, daß Afrika durch eine
neokolonialistische Wirtschaftspolitik des Westens immer mehr verarmt
und die Menschen für sich dort keine Perspektive sehen. Statt die
Fluchtursachen zu beseitigen, begann insbesondere Berlusconis Italien,
Tripolis zu einer Kooperation zu bewegen, die ausschließlich auf Abwehr
und Abschiebung der in Europa Schutz suchenden Afrikaner gerichtet ist.
Seither haben die Transitwege von Libyen nach Malta oder zur kleinen
italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa an Bedeutung verloren. Die
Flüchtlinge wurden somit gezwungen, auf neue, gefährlichere Routen
auszuweichen. Ende 2009 entschied Ministerpräsident Silvio Berlusconi,
daß das Auffanglager Lampedusa geschlossen werden könne, was nunmehr
auch geschehen ist, da keine Flüchtlinge mehr dort ankamen.
Vorposten der Festung Europa
Seit Mai 2009 geht Tripolis gegen »Schleuser« aktiv vor. Italien und
Libyen führen gemeinsame Patrouillenfahrten vor der libyschen Küste
durch. Ebenfalls seit Mai 2009 führt Italien Migranten, die auf hoher
See aufgegriffen werden, umgehend nach Libyen zurück. Und 2009 wurde ein
bilateraler Freundschaftsvertrag zwischen Tripolis und Rom ratifiziert.
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist sehr eng. Italien leistet
finanzielle Hilfen, etwa für den Bau einer Küstenautobahn durch
vorwiegend italienische Firmen. Berlusconi durfte Ende März 2010 auf
Einladung Ghaddafis sogar als Gastredner auf der Gipfelkonferenz der
Arabischen Liga sprechen. Die Flüchtlingsabwehr ist integraler
Bestandteil der Kooperation beider Staaten. Von der italienischen
Regierung wird all dies als »Erfolg« verkauft, obwohl die Maßnahmen zur
Abschiebung von Flüchtlingen im Widerspruch zum internationalen Recht
stehen.
Es existiert aber nicht nur eine besondere Beziehung Libyens zur
ehemaligen Kolonialmacht Italien. Vielmehr arbeitet die EU insgesamt
seit 2004 in Fragen der Flüchtlingsabwehr eng mit Tripolis zusammen.
Gegen finanzielle Zusicherungen zeigte sich Libyen bereit, die Funktion
eines Vorpostens der Festung Europa einzunehmen. Nicht von ungefähr
brachte Exbundesinnenminister Otto Schily (SPD) bereits in der Zeit der
rot-grünen Koalition die Idee von »Auffanglagern« in Nordafrika in die
Diskussion.
Deutschland betreibt nicht nur seit langem die Abschottungspolitik der
EU aktiv mit, sondern ist auch konkret bei der Flüchtlingsabwehr der
sogenannten EU-Grenzschutzagentur Frontex beteiligt. Deutsche Helikopter
helfen beispielsweise mit, Flüchtlingsboote aufzuspüren. Auf diese Weise
wurde im Juni 2009 erstmals unter deutscher Beteiligung ein
Flüchtlingsboot südlich von Lampedusa entdeckt, von italienischen
Küstenschiffen aufgebracht und schließlich der libyschen Küstenwache
übergeben. Auch durch Maltas Küstenwache wurden Flüchtlingsboote zur
Rückkehr nach Tripolis gezwungen. Dies ist unter menschenrechtlichem
Aspekt schon deshalb ein Skandal, weil Libyen die Genfer
Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat. Internationale
Flüchtlingsorganisationen haben keine Möglichkeit, dort tätig zu sein.
Eine Ausnahme gilt nur für die IOM (Internationale Organisation für
Migration), deren Aufgabe aber nur darin besteht, freiwillig
ausreisenden Migranten behilflich zu sein. Libyen kennt kein nationales
Asylrecht. Die Einhaltung eines Mindestschutzstandards ist nicht
gewährleistet. Daher werden Menschen ohne Papiere festgenommen und
inhaftiert. Kaum jemand hat die Chance, über Resettlementprogramme nach
einer Anerkennung durch das UN-Flüchtlingshilfswerk doch noch in
westlichen Industrienationen aufgenommen zu werden.
Flüchtlinge in Libyen sind insgesamt schutzlos, das gilt insbesondere
für allein reisende Frauen und unbegleitete Minderjährige. Sie sind
schweren Mißhandlungen, Folter und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt
- sowohl durch Kriminelle als auch durch Polizei und Militär. In
mindestens achtzehn Haftanstalten befinden sich etwa 7000 bis 9000
Flüchtlinge. Die Zellen sind überfüllt, es fehlt an medizinischer
Versorgung. Frauen sind Opfer von Vergewaltigungen. Die Flüchtlinge
erhalten kaum Kontakt zu Anwälten, sondern sind der Willkür der Behörden
ausgeliefert. Praktisch befinden sie sich in einer Abschiebehaft ohne
zeitliche Begrenzung und können meist nur entkommen, wenn Verwandte
Bestechungsgelder schicken. Die Generalsekretärin von Amnesty
International in Deutschland, Monika Lüke, berichtet von Flüchtlingen,
die von libyschen Sicherheitskräften ohne Wasser und Nahrung in der
Wüste ausgesetzt wurden.
Unklarer Status des UNHCR
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hatte nur
durch die Kooperation mit einer libyschen Organisation (der
»International Organization für Peace, Care and Relief«, IOPCR) Zugang
zu den meisten Haftanstalten. Ein zwischenzeitlich geltendes
Betätigungsverbot wurde wieder aufgehoben, aber noch laufen die
Verhandlungen darüber, was der UNHCR tun darf und was nicht. Derzeit ist
nur die Bearbeitung der aufgelaufenen Fälle möglich.
Bislang konnte die UNHCR-Vertretung in Tripolis mit 26 Mitarbeitern
(davon 24 Libyer) 300 Schutzsuchende im Monat registrieren und
durchschnittlich 128 Entscheidungen über die Zuerkennung des
Flüchtlingsstatus treffen. Zum 31. Januar 2010 befanden sich nach
Angaben des UNHCR 8951 Flüchtlinge und 3689 Asylsuchende in Libyen. Eine
geplante Aufstockung des Personals wird nun wohl erst einmal nicht
möglich sein. Da Libyen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht
ratifiziert hat, ist das Engagement des UNHCR ohnehin weiter von der
Gunst der Behörden abhängig. Die behandeln die Flüchtlinge nach wie vor
als »illegale Migranten«, die nach geltender Gesetzeslage unbegrenzt
inhaftiert werden können - ohne jemals vor ein Gericht gestellt zu werden.
In den Haftanstalten gibt es Mißhandlungen. Die Flüchtlinge kommen nur
durch Bestechung heraus oder werden trotz drohender Verfolgung in ihre
mutmaßlichen Herkunftsländer abgeschoben. Am 27. April 2010 hat daher
das Antifolterkomitee des Europarates die Zusammenarbeit Italiens mit
Libyen als Verstoß gegen die Menschenrechte gebrandmarkt. Libyen sei
kein sicheres Drittland. Die Praxis, Flüchtlinge auf dem offenen Meer
durch die Küstenwache abzufangen, müsse daher in Frage gestellt werden.
Denn den Betroffenen werde dadurch der vorgeschriebene Zugang zu einem
Asylverfahren verwehrt. Die Ausrede der italienischen Regierung, in den
untersuchten Fällen im Jahre 2009 hätte kein einziger Flüchtling einen
Asylantrag gestellt, ließ das Komitee nicht gelten. Dessen Leiter
Jean-Pierre Restellini stellte dazu fest: »Wie sollen Menschen einen
Asylantrag stellen, die völlig entkräftet von einem Schlauchboot
getragen werden müssen, weil sie ohne Wasser und Nahrungsmittel die
Fahrt über das Mittelmeer nur knapp überlebt haben?« Der UNHCR teilte im
Oktober 2009 mit, daß er bei den in diesem Jahr überprüften Vorgängen
206 der 890 von Italien nach Libyen zurückgewiesenen Menschen als
Flüchtlinge anerkannt habe. Dies zeigt deutlich, daß die von der EU
gebilligte italienische Kooperation mit Libyen den internationalen
rechtlichen Standards nicht entspricht.
Asyl als Lotteriespiel
Wenn die Bundesregierung beziehungsweise die EU an einer Änderung dieser
Lage ein Interesse hätte, müßte sie aktiv Änderungen der libyschen
Politik einfordern. Dazu gehört die unverzügliche Ratifizierung der
Genfer Flüchtlingskonvention durch Tripolis sowie die Verabschiedung
eines Asylgesetzes, das ein faires Asylverfahren sicherstellen kann.
Weitere Sofortmaßnahmen müßten sein: Freilassung anerkannter und
schutzsuchender Flüchtlinge; Einführung von Verfahren, mit denen die
Rechtmäßigkeit von Abschiebungsandrohungen überprüft wird; die
Abschaffung der Abschiebehaft oder zumindest die Festlegung einer
gesetzlichen Höchstdauer; Sicherung menschenwürdiger Umstände in allen
Haftanstalten; eine klare Regelung der Zulassung des UNHCR und anderer
Menschenrechtsorganisationen sowie deren ungehinderter Zugang zu Lagern
und Gefängnissen; unabhängige Untersuchungen der Foltervorwürfe;
Verfolgung und Bestrafung der für Menschenrechtsverletzungen
Verantwortlichen.
Von der libyschen Regierung müßte verlangt werden, von Abschiebungen
nach Eritrea und Somalia sofort Abstand zu nehmen. Italien müßte endlich
das Abfangen und Zurückweisen von Bootsflüchtlingen aus und nach Libyen
beenden und allen Personen, seien sie auch auf See abgefangen worden,
Zugang zu einem fairen Asylverfahren gewähren. Deutschland müßte sich
zur Aufnahme von schutzbedürftigen Flüchtlingen aus Libyen entsprechend
einem Aufnahmeprogramm des UNHCR bereiterklären.
Von der Bundesregierung und EU ist allerdings ein entschiedenes
Eintreten für solche Forderungen nicht zu erwarten - dieser Schritt
erforderte einen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik insgesamt. Im
Gegenteil, Berlin agiert sogar als aktiver Bremser in der EU. Mehrere
Asylrichtlinien werden derzeit in der sogenannten zweiten Phase des
gemeinsamen EU-Asylsystems überarbeitet. Die EU-Kommission hat
zahlreiche Änderungen vorgeschlagen, mit denen die gemeinsamen
Regelungen stärker vereinheitlicht werden sollen. Denn während
verbindlich geregelt ist, welches Land für Asylsuchende zuständig ist,
erinnern die erheblich voneinander abweichenden Asylanerkennungsquoten
in der EU eher an ein Lotteriespiel denn an ein rechtsstaatliches,
faires Verfahren. Das zuletzt im Stockholmer Programm proklamierte Ziel
höherer gemeinsamer Asylstandards ist vielen EU-Mitgliedstaaten - allen
voran der Bundesregierung - offensichtlich nichts mehr wert, wenn es um
die praktische Umsetzung geht.
Auf Kosten der EU-Randstaaten
Die derzeitige EU-Abschottungspolitik führt im übrigen auch zu
erheblichen Problemen in den Ländern mit EU-Außengrenzen. Denn eine
solidarische und gerechte Aufnahme von Hilfsbedürftigen ist im
EU-Konzept, das unter der Bezeichnung Dublin-II-Verordnung bekannt ist,
nicht vorgesehen. Vielmehr sind Asylverfahren in demjenigen Land
durchzuführen, in dem ein Flüchtling das Gebiet der EU zuerst betreten
hat, also überwiegend in den Randstaaten der EU.
Durch Dublin II »entlasten« sich im Zentrum der EU liegende Länder wie
Deutschland auf Kosten von Staaten wie Malta. Diese Mittelmeerinsel ist
über längere Zeit hinweg von der EU im Stich gelassen worden. Seit dem
Jahre 2002 sind auf Malta etwa 13000 Flüchtlinge angekommen, wovon 90
Prozent Asylanträge gestellt haben. 48 Prozent der Anträge wurden
abgelehnt, nur 240 Personen haben den Asylstatus erhalten. Etwas mehr
als die Hälfte der Antragsteller bekam allerdings einen humanitären
Schutzstatus. Aus dieser Gruppe wurde ein kleiner Teil im Rahmen eines
freiwilligen burden sharings von anderen Staaten aufgenommen, in
Deutschland bisher aber nur 31 Personen. Aktuell werden gerade etwa 100
anerkannte Flüchtlinge in ein Resettlement (»Neuansiedlungs«)-Programm
des UNHCR aufgenommen.
Von diesen 13000 Menschen, die seit 2002 auf Malta gelandet sind,
befinden sich schätzungsweise noch zwischen 4000 und 5000 Personen auf
der Insel. Es wird vermutet, daß etwa 6000 Menschen in Eigeninitiative
Malta in Richtung Zentraleuropa verlassen haben. Aus diesem
Personenkreis werden nach den Regeln von »Dublin II« etwa 500 in anderen
europäischen Ländern aufgegriffene Flüchtlinge jährlich nach Malta
zurückgeschoben. Damit können sich die Malteser nicht abfinden, die nach
wie vor auf einen gesamteuropäischen Ansatz mit gemeinsamen Aufnahme-
und Verteilungsprojekten setzen. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström
kündigte am 22. Juni 2010 in Brüssel an, daß derzeit die Ergebnisse
eines Pilotprojektes ausgewertet würden, durch das Malta bei der
Flüchtlingsaufnahme entlastet werden sollte. Es gebe »erhebliche
Unterschiede in der Asylpolitik«. Manche EU-Staaten würden sich »wegen
ihrer sehr restriktiven Gesetzgebung« einer fairen Lastenteilung
entziehen. Somit wird von der Kommissarin anerkannt, daß Malta zu Recht
die Haltung zentraleuropäischer Staaten in der Asylpolitik kritisiert.
Dies entschuldigt jedoch nicht, daß es auch auf Malta in den letzten
Jahren zu schweren Rechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen gekommen ist.
Rechtlos auf Malta
Entgegen internationaler Gesetze und Rechtsstandards wurden Migranten
und Asylsuchende nach Feststellungen von Amnesty International bei ihrer
Ankunft auf Malta inhaftiert. Die Europäische Kommission gegen Rassismus
und Intoleranz (ECRI) bewertete dies als eine Ursache für den Anstieg
von Rassismus und Intoleranz im Land. Ein im April 2009 veröffentlichter
Bericht von ECRI monierte, daß Asylsuchende bei ihrer Ankunft auf der
Insel keine ausreichende rechtliche Unterstützung und Information
erhielten. Den Asylsuchenden stand keine kostenlose Rechtsberatung zur
Verfügung, um einen ersten Asylantrag zu stellen. Sie konnten nur dann
einen Rechtsbeistand erhalten, wenn sie selbst für die Kosten aufkamen.
Alle Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus und Asylsuchende wurden
automatisch inhaftiert. Ende des Jahres 2008 befanden sich etwa 2050
Migranten in geschlossenen Haftzentren. Weitere 2100 Menschen waren in
offenen Einrichtungen untergebracht. Entgegen Artikel 5 der Europäischen
Menschenrechtskonvention war keine automatische richterliche Haftprüfung
vorgesehen. Ein Flüchtling namens Abrachman aus Somalia äußerte sich am
12. Juni 2010 auf tagesschau.de sehr kritisch zu den Bedingungen auf
Malta: »Unser Hauptproblem ist die Haft hier, eineinhalb Jahre sind
einfach zu viel. Und die behandeln mich wie ein Tier. Wir haben nicht
mal gutes Wasser. Schauen Sie doch mal unser Bad an. Wenn hier nachts
jemand ernsthaft krank wird, hat er Pech. Wir können an die Tür klopfen,
so lange wir wollen - wenn es ernst wäre, würde derjenige sicher sterben.«
Wegen der zwischen Italien und Libyen verabredeten Abschottungsmaßnahmen
kam es etwa seit Oktober 2009 auch auf Malta zu einem starken Rückgang
der Flüchtlingszahlen. Seither hat sich die durchschnittliche
Bearbeitungsdauer von Asylanträgen von zehn auf fünf Monate reduziert.
2010 sagte die maltesische Regierung auch die Frontex-Operation ab.
Dennoch sah Amnesty International Anlaß, auch im Jahresbericht 2010
deutliche Kritik zu üben. So gerieten Migranten und Asylsuchende durch
Verzögerungen bei Seerettungseinsätzen in Lebensgefahr. Nach wie vor
wurden sie entgegen internationalen Rechtsstandards bei der Ankunft
routinemäßig in Gewahrsam genommen. Die Haftbedingungen blieben
schlecht, trotz der Bemühungen der Behörden, in einigen Einrichtungen
Verbesserungen vorzunehmen.
Als markantes Beispiel für Verzögerungen bei der Reaktion auf Notrufe
nannte Amnesty International den Fall des türkischen Frachters »Pinar«.
Dieser drohte am 16. April 2009 mit 140 Personen an Bord südlich von
Sizilien zu sinken. Das Schiff wurde daran gehindert, einen maltesischen
oder italienischen Hafen anzulaufen, da keines der beiden Länder die
Verantwortung für die Geretteten übernehmen wollte. Die Betroffenen
saßen vier Tage lang mit zu wenig Nahrung und Wasser fest. Erst am 20.
April 2009 durften sie in Porto Empedocle in Italien von Bord gehen.
Schon zehn Tage später wurde ein Boot der maltesischen Küstenwache von
den italienischen Behörden daran gehindert, 66 Migranten und mögliche
Asylsuchende auf der italienischen Insel Lampedusa abzusetzen. Die
Menschen waren von einem tunesischen Fischerboot gerettet und innerhalb
der nach internationalen Übereinkommen Malta unterstehenden
Seenotrettungszone auf das maltesische Schiff gebracht worden. Trotzdem
weigerten sich die maltesischen Behörden anfangs, den Migranten und
Asylsuchenden Hilfe zu leisten oder sie auf maltesischem Staatsgebiet
von Bord gehen zu lassen, bis sie nach längeren Verhandlungen doch von
Malta aufgenommen wurden. Amnesty International monierte ferner, daß
gerichtliche Entscheidungen über Asylanträge und Inhaftierungen nur vor
der Berufungsstelle für Migranten angefochten werden können. Diese ist
jedoch nicht Teil des Justizsystems. Somit ist der internationale
Standard, der eine richterliche Überprüfung jeder Inhaftierung vorsieht,
nicht erfüllt.
»Home - ein sicherer Ort zum Neuanfang« lautete das diesjährige Motto
des von den Vereinten Nationen vor zehn Jahren ausgerufenen
Weltflüchtlingstags am 20. Juni. Doch weiterhin weigern sich die Staaten
der Europäischen Union, Flüchtlingen diesen sicheren Ort zu gewähren.
* Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im
Bundestag. Anfang Juni nahm sie an einer Reise des
Bundestagsinnenausschusses nach Malta und Libyen teil
Aus: junge Welt, 6. Juli 2010
Unheilvolle Kooperation
Hintergrund. Das Konzept der "Festung Europa" widerspricht humanitären
Standards. Flüchtlingspolitik am Beispiel Libyens und Maltas
Von Ulla Jelpke *
Unter der Leitung von Oberst Muammar Al-Ghaddafi führten 1969
panarabische und sozialrevolutionäre Offiziere einen Umsturz im
nordafrikanischen Königreich und ehemaligen italienischen
Kolonialgebiet Libyen herbei. 1977 wurde das Land zur sozialistischen
Volksrepublik auf Grundlage des Korans proklamiert. Offiziell ist
Libyen basisdemokratisch organisiert (auf lokaler und nationaler Ebene
existiert ein System von »Volksräten«), doch liegt die faktische Macht
bei »Revolutionsführer« Ghaddafi und dessen Sicherheitsdiensten. Erdöl-
und Erdgasvorkommen sind die Quellen des Wohlstandes. Obwohl Libyen
fünfmal so groß ist wie die Bundesrepublik, leben dort nur 6,3 Millionen
Menschen, davon 1,8 Millionen in der Hauptstadt Tripolis. Lange wurde
die »Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija« vom Westen
wegen ihrer Unterstützung von Guerilla- und Befreiungsbewegungen als
»Schurkenstaat« bekämpft. 1986 bombardierten US-Kampfflugzeuge Tripolis
und Bengasi. Nachdem Ghaddafi 1999 die Beteiligung libyscher Agenten am
Anschlag auf eine US-amerikanische Boeing 747 über dem schottischen
Lockerbie eingestand und 2003 den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen
erklärte, wurde ein Embargo des UN-Sicherheitsrates aufgehoben. Im
Gegenzug leitete Ghaddafi eine Teilprivatisierung der Wirtschaft ein und
öffnete das Land für ausländisches Kapital.
Bei der Durchsetzung ihres Konzepts einer »Festung Europa« spielt das in
den Kreis der »zivilisierten Nationen« zurückgekehrte autoritäre
libysche Regime für die EU eine Schlüsselrolle. Zentral für die
europäische Abschottungspolitik ist vor allem die Entwicklung enger
Beziehungen zwischen Libyen und seiner ehemaligen Kolonialmacht Italien.
Libyen stand bis 2009 in der Kritik der EU, weil es als Transitland der
»illegalen« Migration nach Europa galt. Kriege, Bürgerkriege und extreme
Armut sind der Antrieb für Tausende verzweifelter Menschen aus Somalia,
Eritrea, dem Sudan und anderen afrikanischen Ländern, das Risiko einer
Überfahrt von Libyen über das Mittelmeer auf unzureichenden kleinen
Booten auf sich zu nehmen. In der EU wird ignoriert, daß diese
Flüchtlingsbewegungen die Reaktion darauf sind, daß Afrika durch eine
neokolonialistische Wirtschaftspolitik des Westens immer mehr verarmt
und die Menschen für sich dort keine Perspektive sehen. Statt die
Fluchtursachen zu beseitigen, begann insbesondere Berlusconis Italien,
Tripolis zu einer Kooperation zu bewegen, die ausschließlich auf Abwehr
und Abschiebung der in Europa Schutz suchenden Afrikaner gerichtet ist.
Seither haben die Transitwege von Libyen nach Malta oder zur kleinen
italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa an Bedeutung verloren. Die
Flüchtlinge wurden somit gezwungen, auf neue, gefährlichere Routen
auszuweichen. Ende 2009 entschied Ministerpräsident Silvio Berlusconi,
daß das Auffanglager Lampedusa geschlossen werden könne, was nunmehr
auch geschehen ist, da keine Flüchtlinge mehr dort ankamen.
Vorposten der Festung Europa
Seit Mai 2009 geht Tripolis gegen »Schleuser« aktiv vor. Italien und
Libyen führen gemeinsame Patrouillenfahrten vor der libyschen Küste
durch. Ebenfalls seit Mai 2009 führt Italien Migranten, die auf hoher
See aufgegriffen werden, umgehend nach Libyen zurück. Und 2009 wurde ein
bilateraler Freundschaftsvertrag zwischen Tripolis und Rom ratifiziert.
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist sehr eng. Italien leistet
finanzielle Hilfen, etwa für den Bau einer Küstenautobahn durch
vorwiegend italienische Firmen. Berlusconi durfte Ende März 2010 auf
Einladung Ghaddafis sogar als Gastredner auf der Gipfelkonferenz der
Arabischen Liga sprechen. Die Flüchtlingsabwehr ist integraler
Bestandteil der Kooperation beider Staaten. Von der italienischen
Regierung wird all dies als »Erfolg« verkauft, obwohl die Maßnahmen zur
Abschiebung von Flüchtlingen im Widerspruch zum internationalen Recht
stehen.
Es existiert aber nicht nur eine besondere Beziehung Libyens zur
ehemaligen Kolonialmacht Italien. Vielmehr arbeitet die EU insgesamt
seit 2004 in Fragen der Flüchtlingsabwehr eng mit Tripolis zusammen.
Gegen finanzielle Zusicherungen zeigte sich Libyen bereit, die Funktion
eines Vorpostens der Festung Europa einzunehmen. Nicht von ungefähr
brachte Exbundesinnenminister Otto Schily (SPD) bereits in der Zeit der
rot-grünen Koalition die Idee von »Auffanglagern« in Nordafrika in die
Diskussion.
Deutschland betreibt nicht nur seit langem die Abschottungspolitik der
EU aktiv mit, sondern ist auch konkret bei der Flüchtlingsabwehr der
sogenannten EU-Grenzschutzagentur Frontex beteiligt. Deutsche Helikopter
helfen beispielsweise mit, Flüchtlingsboote aufzuspüren. Auf diese Weise
wurde im Juni 2009 erstmals unter deutscher Beteiligung ein
Flüchtlingsboot südlich von Lampedusa entdeckt, von italienischen
Küstenschiffen aufgebracht und schließlich der libyschen Küstenwache
übergeben. Auch durch Maltas Küstenwache wurden Flüchtlingsboote zur
Rückkehr nach Tripolis gezwungen. Dies ist unter menschenrechtlichem
Aspekt schon deshalb ein Skandal, weil Libyen die Genfer
Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat. Internationale
Flüchtlingsorganisationen haben keine Möglichkeit, dort tätig zu sein.
Eine Ausnahme gilt nur für die IOM (Internationale Organisation für
Migration), deren Aufgabe aber nur darin besteht, freiwillig
ausreisenden Migranten behilflich zu sein. Libyen kennt kein nationales
Asylrecht. Die Einhaltung eines Mindestschutzstandards ist nicht
gewährleistet. Daher werden Menschen ohne Papiere festgenommen und
inhaftiert. Kaum jemand hat die Chance, über Resettlementprogramme nach
einer Anerkennung durch das UN-Flüchtlingshilfswerk doch noch in
westlichen Industrienationen aufgenommen zu werden.
Flüchtlinge in Libyen sind insgesamt schutzlos, das gilt insbesondere
für allein reisende Frauen und unbegleitete Minderjährige. Sie sind
schweren Mißhandlungen, Folter und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt
- sowohl durch Kriminelle als auch durch Polizei und Militär. In
mindestens achtzehn Haftanstalten befinden sich etwa 7000 bis 9000
Flüchtlinge. Die Zellen sind überfüllt, es fehlt an medizinischer
Versorgung. Frauen sind Opfer von Vergewaltigungen. Die Flüchtlinge
erhalten kaum Kontakt zu Anwälten, sondern sind der Willkür der Behörden
ausgeliefert. Praktisch befinden sie sich in einer Abschiebehaft ohne
zeitliche Begrenzung und können meist nur entkommen, wenn Verwandte
Bestechungsgelder schicken. Die Generalsekretärin von Amnesty
International in Deutschland, Monika Lüke, berichtet von Flüchtlingen,
die von libyschen Sicherheitskräften ohne Wasser und Nahrung in der
Wüste ausgesetzt wurden.
Unklarer Status des UNHCR
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hatte nur
durch die Kooperation mit einer libyschen Organisation (der
»International Organization für Peace, Care and Relief«, IOPCR) Zugang
zu den meisten Haftanstalten. Ein zwischenzeitlich geltendes
Betätigungsverbot wurde wieder aufgehoben, aber noch laufen die
Verhandlungen darüber, was der UNHCR tun darf und was nicht. Derzeit ist
nur die Bearbeitung der aufgelaufenen Fälle möglich.
Bislang konnte die UNHCR-Vertretung in Tripolis mit 26 Mitarbeitern
(davon 24 Libyer) 300 Schutzsuchende im Monat registrieren und
durchschnittlich 128 Entscheidungen über die Zuerkennung des
Flüchtlingsstatus treffen. Zum 31. Januar 2010 befanden sich nach
Angaben des UNHCR 8951 Flüchtlinge und 3689 Asylsuchende in Libyen. Eine
geplante Aufstockung des Personals wird nun wohl erst einmal nicht
möglich sein. Da Libyen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht
ratifiziert hat, ist das Engagement des UNHCR ohnehin weiter von der
Gunst der Behörden abhängig. Die behandeln die Flüchtlinge nach wie vor
als »illegale Migranten«, die nach geltender Gesetzeslage unbegrenzt
inhaftiert werden können - ohne jemals vor ein Gericht gestellt zu werden.
In den Haftanstalten gibt es Mißhandlungen. Die Flüchtlinge kommen nur
durch Bestechung heraus oder werden trotz drohender Verfolgung in ihre
mutmaßlichen Herkunftsländer abgeschoben. Am 27. April 2010 hat daher
das Antifolterkomitee des Europarates die Zusammenarbeit Italiens mit
Libyen als Verstoß gegen die Menschenrechte gebrandmarkt. Libyen sei
kein sicheres Drittland. Die Praxis, Flüchtlinge auf dem offenen Meer
durch die Küstenwache abzufangen, müsse daher in Frage gestellt werden.
Denn den Betroffenen werde dadurch der vorgeschriebene Zugang zu einem
Asylverfahren verwehrt. Die Ausrede der italienischen Regierung, in den
untersuchten Fällen im Jahre 2009 hätte kein einziger Flüchtling einen
Asylantrag gestellt, ließ das Komitee nicht gelten. Dessen Leiter
Jean-Pierre Restellini stellte dazu fest: »Wie sollen Menschen einen
Asylantrag stellen, die völlig entkräftet von einem Schlauchboot
getragen werden müssen, weil sie ohne Wasser und Nahrungsmittel die
Fahrt über das Mittelmeer nur knapp überlebt haben?« Der UNHCR teilte im
Oktober 2009 mit, daß er bei den in diesem Jahr überprüften Vorgängen
206 der 890 von Italien nach Libyen zurückgewiesenen Menschen als
Flüchtlinge anerkannt habe. Dies zeigt deutlich, daß die von der EU
gebilligte italienische Kooperation mit Libyen den internationalen
rechtlichen Standards nicht entspricht.
Asyl als Lotteriespiel
Wenn die Bundesregierung beziehungsweise die EU an einer Änderung dieser
Lage ein Interesse hätte, müßte sie aktiv Änderungen der libyschen
Politik einfordern. Dazu gehört die unverzügliche Ratifizierung der
Genfer Flüchtlingskonvention durch Tripolis sowie die Verabschiedung
eines Asylgesetzes, das ein faires Asylverfahren sicherstellen kann.
Weitere Sofortmaßnahmen müßten sein: Freilassung anerkannter und
schutzsuchender Flüchtlinge; Einführung von Verfahren, mit denen die
Rechtmäßigkeit von Abschiebungsandrohungen überprüft wird; die
Abschaffung der Abschiebehaft oder zumindest die Festlegung einer
gesetzlichen Höchstdauer; Sicherung menschenwürdiger Umstände in allen
Haftanstalten; eine klare Regelung der Zulassung des UNHCR und anderer
Menschenrechtsorganisationen sowie deren ungehinderter Zugang zu Lagern
und Gefängnissen; unabhängige Untersuchungen der Foltervorwürfe;
Verfolgung und Bestrafung der für Menschenrechtsverletzungen
Verantwortlichen.
Von der libyschen Regierung müßte verlangt werden, von Abschiebungen
nach Eritrea und Somalia sofort Abstand zu nehmen. Italien müßte endlich
das Abfangen und Zurückweisen von Bootsflüchtlingen aus und nach Libyen
beenden und allen Personen, seien sie auch auf See abgefangen worden,
Zugang zu einem fairen Asylverfahren gewähren. Deutschland müßte sich
zur Aufnahme von schutzbedürftigen Flüchtlingen aus Libyen entsprechend
einem Aufnahmeprogramm des UNHCR bereiterklären.
Von der Bundesregierung und EU ist allerdings ein entschiedenes
Eintreten für solche Forderungen nicht zu erwarten - dieser Schritt
erforderte einen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik insgesamt. Im
Gegenteil, Berlin agiert sogar als aktiver Bremser in der EU. Mehrere
Asylrichtlinien werden derzeit in der sogenannten zweiten Phase des
gemeinsamen EU-Asylsystems überarbeitet. Die EU-Kommission hat
zahlreiche Änderungen vorgeschlagen, mit denen die gemeinsamen
Regelungen stärker vereinheitlicht werden sollen. Denn während
verbindlich geregelt ist, welches Land für Asylsuchende zuständig ist,
erinnern die erheblich voneinander abweichenden Asylanerkennungsquoten
in der EU eher an ein Lotteriespiel denn an ein rechtsstaatliches,
faires Verfahren. Das zuletzt im Stockholmer Programm proklamierte Ziel
höherer gemeinsamer Asylstandards ist vielen EU-Mitgliedstaaten - allen
voran der Bundesregierung - offensichtlich nichts mehr wert, wenn es um
die praktische Umsetzung geht.
Auf Kosten der EU-Randstaaten
Die derzeitige EU-Abschottungspolitik führt im übrigen auch zu
erheblichen Problemen in den Ländern mit EU-Außengrenzen. Denn eine
solidarische und gerechte Aufnahme von Hilfsbedürftigen ist im
EU-Konzept, das unter der Bezeichnung Dublin-II-Verordnung bekannt ist,
nicht vorgesehen. Vielmehr sind Asylverfahren in demjenigen Land
durchzuführen, in dem ein Flüchtling das Gebiet der EU zuerst betreten
hat, also überwiegend in den Randstaaten der EU.
Durch Dublin II »entlasten« sich im Zentrum der EU liegende Länder wie
Deutschland auf Kosten von Staaten wie Malta. Diese Mittelmeerinsel ist
über längere Zeit hinweg von der EU im Stich gelassen worden. Seit dem
Jahre 2002 sind auf Malta etwa 13000 Flüchtlinge angekommen, wovon 90
Prozent Asylanträge gestellt haben. 48 Prozent der Anträge wurden
abgelehnt, nur 240 Personen haben den Asylstatus erhalten. Etwas mehr
als die Hälfte der Antragsteller bekam allerdings einen humanitären
Schutzstatus. Aus dieser Gruppe wurde ein kleiner Teil im Rahmen eines
freiwilligen burden sharings von anderen Staaten aufgenommen, in
Deutschland bisher aber nur 31 Personen. Aktuell werden gerade etwa 100
anerkannte Flüchtlinge in ein Resettlement (»Neuansiedlungs«)-Programm
des UNHCR aufgenommen.
Von diesen 13000 Menschen, die seit 2002 auf Malta gelandet sind,
befinden sich schätzungsweise noch zwischen 4000 und 5000 Personen auf
der Insel. Es wird vermutet, daß etwa 6000 Menschen in Eigeninitiative
Malta in Richtung Zentraleuropa verlassen haben. Aus diesem
Personenkreis werden nach den Regeln von »Dublin II« etwa 500 in anderen
europäischen Ländern aufgegriffene Flüchtlinge jährlich nach Malta
zurückgeschoben. Damit können sich die Malteser nicht abfinden, die nach
wie vor auf einen gesamteuropäischen Ansatz mit gemeinsamen Aufnahme-
und Verteilungsprojekten setzen. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström
kündigte am 22. Juni 2010 in Brüssel an, daß derzeit die Ergebnisse
eines Pilotprojektes ausgewertet würden, durch das Malta bei der
Flüchtlingsaufnahme entlastet werden sollte. Es gebe »erhebliche
Unterschiede in der Asylpolitik«. Manche EU-Staaten würden sich »wegen
ihrer sehr restriktiven Gesetzgebung« einer fairen Lastenteilung
entziehen. Somit wird von der Kommissarin anerkannt, daß Malta zu Recht
die Haltung zentraleuropäischer Staaten in der Asylpolitik kritisiert.
Dies entschuldigt jedoch nicht, daß es auch auf Malta in den letzten
Jahren zu schweren Rechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen gekommen ist.
Rechtlos auf Malta
Entgegen internationaler Gesetze und Rechtsstandards wurden Migranten
und Asylsuchende nach Feststellungen von Amnesty International bei ihrer
Ankunft auf Malta inhaftiert. Die Europäische Kommission gegen Rassismus
und Intoleranz (ECRI) bewertete dies als eine Ursache für den Anstieg
von Rassismus und Intoleranz im Land. Ein im April 2009 veröffentlichter
Bericht von ECRI monierte, daß Asylsuchende bei ihrer Ankunft auf der
Insel keine ausreichende rechtliche Unterstützung und Information
erhielten. Den Asylsuchenden stand keine kostenlose Rechtsberatung zur
Verfügung, um einen ersten Asylantrag zu stellen. Sie konnten nur dann
einen Rechtsbeistand erhalten, wenn sie selbst für die Kosten aufkamen.
Alle Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus und Asylsuchende wurden
automatisch inhaftiert. Ende des Jahres 2008 befanden sich etwa 2050
Migranten in geschlossenen Haftzentren. Weitere 2100 Menschen waren in
offenen Einrichtungen untergebracht. Entgegen Artikel 5 der Europäischen
Menschenrechtskonvention war keine automatische richterliche Haftprüfung
vorgesehen. Ein Flüchtling namens Abrachman aus Somalia äußerte sich am
12. Juni 2010 auf tagesschau.de sehr kritisch zu den Bedingungen auf
Malta: »Unser Hauptproblem ist die Haft hier, eineinhalb Jahre sind
einfach zu viel. Und die behandeln mich wie ein Tier. Wir haben nicht
mal gutes Wasser. Schauen Sie doch mal unser Bad an. Wenn hier nachts
jemand ernsthaft krank wird, hat er Pech. Wir können an die Tür klopfen,
so lange wir wollen - wenn es ernst wäre, würde derjenige sicher sterben.«
Wegen der zwischen Italien und Libyen verabredeten Abschottungsmaßnahmen
kam es etwa seit Oktober 2009 auch auf Malta zu einem starken Rückgang
der Flüchtlingszahlen. Seither hat sich die durchschnittliche
Bearbeitungsdauer von Asylanträgen von zehn auf fünf Monate reduziert.
2010 sagte die maltesische Regierung auch die Frontex-Operation ab.
Dennoch sah Amnesty International Anlaß, auch im Jahresbericht 2010
deutliche Kritik zu üben. So gerieten Migranten und Asylsuchende durch
Verzögerungen bei Seerettungseinsätzen in Lebensgefahr. Nach wie vor
wurden sie entgegen internationalen Rechtsstandards bei der Ankunft
routinemäßig in Gewahrsam genommen. Die Haftbedingungen blieben
schlecht, trotz der Bemühungen der Behörden, in einigen Einrichtungen
Verbesserungen vorzunehmen.
Als markantes Beispiel für Verzögerungen bei der Reaktion auf Notrufe
nannte Amnesty International den Fall des türkischen Frachters »Pinar«.
Dieser drohte am 16. April 2009 mit 140 Personen an Bord südlich von
Sizilien zu sinken. Das Schiff wurde daran gehindert, einen maltesischen
oder italienischen Hafen anzulaufen, da keines der beiden Länder die
Verantwortung für die Geretteten übernehmen wollte. Die Betroffenen
saßen vier Tage lang mit zu wenig Nahrung und Wasser fest. Erst am 20.
April 2009 durften sie in Porto Empedocle in Italien von Bord gehen.
Schon zehn Tage später wurde ein Boot der maltesischen Küstenwache von
den italienischen Behörden daran gehindert, 66 Migranten und mögliche
Asylsuchende auf der italienischen Insel Lampedusa abzusetzen. Die
Menschen waren von einem tunesischen Fischerboot gerettet und innerhalb
der nach internationalen Übereinkommen Malta unterstehenden
Seenotrettungszone auf das maltesische Schiff gebracht worden. Trotzdem
weigerten sich die maltesischen Behörden anfangs, den Migranten und
Asylsuchenden Hilfe zu leisten oder sie auf maltesischem Staatsgebiet
von Bord gehen zu lassen, bis sie nach längeren Verhandlungen doch von
Malta aufgenommen wurden. Amnesty International monierte ferner, daß
gerichtliche Entscheidungen über Asylanträge und Inhaftierungen nur vor
der Berufungsstelle für Migranten angefochten werden können. Diese ist
jedoch nicht Teil des Justizsystems. Somit ist der internationale
Standard, der eine richterliche Überprüfung jeder Inhaftierung vorsieht,
nicht erfüllt.
»Home - ein sicherer Ort zum Neuanfang« lautete das diesjährige Motto
des von den Vereinten Nationen vor zehn Jahren ausgerufenen
Weltflüchtlingstags am 20. Juni. Doch weiterhin weigern sich die Staaten
der Europäischen Union, Flüchtlingen diesen sicheren Ort zu gewähren.
* Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im
Bundestag. Anfang Juni nahm sie an einer Reise des
Bundestagsinnenausschusses nach Malta und Libyen teil.
Aus: junge Welt, 6. Juli 2010
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