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Die Macht der Zentralbank

Ökonomie. Die EZB finanziert vernünftigerweise schwächelnde europäische Staaten. Problematisch ist dabei die Ausrichtung auf die Vorteile der Gläubigerbanken

Von Lucas Zeise *

Mario Draghi hat das erste Jahr seiner Amtszeit mit Schwung begonnen. Der frühere Banker – bei der bedeutendsten Investmentbank der Welt, Goldman Sachs – war am 1. November 2011 zum Präsidenten der Europäischen Zentralbank ernannt worden. Schon in der ersten Sitzung des Zentralbankrates, die unter seinem Vorsitz stattfand, wurde eine Leitzinssenkung beschlossen. Noch 2011 beschloß die EZB, den Geschäftsbanken in der Euro-Zone zum ersten Mal in der Geschichte drei Jahre laufende Kredite zum niedrigen allgemeinen Leitzins von damals ein Prozent zu gewähren. In zwei Versteigerungen wurden auf diese Weise gut zwei Billionen Euro frisches Geld in den Bankensektor geschafft. Das stabilisierte die Banken und half den Euro-Staaten des Südens, denen die Banken dringend benötigtes Geld leihen konnten.

Anfang des Sommers lieferte Draghi ein Meisterstück ab. Er versprach öffentlich, daß die EZB wieder Staatsanleihen der Euro-Länder kaufen werde, die Probleme hatten, vom Finanzmarkt frisches Geld zu bekommen. Eigentlich war das nichts Neues. Schon unter Draghis Vorgänger Jean-Claude Trichet hatte die EZB Anleihen Italiens, Spaniens, Irlands, Portugals und Griechenlands im nicht gerade kümmerlichen Gesamtvolumen von über 200 Milliarden Euro erworben. Das Neue an Draghis öffentlichem Bekenntnis bestand darin, daß er betonte, der Kauf von Staatsanleihen werde unbegrenzt stattfinden. Er löste damit eine politische Kontroverse aus. Vor allem aber erreichte er, daß die Kurse der Staatsanleihen der Südländer sich erholten (also ihre Renditen oder Zinsen sanken), ohne daß die EZB einen einzigen Euro ausgegeben hatte.

Darin besteht die wahre Kunst des großen Zentralbankers: Sein Wort genügt, und die Finanzmärkte folgen ihm. Zuletzt hatte man Alan Greenspan von der US-Notenbank Federal Reserve diese magische Fähigkeit zugetraut. Auch er hatte in einer – nur im historischen Rückblick kleinen – Finanzkrise, dem Crash vom Oktober 1987 diese Fähigkeit des Wortes ausprobiert und damit Erfolg gehabt. Jede Bank werde unbegrenzt Kredit von der Notenbank erhalten, war seine Aussage damals. Der Börsenpanik folgte damit eben keine Bankenpanik, und der Crash wurde eingedämmt. Es folgte der längste, ungebrochene Börsenboom der Geschichte, der immer wieder von Worten des großen Meisters und immer mal wieder echten Geldschüben der Notenbank angeheizt wurde.

Die Krise, mit der Draghi es jetzt zu tun hat, ist erheblich größer und erheblich komplexer. Der Zustand der Weltwirtschaft und der Finanzmärkte ist nicht mehr so, daß sie nur mit der Aussicht auf mehr Geld von der Notenbank zu einer großen Spekulationswoge fähig sind. Zudem muß sich Draghi im Dschungel einer fehlerhaft konstruierten Währungsunion zurechtfinden. Schließlich muß er sich als Diplomat betätigen. Denn er hat es mit Opposition im eigenen Hause zu tun. Sie kommt ausgerechnet aus dem Land, das die Politik der EZB bisher wesentlich bestimmt hat, und sie kommt von der stärksten und mächtigsten der Euro-Zentralbanken, die zusammen die EZB tragen, nämlich von der Deutschen Bundesbank.

Als Diplomat und Chef einer internationalen großen Institution hat Draghi von Anfang an großes Geschick bewiesen. Anders als sein Vorgänger, der bei Amtsantritt die ihm wichtig scheinenden Positionen mit eigenen Leuten besetzte, hat Draghi alles beim alten gelassen und sich damit bei der Belegschaft der EZB beliebt gemacht. Er hat dem von Berlin ins Direktorium entsandten und für den Posten des Chefvolkswirts der EZB vorgesehenen Jörg Asmussen, einen extrem geschmeidigen Politiker, der im Fach Volkswirtschaft nicht einmal nach Berliner Maßstäben besonders befähigt war, statt des wichtigen Volkswirtpostens das Ressort Außenbeziehungen zugeschanzt. Da kann Asmussen diplomatisch glänzen, und die Berliner Regierung mußte nicht wegen dieser Mindereinstufung ihres Kandidaten beleidigt sein.

Erzneoliberaler Bundesbankkurs

Schon als unter Trichet der Zentralbankrat entschied, die Pleite einiger Euro-Staaten abzuwenden und Anleihen besonders notleidender Euro-Staaten preisstützend aufzukaufen – das war Frühjahr 2010 – kam Opposition von der Bundesbank. Ihr damaliger Chef, ein gewisser Axel Weber, machte sich Hoffnung, selbst Nachfolger Trichets zu werden. Tatsächlich wollte die Bundesregierung damals einen Deutschen, also nach Lage der Dinge Weber, als EZB-Chef installieren. Als Chef der wichtigsten Zentralbank des Euro-Systems hatte Weber die EZB schon dazu getrieben, wider jegliche Notenbankervernunft zu Beginn der Weltwirtschaftskrise im Frühjahr 2008 die Zinsen zu erhöhen. Er versuchte, sich zu profilieren, indem er eine ultraorthodoxe Position einnahm und diese – ganz gegen das übliche Gebaren der sich diskret gebenden Zentralbanker – auch öffentlich verkündete. Die Mehrheit des Zentralbankrates, der das oberste Gremium der Notenbank darstellt und sich aus den 17 Präsidenten der am Euro teilnehmenden nationalen Notenbanken sowie den sechs Mitgliedern des Direktoriums besteht, folgte nicht Webers, sondern Trichets Linie.

Angesichts dessen zog Merkel ihre Unterstützung für Webers Kandidatur als künftiger Präsident der EZB zurück. Weber gab beleidigt sogar das Amt des Präsidenten der Bundesbank auf und wechselte zur Schweizer Großbank UBS. Frau Merkel installierte als Webers Nachfolger ihren bis zu diesem Zeitpunkt engsten Berater in Wirtschafts- und Finanzfragen, den erzneoliberalen Jens Weidmann. Weidmann setzte Webers Linie unvermindert fort. Allerdings ließ Trichet in der Schlußphase seiner EZB-Präsidentschaft das Staatsanleihekaufprogramm auslaufen, und Draghi setzte, wie oben berichtet, in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft auf andere Mittel. Erst als deren Wirksamkeit sich minderte und im Frühjahr 2012 Italien, besonders aber Spanien, große Probleme bei der Refinanzierung ihrer Staatsschulden hatten, mit kräftig steigenden Zinsen konfrontiert waren und tiefer in die Rezession schlitterten, holte auch Draghi das Instrument des Staatsanleihekaufs wieder heraus. Er versicherte sich der Unterstützung der Berliner Regierung in dieser Frage. Als Bundesbankpräsident Weidmann, ganz wie Weber vor ihm öffentlich dagegen aufmuckte, versicherte ihm Merkel ganz generell ihre Unterstützung, machte aber zugleich deutlich, daß sie Draghi gewähren lassen wollte.

Es folgte eine hitzige Debatte in der deutschen Öffentlichkeit. Dabei wurden auf beiden Seiten die eigenartigsten Argumente vorgebracht. Sowohl auf der Rechten als auch der Linken waren die Lager gespalten. Rechts verlief die Front der Argumente etwa entlang der Linie Weidmann/Draghi. Wobei die Weidmann-Position auf den neoliberalen Prinzipien beharrt, wonach die Staatsfinanzierung durch die Notenbank den Druck von der Politik nimmt, verantwortungsvoll mit dem Steuergeld umzugehen und damit langfristig der Geldentwertung Vorschub leistet. Die Linie Draghis dagegen lautet schlicht, daß man in der Stunde der Not mit Prinzipien nicht weiterkommt und daß im Interesse der Euro-Rettung die Zwischenfinanzierung der Staaten durch die Notenbank als Notbehelf vorübergehend erforderlich sei.

Kontroversen bei den Linken

Auch auf der Linken waren und sind die Meinungen gespalten. Von den einen werden die angekündigten Staatsanleihekäufe als »ganz richtig« (Rudolf Hickel, Memorandum-Gruppe), als »entscheidender Schritt zur Überwindung der Krise« (Gustav Horn, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung) oder mit »zu begrüßen« (Axel Troost, stellvertretender Parteivorsitzender Die Linke) bezeichnet. Andere beschweren sich darüber, daß mit den Staatsanleihekäufen »die EZB zur Giftmüllhalde für toxische Wertpapiere mutiert«, so die stellvertretende Parteivorsitzende der Linken Sahra Wagenknecht. Ähnlich argumentiert auch Andreas Wehr, aus dessen in anderer Hinsicht ausgezeichneten Artikel in der jungen Welt (vom 13.10.2012) die meisten der obigen Zitate entnommen sind. Wehr hält die Käufe von Staatsanleihen für eine »gigantische Sozialisierung privater Verluste«.

Natürlich werden die kurzen Zitate den differenzierten Positionen in der Sache nicht wirklich gerecht. Um eine Übersicht zu gewinnen, ist es sinnvoll, einen Blick auf die Finanzmärkte zu werfen und sich damit zu befassen, was es mit dem Verbot der Staatsfinanzierung durch die Zentralbank in Euro-Europa auf sich hat. Dieses Verbot gibt es tatsächlich; es ist in Verträgen zur Währungsunion, beginnend mit dem Maastricht-Vertrag, festgelegt.

Vorteil: Nationale Währung

Weil es dieses Verbot gibt, werden Griechenland, Italien und Spanien auf dem internationalen Markt für Staatsanleihen viel schlechter behandelt als Großbritannien, Japan und die USA. Das hat mit dem Zustand der Staatsfinanzen in diesen Ländern herzlich wenig zu tun, sondern damit, daß die Regierungen der drei letztgenannten Länder sich in einer Währung, nämlich der eigenen, verschulden können, von der sie über einen unbegrenzten Vorrat verfügen, aus dem sie die Gläubiger jederzeit bezahlen können. Diese müssen also den Konkursfall dieser Länder nicht wirklich fürchten. Sollte tatsächlich einmal dem Schatzkanzler Ihrer britischen Majestät das Geld fehlen, um die Zinsen einer Anleihe oder sogar den Kapitalbetrag der Anleihe selbst zurückzahlen zu können, so hat er kein Problem, bei der Bank von England einen Zwischenkredit in der benötigten Menge an Pfund Sterling zu erhalten und diesen Betrag einfach weiterzureichen.

Die Währung, über die diese Regierungen verfügen, muß dabei als internationales Zahlungsmittel anerkannt sein und über eine gewisse Bonität verfügen. Man kann sich tatsächlich fragen, wie es kommt, daß Pfund, Dollar und Yen in diesem Sinne auf dem Kapitalmarkt immer noch soviel gelten – angesichts des jammervollen Zustandes etwa der britischen Wirtschaft und der langen Geschichte von Pfund-Abwertungen, angesichts der ungeheuren Dollar-Vermehrung, den die US-Notenbank betrieben hat und angesichts der sensationell hohen Staatsverschuldung Japans. Jedoch sind anderswo die Zustände kaum besser. Das dürfte der Hauptgrund dafür sein, daß Geld in diesen drei großen Währungen immer noch akzeptiert wird.

Auch die meisten anderen Länder verfügen über die Hoheit, Geld in eigener Währung zur Befriedigung ihrer Gläubiger in beliebiger Menge herzustellen. Das ist aber nur manchmal von Nutzen. Es kommt da auf das Urteil der Finanzmärkte über die Zahlungsfähigkeit dieser Länder, ihre »Bonität« und über die Stabilität ihrer Währung an. Letzteres ist ein Urteil darüber, ob die Währung am Devisenmarkt künftig auf- oder abwertet. Länder mit aufwertungsverdächtigen Währungen, zur Zeit zum Beispiel die Schweiz und Norwegen, haben kein Problem damit, billiges Geld am Kapitalmarkt aufnehmen zu können. Anderes gilt für abwertungsverdächtige Länder. Wenn sie am Kapitalmarkt Geld aufnehmen wollen, können sie das zwar in eigener Währung tun, doch müssen sie dann enorm hohe Zinsen bieten, weil die Anleihekäufer – zu recht oder nicht – eine Abwertung befürchten. Aus ihrer Sicht besteht in der Tat die Gefahr, daß die von der eigenen Zentralbank ausgegebene Währung an Wert und Wertschätzung am internationalen Kapital- bzw. Devisenmarkt verliert, wenn sie zu häufig und freizügig zum Zweck der Schuldentilgung aus dem Nichts geschöpft wird. Diese Erfahrung mußte die junge Weimarer Republik machen, als sie die Kriegsschulden mit immer mehr frisch geschaffenen Reichsmark begleichen wollte. Der Kurssturz der Reichsmark gegenüber anderen Währungen führte bekanntlich zur beispiellosen Inflation.

So also sieht die Hierarchie der Staaten am Finanzmarkt aus. Die Länder der Euro-Zone haben sich mit der Entscheidung für den Euro in die Reihe der Parias begeben, jener Länder also, die nicht in eigener Währung Schulden aufnehmen können. Gerade dafür sorgt das Staatsfinanzierungsverbot, das – wiederum wesentlich auf Betreiben der deutschen Regierung Kohl und der Deutschen Bundesbank – in den Verträgen zur Währungsunion und zur EZB verankert wurde. Das Staatsfinanzierungsverbot galt auch in der Bundesrepublik vor dem Euro – allerdings in milderer Form als heute. Selbstverständlich stand die Bundesbank bereit, um kurzfristige Zahlungen des Bundes oder seiner großen Staatsunternehmen Bahn und Post zwischenzufinanzieren. Die Bundesbank war schließlich auch Agentin des Bundes bei der Ausgabe von Anleihen. Ob es aufrechterhalten worden wäre, hätte eine Schulden- oder Zahlungsbilanzkrise die BRD heimgesucht, kann man nicht wissen.

Finanzierung durch Notenbank

Das Staatsfinanzierungsverbot für die Notenbank ist eines jener neoliberalen Prinzipien, deren Wirkung die Banken und den Finanzsektor stärkt und umgekehrt den Staat als wirtschaftlichen Akteur in seiner Handlungsfreiheit einengt. Denn die Regierungen sind so gezwungen, sich Defizite von den Banken und/oder den Käufern ihrer Staatsanleihen finanzieren zu lassen. Das macht selbst in normalen Zeiten die Angelegenheit für den Staat und den Steuerzahler teuer, in Finanzkrisenzeiten kann es sehr teuer, ja unerschwinglich werden.

Es besteht umgekehrt kein Grund, von der Staatsfinanzierung durch die Notenbank besondere Nachteile für Steuerzahler, Konsumenten und/oder Lohnabhängige zu befürchten. Unter den zwei Varianten der Staatsfinanzierung, nämlich die über den Finanzmarkt oder die über die Notenbank, ist letztere allemal vorzuziehen. Der Vorwurf, die Notenbank werde damit zur »Müllhalde abgewerteter staatlicher Schuldpapiere«, wie ihn Wehr im oben genannten Artikel erhebt, trifft weder im allgemeinen, ja nicht einmal in diesem speziellen Fall des Kaufs von Staatsanleihen von bereits in Zahlungsschwierigkeiten befindlicher Staaten zu. Wie bei der letzten Kaufrunde wird die EZB auch dieses Mal die staatlichen Schuldpapiere mit Preisen erheblich unter pari, also mit einem gehörigen Abschlag zum Ausgabekurs, erwerben. Und generell gilt, daß die Staaten immer noch die vergleichsweise besten Schuldner sind. Das übliche Geschäft der Notenbank, die Kredite an die privaten Banken zu vergeben, führt jedenfalls dazu, daß die Bilanz der Notenbank mit sehr viel risikoreicheren Krediten und Bankanleihen vollgestopft wird.

Weil – vor allem von rechter Seite – das Argument vorgebracht wird, die Staatsfinanzierung durch die Notenbank führe (auch in Nichtabwertungsländern) zur Inflation, hierzu noch einige Sätze: Das Argument fußt auf zwei Thesen, wonach zum einen mehr Geld im Umlauf über kurz oder lang zur Geldentwertung = Inflation führe und wonach zweitens der Kauf von Staatsanleihen durch die Notenbank (und ganz besonders der von Draghi angekündigte »unbegrenzte« Ankauf) zu einer Erhöhung der Geldmenge führt. Beide Aussagen sind als allgemeine Aussagen falsch, sie treffen nur in bestimmten Fällen zu. In einem expandierenden Kreditmarkt hätte der Kauf von Staatsanleihen durch die Notenbank eine nochmals steigende Kreditvergabe der Banken und damit eine erhöhte Geldschöpfung zur Folge. In der aktuellen Krise versuchen die Notenbanken, durch den Kauf von Staatsanleihen eine Erhöhung der Kreditvergabe zu erreichen. Sie haben aber wenig Erfolg damit. Tatsächlich ersetzt die Finanzierung des Staates durch die Notenbank weitgehend die Finanzierung durch den privat kontrollierten Finanzmarkt. Daß die erste Aussage in dieser allgemeinen Fassung nicht stimmen kann, beweisen die Jahrzehnte der beispiellosen Geld-, Kredit- und Finanzvermögensexpansion seit 1980, die man als neoliberale Phase des (staatsmonopolistischen) Kapitalismus bezeichnen kann. Obwohl die Geldmenge sich im Lauf dieser drei Dekaden dramatisch erhöhte und jedes Jahr viel schneller wuchs als die Realwirtschaft, gingen die Inflationsraten in allen kapitalistischen Ländern langsam und unter Schwankungen zurück. Die Preissteigerung fand bei den Vermögenswerten statt, während die Preise für Konsumgüter dank mäßiger effektiver Nachfrage der Konsumenten/Lohnabhängigen relativ dazu mäßig stiegen.

EZB schafft Zinsungleichheit

Die Diskussion darüber, ob es der Notenbank erlaubt sei, Staatsfinanzierung zu betreiben, verdeckt leider fast komplett den eigentlichen Skandal. Der besteht darin, daß es der Willkür der Notenbanker überlassen bleibt, von welchem Staat, in welcher Form, wann und zu welchem Ende sie Staatsanleihen kaufen. Mit welcher Willkür die EZB dabei vorgehen kann, wurde zum ersten Mal im Sommer 2011 durchgespielt. Am Finanzmarkt lief eine Verkaufswelle gegen italienische Staatsanleihen, deren Renditen in Richtung untragbarer sieben Prozent marschierten. In Italien war damals noch Silvio Berlusconi Ministerpräsident. An ihn schrieben der damalige Chef der EZB, Trichet, und Draghi, der damals noch Präsident der italienischen Zentralbank war, aber schon als Trichets Nachfolger an der Spitze der EZB feststand, einen Brief. Darin forderten sie ihn dringend auf, die geplanten »Reformen« zu verschärfen, die Rentenkürzung zu intensivieren, mehr Entlassungen vorzunehmen und ähnliche Dinge. Sie vergaßen auch nicht, darauf hinzuweisen, daß die Zentralbank jederzeit den Kauf italienischer Staatsanleihen unterbrechen könne und werde, wenn ihrer Empfehlung nicht Folge geleistet werde. Der Brief wurde durch eine geplante Indiskretion der Zentralbanker in der Tageszeitung Corriere della Sera bekannt. Berlusconi gab nach und verschärfte sein antisoziales Reformprogramm. Wie bekannt, half ihm das auch nicht viel. Wenig später wurde unter politischem Druck aus Berlin, Frankfurt am Main, Paris und Brüssel Mario Monti als neuer Ministerpräsident für Italien ausersehen und installiert.

Die Episode zeigt deutlich, wie die Notenbanker ihre Unabhängigkeit und ihre Verfügungsgewalt über die Geldschöpfung dazu nutzen, um Politik in ihrem Sinne zu betreiben. Sie sind dabei niemandem rechenschaftspflichtig. Sie folgen mit ihrer Politik aber ohne Ausnahme der »Logik« der Finanzmärkte, genauer gesagt, dem Interesse der Gläubiger, der Eigentümer der großen Finanzvermögen. Die EZB ist im Laufe dieser Finanzkrise nun auch offiziell und im umfassenden Sinne zur Herrscherin über die Staaten und Parlamente, über ihre Budgets und über die Volkswirtschaften selbst geworden. Sie lehnt es im übrigen ab, bestimmte Ziele ihrer Interventionen am Markt für Staatsanleihen anzugeben. Sehr wohl aber erklärt sie öffentlich, was sie von den Regierungen verlangt, wenn diese in den Genuß des Kaufs ihrer Staatsanleihen kommen will. Diese Staaten müssen ein Hilfsersuchen an den Rettungsfonds ESM stellen und sich dann den in Brüssel, Berlin und Frankfurt am Main formulierten Sparauflagen widerspruchslos unterwerfen. Geschieht das nicht, wird ganz wie im Fall Italien 2011 verfahren.

Nähme die EZB dagegen ihren Auftrag ernst, überall im Euro-Gebiet für gleiche Finanzierungsbedingungen zu sorgen, müßte sie eigentlich so lange Staatsanleihen der Südländer kaufen, bis die Zinsen in Spanien, Portugal und Griechenland so niedrig sind wie in Deutschland, Österreich oder den Niederlanden. Die Wirklichkeit ist weit entfernt von diesem Zustand. Ein Unternehmen mit Sitz in Spanien muß für einen Investitionskredit einen dreifach so hohen Zinssatz zahlen wie ein ansonsten ebenbürtiges Unternehmen in Deutschland. Für deutsche Kapitalisten mag das angenehm sein, für spanische ist es auf Dauer untragbar. Dieser Zustand würgt die Investitionen in den Südländern zusätzlich ab. Es führt dazu, daß die Fliehkräfte im Euro-Land wachsen.

Die entschlossen wirkende Politik Draghis ist also in Wirklichkeit der Versuch, in letzter Minute gegenzusteuern. Dies wird von Draghi und den Vertretern seiner Mehrheitslinie auch offen eingeräumt. Es wäre allerdings naiv zu glauben, der Durchbruch zur Rettung des Euro sei mit den nun institutionell abgesicherten und potentiell unbegrenzten Staatsanleihekäufen erreicht. Die Verbesserung der Lage in den Euro-Problemländern durch gnädig gewährte etwas niedrigere Zinssätze wird aufgewogen durch die Restriktionsauflagen, die die EZB als oberster Kolonialverwalter über diese Länder verfügt.

* Lucas Zeise ist Autor der samstags erscheinenden Kolumne auf der Wirtschaftsseite der jungen Welt. Zuletzt ist von ihm erschienen: Euroland wird abgebrannt – Profiteure, Opfer, Alternativen, Köln 2012, 142 Seiten, 11,90 Euro.

Aus: junge Welt, Freitag, 19. Oktober 2012


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