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Über Wachen und Dichtmachen

Das Europäische Parlament stimmte der Einrichtung des Grenzkontrollsystems Eurosur zu

Von Katja Herzberg *

Eine Abkehr der restriktiven Flüchtlingspolitik der EU ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, mit Eurosur wird bei der Abwehr noch aufgerüstet.

Mit großer Mehrheit hat das Europäische Parlament am Donnerstag der Ausweitung der Kontrolle der EU-Außengrenzen zugestimmt. Dem Aufbau des Grenzüberwachungssystems (Eurosur) gaben 479 Europaabgeordnete ihr Ja, nur 101 stimmten dagegen.

Schon ab Dezember soll Eurosur seine Tätigkeiten aufnehmen – und damit ein Kommunikationsnetzwerk, in dem Daten von allen Behörden der EU-Staaten wie Polizei, Küstenwache oder Grenzschutz ausgetauscht werden, die für die Überwachung der Land- und Seeaußengrenzen zuständig sind. Vorgesehen ist auch der Arbeitsbeginn nationaler Koordinierungszentren in allen EU-Ländern mit Außengrenzen. Diese sollen eng mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex zusammenarbeiten. Alle übrigen Staaten müssen solche Zentren ein Jahr später eingerichtet haben.

EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström sagte: »Das neue System bewahrt Flüchtlinge vor dem Tod, da es Migranten, die die lebensgefährliche Überfahrt auf seeuntauglichen Kähnen wagen, schneller ortet.« Der primäre Auftrag von Eurosur liest sich im abgestimmten Bericht des Parlaments jedoch anders. Darin heißt es, Eurosur stelle den Behörden und Frontex die Infrastruktur und Instrumente zur Verfügung, um das Vorgehen zur »Aufdeckung, Prävention und Bekämpfung von illegaler Einwanderung und grenzüberschreitender Kriminalität« zu verbessern. Erst danach und nur auf Drängen der Grünen und Linken im EU-Parlament wurde noch der Passus aufgenommen, »einen Beitrag zur Gewährleistung des Schutzes und der Rettung des Lebens von Migranten zu leisten«, wie Cornelia Ernst (LINKE) gegenüber »nd« erklärte. Vertrauen schenkt sie dem aber nicht: »Das kann alles und nichts heißen.« Ernst, die Mitglied des Innenausschusses des EU-Parlaments ist, glaubt, dass Frontex weiter dafür sorgen werde, dass Flüchtlinge europäischen Boden nicht erreichen. Eurosur sei vor allem »ein Lobbyprogramm für die Sicherheitsindustrie«.

Bis 2020 will die EU 244 Millionen Euro aus dem Haushalt für die Einrichtung, den Betrieb und Personal ausgeben. Cornelia Ernst schätzt, dass inklusive noch laufender Forschungsprogramme bis zu 800 Millionen Euro zur Verbesserung der Überwachung der EU-Grenzen aufgewendet werden.

Den Abgeordneten konservativer Parteien, der Kommission und auch der Bundesregierung wirft sie vor, nach einem der schlimmsten Flüchtlingsunglücke vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa am 3. Oktober mit mehr als 300 Toten nun ein wenig Geld zu geben, aber an den strukturellen Ursachen des Sterbens auf dem Mittelmeer nichts ändern zu wollen. Drei Schritte seien notwendig: ein Programm zur Seenotrettung, das Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz einbezieht; die Abschaffung des Dublin-Systems, das sich nach der Ersteinreise richtet; substanzielle Wirtschaftshilfe für Entwicklungsländer. »Es ist ein kompletter Neuansatz erforderlich.«

Auch die Grünen äußerten Kritik an dem Vorhaben. Wenn Eurosur nur zur besseren Grenzüberwachung verwendet werde, werde es neue Flüchtlingsdramen geben, warnte die französische Abgeordnete Hélène Flautre. »Lebensrettung steht nur drauf, ist aber nicht drin in Eurosur«, sagte Ska Keller. Ziel von Eurosur sei es, nach den europäischen Landgrenzen jetzt auch die Seegrenzen für Flüchtlinge »dicht zu machen«.

Eurosur soll mit hochwertiger Sicherheitstechnik arbeiten. Dazu zählen Drohnen, Offshore-Sensoren, ein Satellitensuchsystem und automatisierte biometrische Identitätskontrollen. »Es geht dem Gesetzgeber nicht um den Schutz der Flüchtlinge und ihrer Rechte. Man möchte die Menschen gar nicht aus Seenot retten. Alles, was Migranten und ihre Boote aufhalten kann, ist willkommen«, kommentierte der Politikwissenschaftler Ben Hayes die Planungen zur »intelligenten« Grenzüberwachung der EU bereits vor einem Jahr in einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung. Die High-Tech-Aufrüstung sei eine »fragwürdige Reaktion auf eine im Wesentlichen humanitäre Krise«. Laut Hayes und seinem Co-Autor Mathias Vermeulen könnten sich die Kosten von Eurosur und dem »Smart border package«, mit dem sämtliche Ein- und Ausreisen von Drittstaatlern in die EU erfasst werden sollen, auf bis zu zwei Milliarden Euro belaufen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 11. Oktober 2013


Fluchtwege öffnen!

In einem Appell fordern Nichtregierungsorganisationen die EU auf, Asylanträge in Konsulaten und EU-Büros stellen zu können

Von Dieter Alexander Behr **


Das jüngste Schiffsunglück vor Lampedusa hat die Forderung nach Bewegungsfreiheit mit hoher Dringlichkeit auf die politische Agenda gesetzt. Dass nur die freie Passage über das Mittelmeer das Sterben beenden kann, darauf wurde in den letzten Tagen vielfach hingewiesen.

Doch Kritik ist auch in Fragen von Flucht und Migration immer Kritik im Handgemenge. Nicht alle Forderungen, seien sie noch so sinnvoll, können zu jedem beliebigen Zeitpunkt durchgesetzt werden. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse müssen sich zuerst entsprechend geändert haben, der Druck auf die Grenzen einen kritischen Punkt überschreiten. Es ist nur allzu offensichtlich, dass die emanzipatorischen Kräfte diesseits und jenseits des Mittelmeers aktuell nicht stark genug sind, um bedingungslose Bewegungsfreiheit durchzusetzen. Was also tun?

In den letzten Tagen formulierte eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und antirassistischen Initiativen rund um das italienische Netzwerk »Melting Pot Europe« einen »Appell zur Öffnung eines humanitären Korridors«. Ihr Vorschlag: Die EU soll Kriegsflüchtlingen ermöglichen, direkt bei den europäischen Institutionen in Libyen, Ägypten, Syrien oder wo immer es nötig ist (z.B. in den Konsulaten oder anderen EU-Büros) ihren Asylwunsch vorzubringen und gefahrlos in die EU einzureisen.

Der Aufruf sorgte mitunter für Irritation: Diese Art von Reformismus erinnere an die Forderung nach einem humanitären Korridor im NATO-Krieg in Jugoslawien; die Strategie sei zu nahe an der Idee des einstigen deutschen Innenministers Otto Schily, die Flüchtlinge bereits in Nordafrika abzufangen, in so genannten Begrüßungslagern. Des Weiteren sorgte der Umstand, dass die italienische Regierung die Forderung aufgegriffen und sie an den EU-Ministerrat weitergeleitet hatte, für Unmut.

Mittlerweile ist allerdings gewaltiger Schwung in die Sache gekommen und NGOs aus ganz Europa verbreiten den Aufruf. Mit gutem Grund wird den Skeptikern entgegengehalten, dass es darum geht, konkrete Handlungsperspektiven mit rascher Umsetzbarkeit zu entwickeln. Fluchtwege zu öffnen und einen humanitären Korridor zu schaffen, könnte eine von vielen solcher Handlungsperspektiven sein.

Es wäre auch eine Möglichkeit, den Druck auf die europäischen Institutionen zu erhöhen. Um allerdings zu verhindern, dass – wie nach der Vorstellung Schilys – Asylverfahren gleich ganz in Nordafrika abgewickelt werden, wird in dem Aufruf verlangt, dass der Asylantrag erst nach Ankunft auf europäischem Boden behandelt wird. Eine weitere Forderung ist die nach einem »europäischen Asyl«. Wenn Flüchtlinge etwa in eine griechische Botschaft in Nordafrika flüchten würden und anschließend in die EU reisen könnten, müsste nicht Griechenland sie zwingend aufnehmen, sondern ein Land ihrer Wahl.

Die Forderung eines humanitären Korridors macht jedoch nur dann Sinn, wenn gleichzeitig eine grundlegende Kritik an der bisherigen Migrationspolitik der Europäischen Union, vor allem an der Aufrüstungslogik, geübt wird.

Wenn in Nordafrika und Westasien die europäischen Botschaften und Konsulate von verzweifelten Menschen gestürmt werden, ist es unsere Aufgabe, Netzwerke zu knüpfen und den Druck hierzulande zu verstärken. Der Aufruf ist in diesem Sinn auch ein wichtiges Puzzleteil in der Suche nach Verbündeten.

Was bei alldem allerdings nicht vergessen werden sollte, ist das Insistieren darauf, dass allein die Abschaffung von Frontex, das Einfrieren des Eurosur-Programms sowie die Durchsetzung der bedingungslosen Bewegungsfreiheit das Sterben im Mittelmeer zur Geschichte machen wird.

* Dieter Alexander Behr engagiert sich in dem transnationalen Netzwerk »Afrique Europe Interact«.

Der Aufruf im Internet: www.meltingpot.org

Aus: neues deutschland, Freitag, 11. Oktober 2013


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