Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

USA und EU im Clinch

Von Prof. Dr. Georg Grasnick

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen USA und EU, zwischen europäischen NATO-Mitgliedern und der Führungsmacht des Bündnisses, nehmen zu. Auf der Konferenz für Sicherheitspolitik in München, Anfang Februar, war von einer "permanenten Krise im transatlantischen Verhältnis" die Rede. Die Treffen NATO-EU, so wurde konstatiert, trügen "Krisencharakter". Die Gemeinschaft sei mit dem "transatlantischen Spaltpilz" behaftet.

Welche Umstände, welche Faktoren lassen US-Teilnehmer an der Konferenz derart ernste Urteile fällen?

Einerseits wächst in Washington das Misstrauen gegenüber den europäischen NATO-Verbündeten, seitdem die EU den Aufbau einer eigenen Armee betreibt. Manche Äußerungen von EU-Politikern zu dieser Problematik und darin zum Ausdruck kommendes Selbstwertgefühl haben jenseits des Atlantik die Alarmglocken läuten lassen.

Andererseits hat das Beharren der neuen USA-Administration auf Schaffung eines land-, see- und weltraumgestützten Raketenabwehrschilds NMD (National Missile Defense) Beunruhigung bei EU-Politikern hervorgerufen. Zumal selbst der demokratische US-Senator Joseph Lieberman in München unmissverständlich erklärte, die Frage sei nicht, ob NMD komme, sondern wann und wie.

Breiten sich separatistische und isolationistische Tendenzen zwischen USA und EU aus? Sind die Zeiten des westeuropäischen Juniorpartners (oder Vasallen) der USA vorbei? Strebt die EU sicherheitspolitisch nach einer gewissen Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten? Geht es Washington wesentlich um die Unverwundbarkeit der USA?

Kuckucksei im Schoße der NATO?

Bekanntlich haben die EU-Beschlüsse zum Aufbau einer eigenen lnterventionsarmee die Clinton-Administration veranlasst, die Europäer vor einem eigenständigen Vorgehen zu warnen. Unter Bush jr. setzen sich die Warnungen fort. Washington verlangt zwar eine schnelle Umrüstung der verbündeten NATO-Verbände, um als starker europäischer Pfeiler des Bündnisses globale lnterventionsfähigkeit zu erreichen. Gleichzeitig kritisierte das Pentagon, dass die europäischen Partner dafür viel zu geringe Mittel bereitstellten.

Doch schätzt Washington die den Aufbau der Europa-Armee begleitenden Kommentare westeuropäischer Politiker als Versuch ein, die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA künftighin zu relativieren und damit gewisse Ansätze einer Multipolarität auszubauen. Der ehemalige stellvertretende US-Außenminister Talbot befürchtete, dass das EU-Geschöpf "erst innerhalb der Nato zu existieren beginnt und dann zum Konkurrenten der Nato" werde. Vorwurfsvoll war vom "Aufbau einer Mini-NATO" die Rede. "Der Spiegel" fasste diese Befürchtungen in die Worte: "Die Amerikaner haben bereits in aller Deutlichkeit klargemacht, dass sie im Schoße der Nato kein Kuckucksei ausbrüten wollen, dem dann eine von ihnen unabhängige nennenswerte Streitmacht entschlüpfen würde".

Der neue Außenminister Powell bejaht die Umrüstungsmaßnahmen der EU unter der Bedingung, "so lange dies zur Stärkung der Nato beiträgt, nicht zu deren Schwächung". In gleicher Weise äußerte sich Verteidigungsminister Rumsfeld. Deutlicher wurde Bush-Berater Scowcroft: "Dass die Euro-Armee noch während des Kosovo-Krieges aus der Taufe gehoben wurde, habe ich als Schlag ins Gesicht der USA empfunden." Und er fügte hinzu: "Sollten die Europäer darauf setzen, dass Antiamerikanismus der heimliche Motor für eine engere Zusammenarbeit der Gemeinschaft ist, wird das neue Kontingent zum Zankapfel der Allianz werden." Antiamerikanismus - darunter versteht man in Washington offenbar, wenn der deutsche Außenminister von den USA den "Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen" erwartet. Oder wenn der deutsche Bundeswehrminister durch die amerikanischen Raketenabwehrpläne die "internationale Architektur der Rüstungskontrolle" für gefährdet hält. Oder wenn er sich unter dem Druck der Öffentlichkeit veranlasst sieht, die weitere Verwendung uranhaltiger Munition in Frage zu stellen. Oder wenn Bundeskanzler Schröder meint, die EU müsse die Fähigkeit besitzen, mit schnellen Eingreiftruppen eigenständig zu handeln. Oder wenn aus Paris zu hören ist, die EU-Armee brauche keine NATO und keine US-Führung, sondern eine "unabhängige Einsatzplanung". Oder wenn schließlich der außen- und sicherheitspolitische Experte der SPD-Bundestagsfraktion Voigt recht zweideutig davon spricht, dass "Globalisierung häufig mit Amerikanisierung gleichgesetzt" werde.

Damit sind für Washington substanzielle Fragen ihres "Sanktuariums" NATO angesprochen. Die USA sind entschlossen, die NATO als ihre Ordnungsmacht in Europa, als ihr Herrschaftsinstrument in Eurasien und als ihr globales lnterventionsbündnis von niemanden antasten zu lassen. Sie wollen sich ja, wie Bush in seiner sehr allgemein gehaltenen Antrittsrede beschwor, "weiter in der Welt engagieren" und "bösem Willen mit Entschlossenheit und Stärke entgegentreten". Und für dieses "Engagement" ist die NATO unter amerikanischem Oberbefehl unverzichtbar.

Gemeinsame Interessen oder Rivalität?

Die NATO bindet, wie Zbignew Brzezinski, Berater mehrerer US-Präsidenten, konstatierte, "die produktivsten und einflussreichsten Staaten an Amerika und verleiht den Vereinigten Staaten selbst in innereuropäischen Angelegenheiten eine wichtige Stimme." Doch die "produktivsten und einflussreichsten Staaten" Europas, die in der EU tongebend sind, bleiben bei aller Beteuerung der Partnerschaft mit den USA deren Konkurrenten und Rivalen. Und Konkurrenz und Rivalität wachsen mit der geplanten Osterweiterung der EU. Wenn heute die EU-Mitgliedsstaaten 374 Millionen Einwohner bzw. Konsumenten zählen, so dürften es in einigen Jahren über 500 Millionen sein. Die EU verzeichnete 1999 ein Bruttoinlandsprodukt von über 13 Billionen D-Mark bzw. 23.049 Dollar pro Kopf (die USA 33.653 Dollar) und einen Anteil am Weltgüterhandel (ohne Binnenhandel) von 14,4 Prozent (die USA 15,3 Prozent). Eine mächtiger Konkurrent für die USA und zugleich ein überaus günstiges Feld der Kapitalverwertung auch für USA-Multis. Clinton charakterisierte Europa als Schlüssel für eine starke ökonomische Verbindung zur Welt. Mit dem Balkankrieg der NATO wurde nach Meinung des Chefberaters der RAND Corporation Robert E. Hunter "das Tor zu Bereichen intensiven westlichen Interesses" aufgeschlossen. Hunter nannte u.a. das Kaspische Meer und Transkaukasien und betonte die gemeinsamen westlichen Interessen.

Nun hatte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schon vor Jahren die Frage aufgeworfen, wer denn eigentlich die "gemeinsamen Interessen" definiere? Die "Definition" der Zeitung: "Die globalen Belange Amerikas sind nicht notwendigerweise deckungsgleich mit den Interessen der europäischen Bündnispartner." Fürwahr, wenn es um Erdöl und Erdgas am Kaspischen Meer und in der trankskaukasischen Region, überhaupt wenn es um Ressourcen und Absatzmärkte geht, treffen die Interessen des US-amerikanischen und des deutschen oder französischen Kapitals hart aufeinander. Da ist von "gemeinsamen Interessen" nicht mehr die Rede. Da befindet sich die "Deutsche Industrie im Wettlauf um Kaspisches Öl", wie das "Handelsblatt" schon vor geraumer Zeit titelte. Und das wachsende Potenzial der EU stärkt das Selbstbewusstsein ihrer Politiker und erhöht die Machtansprüche dieser Gemeinschaft westeuropäischer Monopole. Bemerkenswert war schon die Tatsache, dass sich im Tauziehen um die Besetzung der IWF-Spitzenposition die mit einer Stimme sprechende EU gegen die USA durchsetzte. Oder wenn EU-Politiker fordern, die EU wolle künftig "in der gleichen Spielklasse wie die USA" auftreten und mit Washington nunmehr "in Augenhöhe" sprechen. Bemerkenswert auch, dass die Ausgestaltung des internationalen Währungs- und Finanzsystems die Widersprüche zwischen den Kontrahenten unübersehbar hervortreten lässt. "Auch in der internationalen Wirtschaftspolitik sind die transatlantischen Divergenzen mit Händen zu greifen", stellt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" fest.

Zu allem Überdruss für Washington lehnte sich EU-Kommissionspräsident Prodi auffallend weit aus dem Brüsseler Fenster, um zu verkünden, Europa habe nunmehr das Zeug "zu einer Supermacht und einem weltweiten Akteur". Die Rolle als "weltweiter Akteur" aber soll nicht zuletzt mit Hilfe der im Aufbau befindlichen EU-Interventionsstreitmacht erreicht werden. Ganz selbstverständlich bemerkte Gerhard Schröder in diesem Zusammenhang: "Unsere Verantwortung, aber auch unser Selbstwertgefühl als Europäer gebieten es, dass wir Europäer selbst uns mit den hierzu notwendigen Mitteln ausstatten."

Das Hineinwachsen der EU in die Rolle eines weltpolitischen Machtzentrums soll komplettiert werden. Der "wirtschaftliche Riese" will sich das fehlende "Rüstzeug" beschaffen, um nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch militärisch auf die internationale Entwicklung gebührend Einfluss nehmen zu können.

Risse in der NATO

Die Gleichberechtigung mit den USA, die "gleiche Spielklasse" letztendlich auch im militärischen Bereich zu erlangen, davon träumt so mancher EU-Politiker und -Militär. Eine hochoffensive, "autonome Militärorganisation" wird als Schritt in diese Richtung verstanden. An die Stelle der EU-Zivilmacht soll eine Militärmacht, ein neues Militärbündnis treten. Projekte ziviler Krisenprävention verblassen zugunsten militärischer Interventionsbereitschaft. Sicherheitsbegriff und -inhalt werden nicht mit Blick auf ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem befördert, sondern remilitarisiert. Das weiter wachsende ökonomische und politische Gewicht dieser Union und das daraus resultierende Verlangen, eine neue Gewichtung des Einflusses gegenüber den USA zu erreichen, nicht zuletzt die Inangriffnahme eigener, unterschiedlicher sicherheitspolitischer Projekte zu beiden Seiten des Atlantik, was die Interessen der jeweils anderen Seite berührt, vergrößert die Kluft im transatlantischen Verhältnis. Bereits vorhandene Risse im Atlantischen Bündnis werden sichtbarer.

Als Kitt für das Bündnis diente und bewährte sich über Jahrzehnte der Antikommunismus. Er ist seit dem Ende des Kalten Krieges mit dem Wegfall des alten Zieles zerbröselt. Jetzt droht mit einem Festhalten an NMD und Europa-Armee der alte Konsens in der NATO zu zerbrechen. Die vom Pentagon und der CIA konstruierten neuen Feindbilder erweisen sich als wenig tragfähig für das Atlantische Bündnis. Washingtons Festhalten am wahnwitzigen NMD-Projekt und die damit zugleich beabsichtigte Entsorgung des ABM-Vertrags spricht Bände hinsichtlich der Haltung der USA gegenüber den NATO-Mitgliedern in Europa sowie gegenüber Russland. Die USA-Administration setzt auf vermeintliche Unverwundbarkeit des eigenen Territoriums und auf ihre Erstschlagsfähigkeit. Der globale Führungsanspruch der einzigen Supermacht soll untermauert werden. Um die "Neue Weltordnung", von Bush sen. programmiert, durch Bush jun. weiter zu etablieren.

Werden die EU-Politiker in Vasallentreue verharren? Werden sie sich dem USA-Kurs mit allen daraus erwachsenden gefährlichen Konsequenzen beugen? Also, mit dem NMD-Projekt bestehende internationale Abrüstungsvereinbarungen liquidieren helfen und ein neues Wettrüsten, auch im Weltraum, hinnehmen?
Oder werden sie ihr an den Tag gelegtes Selbstbewusstsein auch weiterhin zur Geltung bringen?
Wird es in dieser Auseinandersetzung gelingen, europäische Sicherheitsinteressen ins Spiel zu bringen?
Eine große Herausforderung und Chance für die Friedensbewegung.

Der Beitrag erscheint in der März-Ausgabe von Pax Report, der Zeitung des Deutschen Friedensrats

Zu weiteren Beiträgen über Europa

Zurück zur Homepage